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Sechstes Kapitel.
Trumpfas kommt zum Vorschein

»Die Barke steht bereit,« sagte Ismaele, ohne Umstände eintretend, in der linken Hand sein Pfeifchen, in der rechten eine Laterne.

»Wie spät ist es?« fragte Franco.

»Halb zwölf.«

»Was für Wetter?«

»Es schneit.«

»Sehr gut,« sagte ironisch der Onkel, seine Beine nach der Glut des Wachholderholzes vorstreckend, das im Kamin knisterte.

In dem kleinen, vom Winter belagerten Wohnzimmer kniete Luisa vor Maria und war damit beschäftigt, ihr ein Tuch um den Hals zu knüpfen, Franco wartete mit der Kapuze seiner Frau auf dem Arm, und Cia, die alte Wirtschafterin, mit dem Hut auf dem Kopf und den Händen im Muff, brummte mit ihrem Herrn: »Was Sie auch für ein Herr sind! Was wollen Sie hier allein zu Hause tun?«

»Um zu schlafen, brauche ich keinen Menschen,« antwortete der Ingenieur, »und wenn die andern verrückt sind, so bin ich es nicht. Stellen Sie mir meine Milch und mein Licht bereit.«

Es war Weihnachtsabend, und was dem Ingenieur als eine so verrückte Idee dieser gescheiten Leute, ein so unglaublicher Entschluß schien, war, daß sie der feierlichen Mitternachtsmesse in San Mamette beiwohnen wollten.

»Und das arme Opferlamm,« sagte er mit einem Blick auf das Kind.

Franco errötete, er sagte, daß er dem Kinde wertvolle Erinnerungen schaffen wolle, diese nächtliche Bootfahrt, der dunkle See, der Schnee, die Kirche voller Lichter und Menschen, die Orgel, der Gesang, die ganze Heiligkeit der Weihenacht. Er sprach mit Wärme, vielleicht nicht sowohl für den Oheim als für eine andre Person, die sich schweigend verhielt.

»Ja, ja, ja, ja,« machte der Oheim, als sei er schon auf diese Rhetorik gefaßt gewesen, auf diese poetischen Phantastereien.

»Ich gehe auch mit, weißt du, es gibt Punsch,« sagte die Kleine.

Der Oheim lächelte. »Desto besser! Das wird wirklich eine wertvolle Erinnerung sein.«

Franco, der auf diese Weise seine zarte Vorbereitung religiöser und poetischer Empfindungen zerstört sah, machte ein finsteres Gesicht.

»Und dieser Gilardoni?« fragte Luisa.

»Sie sind soeben gekommen,« sagte Ismaele, mit seiner Laterne hinausgehend.

Professor Gilardoni hatte die Maironis und Donna Ester Bianchi eingeladen, nach der Messe bei ihm den Punsch zu trinken. Man erwartete ihn aus Niscioree, wohin er gegangen war, um das Fräulein, das seit dem 1852 erfolgten Tode seines Vaters dort mit zwei alten Dienerinnen hauste, abzuholen. Der gute Professor hatte im geheimen, nach Ablauf eines angemessenen Zeitraums, Frau Teresa im Stich gelassen. Während der schweren Zeit der Rekonvaleszenz des Herzens, das schwach und verlangend immer in der Gefahr eines Rückfalles schwebte, war er nicht genügend vor diesem schönen, feurigen Gesichtchen, den lebhaften Augen, dem funkelnden Übermut des Prinzeßchens von Niscioree, wie die Maironis sie nannten, auf der Hut gewesen. Sie war innerlich und äußerlich so verschieden von Frau Teresa, ihre durch höchste Anmut der Formen ausgezeichnete Gestalt flößte ein von der Liebe für die andre so andersgeartetes Gefühl ein, daß der Professor der Meinung war, er könnte ihr recht wohl seine Neigung schenken, ohne das heilige Bild von Luisas Mutter zu verletzen. Und in der Tat heiligte er dieses Bild immer mehr, hob es höher und höher zum Himmel, so hoch, daß einige Wolken begannen, sich zwischen ihn und das Bild zu schieben; zuerst waren es nur Cirruswölkchen, dann wurden es Wolkenballen, und jetzt wollte es sich zu einer endgültigen Wolkenschicht verdichten. Er war Donna Ester gegenüber noch schüchterner, als er es Frau Teresa gegenüber gewesen war. Im übrigen hatte er ein unbewußtes Bedürfnis, hoffnungslos zu lieben, um sich dann bemitleiden zu können, um der Wollust einer zwiefachen Zärtlichkeit willen, für ein schönes Geschöpf und für sich selbst. Und seine Schüchternheit war es sogar zufrieden, in dem großen Unterschied des Alters und des Aussehens eine Entschuldigung zu besitzen. Da er sich jedoch in keiner Weise gegen diese übermütigen Augen, diese dichten blonden Haare, diesen schlanken weißen Hals schützte, wieder und wieder diese frische Stimme, dieses silberne Lachen in sein Herz drang, geriet der ganze Mann in Gefahr, sich unheilbar zu verbrennen.

Ester, die mit siebenundzwanzig Jahren, abgesehen von einer frauenhaften Weichheit in den Bewegungen und einer gewissen heimlichen, wundervollen Erfahrung in den Augen, aussah, als wäre sie zwanzig, hatte nicht daran gedacht, nach diesem respektablen Liebhaber zu angeln, aber sie fühlte ihn in ihren Banden, und es machte ihr Vergnügen, da sie ihn für einen großen Geist, einen bedeutenden Gelehrten hielt. Daß er wagen könnte, von Liebe zu sprechen, daß sie diesen gelblichen, runzligen, vertrockneten Inbegriff der Weisheit heiraten könnte, der Gedanke kam ihr gar nicht in den Sinn; auf der andern Seite wollte sie aber auch nicht dieses bescheidene Flämmchen, das sie ehrte und ihn vermutlich freute, löschen.

Wenn sie zuweilen mit Luisa darüber lachte, so war sie nie diejenige, die anfing, und sie pflegte gleich hinzuzufügen: »Armer Herr Gilardoni! Armer Professor!«

Sie trat eilig herein, das blonde Köpfchen in eine große schwarze Kapuze gehüllt, wie der Frühling, der sich zum Spaß als Dezember verkleidet hat. Dezember schritt hinter ihr einher, den Hals in eine große Schärpe eingebündelt, über der leuchtend und rot die professorale, von dem Schnee irritierte Nase ragte. Es war spät. Alle verabschiedeten sich von dem Oheim, der allein mit seinem Licht und seiner Milch vor der letzten ersterbenden Glut des Wachholderholzes zurückblieb.

Ein leichter Schatten der Mißbilligung lag auf seinem Gesicht. Franco war allzusehr Phantast! Das Leben war jetzt hart im Hause Maironi. Man frühstückte mit einer Tasse Milch und Zichorie und verwandte eine gewisse Sorte roten Zuckers, der nach Apotheke roch. Fleisch wurde nur am Sonntag und Donnerstag gegessen. Eine Flasche Grimelliwein stand jeden Tag für den Onkel auf dem Tisch, der von keinem Privileg wissen wollte. Jeden Tag erhob sich wegen dieser Flasche Wein derselbe Wortstreit, entlud sich dasselbe kleine Gewitter, das sich nach dem Willen des Onkels immer in einen kurzen Tropfenregen in jedes der fünf Gläser löste. Das Dienstmädchen war entlassen worden; für die grobe Arbeit, für die Polenta und zuweilen um Maria zu hüten, hatte man die Veronika behalten. Trotz dieser und andrer Ersparnisse, obgleich Cia auf jedes Gehalt verzichtete und es Geschenke von Ricotta, Mascherpa, Ziegenkäsen, Kastanien, Nüssen von seiten der Bauern regnete, gelang es Luisa nicht, die Ausgaben mit der Einnahme in Einklang zu bringen. Sie hatte sich von einem Notar in Porlezza etwas Arbeit zum Abschreiben verschafft: sehr viel Mühe und eine elende Bezahlung. Auch Franco hatte angefangen, mit Eifer zu kopieren, aber er war weniger widerstandsfähig als seine Frau, und außerdem war für zwei nicht Arbeit genug vorhanden. Er hätte sich umtun, eine Privatanstellung suchen müssen. Aber der Onkel sah kein Anzeichen davon; und also?

Also erschienen ihm diese poetischen Expeditionen sehr wenig angebracht. Nachdem er noch ein Weilchen über die traurige Lage und über die geringe Wahrscheinlichkeit, daß Franco einen Ausweg finden würde, gegrübelt hatte, fand er, daß es für ihn selbst erstens Zeit sei, seine Milch zu trinken, zweitens zu Bett zu gehen. Aber nein, es kam ihm noch ein andrer Gedanke. Er öffnete die Saaltür, und als er sah, daß es draußen stockdunkel war, ging er in die Küche, zündete eine Laterne an, trug sie zur Loggia, machte das Fenster weit auf und stellte das Licht, da es bei völliger Windstille schneite, auf das Fensterbrett, damit diese poetischen Menschen bei der Heimkehr in der tiefen Dunkelheit ihre Richtung fänden, worauf er schlafen ging.

*

Auf der alten Hausgondel hatte der ingeniöse Franco eine Art Kajüte für den Winter gebaut, mit zwei Fensterchen an den Seiten und einer kleinen Tür am Vorderteil. Jetzt saßen die sechs Passagiere um ein Tischchen, auf dem eine Kerze brannte. Als Franco den verzückten Ausdruck des Professors sah, der Ester gegenüber saß, machte er sich den Scherz, die Kerze auszulöschen, dazu bemerkend, daß die Philosophie im Dunkeln sich vielleicht nicht wohl befände, desto besser aber die Poesie.

In der Tat folgten seine und seiner Gefährten Gedanken, die sich zuerst um das Licht gesammelt hatten, durch das Glas der kleinen Tür einem schwachen Lichtschimmer, in dem man den weißen, schon ganz beschneiten Schiffsbug von dem unbeweglichen schwarzen Wasser sich abheben sah. Und die Phantasie war am Werke. Dem einen schien es, als führe man nach Osteno, dem andern, als nähme man die Richtung nach der Caravina, einem dritten, als ginge es nach Cadate. Und jeder äußerte seinen Zweifel mit leiser Stimme, als gälte es, den schlafenden See nicht zu wecken. Ab und zu stritten sie sich, aber bei jedem Ruderschlag nickten die sechs Köpfe wie zum Zeichen völliger Übereinstimmung. So glaubt jeder der Kritiker, die in das Fahrzeug eines großen Dichters gestiegen sind, seinen eigenen Weg zu verfolgen. Der eine meint einem Ideal, der andre einem andern nachzuhängen. Dieser glaubt sich an dieses Muster, jener an ein andres anzulehnen, dieser glaubt vorwärts, jener rückwärts zu gehen, und der Dichter bewegt sie, erschüttert sie alle zusammen mit seinem Vers und zwingt sie auf seinen eignen Weg.

Ismaele lud getreulich seine Last bei San Mamette aus. Der Schnee fiel noch immer in großen, stillen Flocken. Unter den Bogengängen auf dem Marktplatz war ein lebhafter Verkehr und ein beständiges Hin und Her von Laternen. Auch der Propst war da, der eine Gruppe von Gläubigen haranguierte, die nicht übel Lust hatten, die Kirche mit dem Wirtshaus zu vertauschen. Er setzte ihnen auseinander, daß es nicht so leicht sei, das Paradies zu gewinnen, und daß man beizeiten daran denken müsse: »Ihr glaubt wohl, ins Paradies geht ihr gerade so bequem wie in Parellas Barke. Immer herein, Leute! Immer herein. 's ist noch Platz! Ihr versteht wohl, daß es so einfach nicht geht?«

Auf der Kirchentreppe fragte Ester Luisa, ob das Paradies wirklich so klein wäre. Dem Professor, der Ester mit seinem Schirm beschützte, kam ein Gedanke; sein Herz schlug, er erbebte, aber mit Löwenmut sprach er ihn aus; er sagte, sein Paradies sei noch kleiner, es habe unter einem Regenschirme Platz. Die Sache lief glimpflich ab. Ester antwortete nichts, und die Gesellschaft trat inmitten einer Schar von Weibern in das Dunkel der Kirche ein.

Zwischen der Liebe und der Philosophie schwankend, blieb der Professor in der Tür stehen. Die Philosophie zog ihn an einem Faden rückwärts, die Liebe an einem Seil vorwärts. Er trat hinein und hielt sich an Esters Seite. Franco hatte einen Augenblick den grausamen Gedanken, ihn nach vorn zu den Sitzen der Männer zu ziehen, dann aber änderte er seinen Plan und blieb auch neben seiner Gattin. Es nützte ihm nicht viel, Ester tat, als wollte sie Luisa etwas sagen, und schob boshafterweise die alte Cia zwischen sich und den Professor. Dieser, der noch ganz aufgeregt über seine unerhörte Kühnheit mit dem Paradies unter dem Regenschirm war, beunruhigte sich bei Esters Vorgehen, glaubte sie verletzt zu haben und schalt sich einen Esel über den andern.

Die Kirche war schon gedrängt voll, und auch die Damen mußten hinter der Rücklehne der ersten Bankreihe stehen. Ester übernahm es, Maria zu halten, und setzte sie auf die Lehne, während der Sakristan die Kerzen am Hauptaltar anzündete. Die Cia belästigte den Professor, den sie für einen sehr heiligen Mann hielt, mit tausend Fragen über den Unterschied des römischen und des ambrosianischen Ritus, und Maria hielt Ester mit anderen, noch viel seltsameren Fragen in Atem:

»Für wen werden die Kerzen angezündet?«

»Für den lieben Gott.«

»Geht der liebe Gott jetzt zu Bett?«

»Nein, sei still.«

»Ist das Jesuskind schon im Bett?«

»Ja, ja,« antwortete Ester leichtsinnig, um sie zum Schweigen zu bringen.

»Mit dem Maultier?«

Der Onkel hatte Maria einmal ein häßliches hölzernes kleines Maultier mitgebracht, das sie verabscheute; und als sie irgendeine Unart beging, hatte die Mutter sie ins Bett gelegt und zur Strafe das Maultier unter das Kopfkissen gelegt, unter dieses allzu eigensinnige Köpfchen.

»Still, Schwätzerin!« sagte Ester.

»Ich nicht, ich brauche nicht mit dem Maultier ins Bett. Ich bitte um Verzeihung.«

»Still! Höre die Orgel jetzt.«

Alle Kerzen brannten, und der Organist, der seinen Platz eingenommen hatte, berührte, wie um es zu wecken, sein altes Instrument, das erbost zu zanken schien. In dem Augenblick, als ein Glöckchen ertönte und die Orgel mit allen ihren brausenden Stimmen einsetzte und die Chorknaben und der Geistliche heraustraten, griff Luisa, verstohlen wie ein Liebender, nach der Hand ihres Gatten.

Diese beiden einander verstohlen drückenden Hände sprachen von einem bevorstehenden Ereignis, von einem gewichtigen Entschluß, den man besser geheim hielt, und der noch nicht unwiderruflich gefaßt war. Die kleine, nervöse Hand sagte: »Mut!« Die männliche Hand antwortete: »Ich werde ihn haben.« Man mußte einen Entschluß fassen. Franco sollte fortgehen, seine Frau, sein Kind, den alten Oheim verlassen, vielleicht auf Monate, vielleicht auf Jahre; er sollte Valsolda, sein liebes Heim, seine Blumen verlassen, vielleicht für immer nach Piemont auswandern, Arbeit und Verdienst suchen, mit der Hoffnung, seine Familie nachkommen zu lassen für den Fall, daß die andern großen nationalen Hoffnungen sich in Rauch auflösten.

Beglückt, daß seine Frau die Kirche und diesen feierlichen Augenblick gewählt hatte, um ihn zu dem Opfer zu ermutigen, ließ er die süße Hand nicht wieder los, hielt auch er sie, wie ein Liebender sie gehalten hätte, ohne daß er Luisa ansah, ohne daß sein Gesicht oder seine Haltung sich veränderte. Er sprach nur mit der Hand, seine ganze Seele in der Handfläche und in den Fingern, eine leidenschaftliche Sprache voller zarter und inniger Liebkosungen, voller Zärtlichkeit und Glut.

Einige Male versuchte sie, sich ihm sanft zu entziehen, aber er hielt sie gewaltsam fest. Er blickte mit erhobenem Angesicht auf den Altar, wie versunken in das Spiel der Orgel, in die Stimme des Geistlichen, in den Gesang der Gemeinde.

In Wirklichkeit folgte er den Gebeten nicht, aber er empfand die göttliche Gegenwart, eine Verzückung, eine überströmende Liebe, Schmerz und Vertrauen in Gott.

Luisa hatte seine Hand genommen, weil sie erriet, daß er betete, daß alle seine Nöte und seine Zweifel sein Herz in Aufruhr setzten. Es war wirklich ihre Absicht gewesen, ihm Mut einzuflößen, sie war überzeugt, daß es gut für ihn war, diesen schmerzlichen Entschluß zu fassen. Sie mißverstand seinen erwiderten Druck; es schien ihr ein leidenschaftlicher Protest gegen die Trennung, und da sie ihn, so wohl er ihr tat, nicht billigen konnte, machte sie alle Augenblicke den Versuch, ihm die Hand zu entziehen. Er war es, der bei der Wandlung aus Ehrfurcht die seine aus der ihren zog. Dann mußte er Maria, die eingeschlafen war, auf den Arm nehmen; sie schlief weiter, mit dem Kopf auf des Vaters Schulter, ein schönes, friedliches Profil zeigend. Sie ahnte nicht, das liebe Kind, daß ihr Papa weit, weit fortgehen wollte, und das Herz ihres Papa wurde ganz weich bei dem Anblick dieses kleinen Schatzes, dessen warmer Atem ihn berührte, dieses Köpfchens mit dem Duft eines Waldvögelchens. Er hatte das Gefühl, als sei er schon fort, und sie suchte ihn, sie weinte, und seine Arme zuckten in dem Verlangen, sie an sich zu pressen, aber die Furcht, sie zu wecken, hielt ihn davon ab.

Gilardoni war als erster hinausgegangen und wartete draußen auf dem Platz mit aufgespanntem Regenschirm auf Donna Ester.

Sie kam an Luisas Arm, und trotz ihrer geflüsterten Bitte sagte die verräterische Luisa zu dem Professor:

»Hier bringe ich Ihre Dame.«

Ester hatte nicht den Mut, Gilardonis Arm abzulehnen, aber lachend machte sie ihn darauf aufmerksam, daß tausend Sterne funkelten.

Gilardoni sah zum Himmel, brachte zwei oder drei sinnlose Sätze vor und machte den Regenschirm zu.

Es schneite nicht mehr, über dem Boglia leuchtete ein klarer Himmel, und ein unaufhörliches Brausen tönte in der Luft.

»Wind, Wind!« sagte Ismaele, der sich wieder bei der Gesellschaft eingefunden hatte.

»Ich gehe zu Fuß! Ich gehe zu Fuß!« jammerte darauf die Cia, die große Furcht vor dem See hatte.

Indessen drängten und schoben die aus der Kirche Kommenden die Gruppe auseinander und die Stufen hinunter. Erst auf dem Markt von San Mamette fanden sich die sechs Reisenden und der Barkenführer wieder zusammen, und hier erklärte Donna Ester, daß sie sich nicht ganz wohl fühle, daß sie auf den Punsch verzichte und mit Cia zu Fuß nach Hause gehen wolle.

Der Professor stand abseits und schwieg. Franco und Luisa fühlten, daß es unnütz sein würde, in sie dringen zu wollen, und so schlugen die beiden Frauen den Weg nach Oria ein, eskortiert von Ismaele, der zurückkommen sollte, um die Maironis und das Boot abzuholen.

*

Eine Moderateurlampe war in Gilardonis Salon angezündet, im Kamin prasselte ein schönes Feuer, Pinella hatte alles für den Punsch vorbereitet, und Luisa braute ihn, da der Professor den Kopf völlig verloren zu haben schien und sich abwechselnd einen Dummkopf und einen Esel schalt.

Zunächst war nichts aus ihm herauszukriegen; aber allmählich kam die Geschichte mit dem Paradies unterm Regenschirm heraus und gewisse diabolische Konsequenzen, die dieses Paradies gezeitigt hatte. Als sie die Kirchtreppe hinuntergegangen waren, hatte zwischen ihm und Ester folgendes Zwiegespräch stattgefunden:

»Wissen Sie, Donna Ester, ich fürchtete beinahe, Sie beleidigt zu haben.«

»Wieso?«

»Mit der Regenschirmsache.«

»Was für ein Regenschirm?«

Hier hatte der Professor nicht gewagt, sein Kompliment zu wiederholen.

»Wissen Sie, ich hatte Ihnen doch etwas gesagt ...«

»Was denn?«

»Es wurde vom Paradies gesprochen ...«

Ester schwieg.

»… Und ich, wenn ich mit einer Person zusammen bin, die ich schätze, die ich von ganzem Herzen schätze, dann sage ich leicht Dummheiten. Beinahe hätte ich jetzt wieder eine gesagt, Donna Ester.«

»Wissen Sie, Dummheiten nie!« hatte Ester geantwortet und sich von ihm getrennt, um mit der Cia nach Oria zu gehen.

In Wahrheit lautete der Bericht dieser Unterhaltung anders. Gilardoni erzählte, daß er seine große Leidenschaft habe durchblicken lassen, und daß Donna Ester darüber erzürnt sei.

Franco hatte große Lust zu lachen; Luisa sagte scherzend:

»Lassen Sie mich nur machen, lassen Sie mich nur machen, ich mache den Punsch und mache den Frieden und mache alles; und ein anderes Mal seien Sie nicht ein so schrecklicher Verführer!«

Es fehlte nicht viel und der arme Professor wäre niedergekniet, um ihren kleinen Schuh zu küssen; mit frischem Mute kam er jetzt seinen Pflichten als Wirt nach und servierte seinen Freunden den Punsch.

»Seht nur Maria an,« sagte Franco leise.

Die Kleine war auf dem Armstuhl des Professors neben dem Fenster eingeschlafen.

Franco nahm die Lampe und leuchtete, um sie besser zu sehen. Sie schien ein kleines Geschöpf des Himmels, das von dort schlummernd mit dem Licht der Sterne herniedergefallen war, auf ihrem Gesicht lag eine überirdische Süße, etwas geheimnisvoll Feierliches.

»Du Geliebtes!« sagte er. Mit dem einen Arm zog er seine Gattin an sich, ohne das Auge von Maria abzuwenden.

Gilardoni stand dicht hinter ihnen, er murmelte: »Welcher Liebreiz!« und kehrte seufzend zum Kamin zurück: »Ihr Glücklichen!«

Das rührte Franco, und er flüsterte seiner Frau ins Ohr:

»Wollen wir's ihm sagen?«

Sie verstand ihn nicht und blickte ihm in die Augen.

»Daß ich fortgehe,« sagte er, immer noch flüsternd.

Luisa zitterte. »Ja, ja,« antwortete sie ganz bewegt.

Sie hatte das nicht erwartet, denn in der Kirche hatte sie ihn für unschlüssig gehalten. Ihr Erstaunen entging Franco nicht. Es verwirrte ihn, er fühlte seinen Entschluß wanken, und als sie es gewahrte, wiederholte sie energisch: »Ja, ja!« und drängte ihn zu Gilardoni.

»Lieber Freund,« sagte er, »ich muß Ihnen etwas mitteilen.«

Der Professor, in den Anblick des Feuers versunken, gab keine Antwort. Franco legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Ah!« fuhr er zusammen. »Verzeihen Sie. Was ist es?«

»Ich will jemand Ihrer Fürsorge empfehlen.«

»Mir? Wen?«

»Einen alten Mann, eine Frau und ein Kind.«

Die beiden Männer sahen sich stumm an, der eine bewegt, der andere höchlichst verwundert.

»Verstehen Sie nicht?« flüsterte Luisa.

Nein, er verstand nicht, er antwortete nicht.

»Ich lege Ihnen,« erklärte Franco, »meine Frau, meine Tochter und unsern alten Onkel ans Herz.«

»O!« rief der Professor, abwechselnd bald Luisa, bald Franco ansehend.

»Ich gehe fort,« sagte dieser mit einem Lächeln, das Gilardoni ins Herz schnitt. »Dem Onkel haben wir es noch nicht gesagt, aber es ist notwendig. In unsrer Lage kann ich nicht hier bleiben und müßiggehen. Ich werde sagen, daß ich nach Mailand gehe, mag's glauben, wer Lust hat. Statt dessen werde ich in Piemont sein.«

Gilardoni schlug, ohne zu sprechen, die Hände zusammen, er war fassungslos. Luisa umarmte Franco und küßte ihn, sie lehnte mit geschlossenen Augen ihren Kopf an seine Brust. Der Professor glaubte, daß sie schweren Herzens sich dem Willen ihres Gatten beugte. »Hören Sie,« sagte er zu Franco, »wenn Krieg wäre, würde ich es verstehen, aber so, aus ökonomischen Gründen Ihrer Frau einen solchen Schmerz antun, finde ich unrecht.«

Luisa, immer noch einen Arm um den Hals des Gatten geschlungen, winkte mit der andern Hand Gilardoni, damit er schwiege.

»Nein, nein, nein,« flüsterte sie, beide Arme wieder um Francos Hals legend, »du tust recht, du tust recht,« und da Gilardoni bei seiner Meinung beharrte, löste sie sich von ihrem Gatten und sagte, ihm mit den Händen drohend: »Aber, Professor, wenn ich ihm sage, daß er recht tut fortzugehen, wenn ich es ihm sage, die sein Weib ist! Aber, teurer Professor!«

»Schließlich, Frau Luisa?« brach Gilardoni los. »Man muß doch erst wissen ...«

Franco streckte ungestüm die Arme gegen ihn aus und schrie: »Professor!«

»Sie tun unrecht!« entgegnete dieser. »Sie tun unrecht! Sie tun unrecht!«

»Was gibt's, Franco?« fragte Luisa erstaunt. »Handelt es sich um etwas, das ich nicht weiß?«

»Es handelt sich darum, daß ich fortgehen muß, daß ich fortgehen muß, und um weiter nichts!«

Maria war bei dem Ruf ihres Vaters aus dem Schlafe aufgefahren. Als sie die Mutter so erregt sah, wurde ihr weinerlich zumute. Schließlich brach sie in bitterliches Weinen aus: »Nein, Papa, nicht fort, Papa, nicht fort, Papa!«

Franco nahm sie in die Arme, küßte und liebkoste sie. Zwischen dem Schluchzen wiederholte sie immer wieder »mein Papa, mein Papa« mit einer so herzzerreißenden und traurigen Stimme, daß es einem in die Seele schnitt. Ihr Vater schmolz in Rührung, er versprach, immer bei ihr zu bleiben und weinte vor Kummer darüber, daß er sie täuschte, vor Ergriffenheit bei dieser neuen Zärtlichkeit, die sich ihm gerade jetzt offenbaren mußte.

Luisa mußte an den Schrei ihres Mannes denken. Gilardoni merkte, daß sie einem Geheimnis auf der Spur zu sein wähnte, und fragte sie, um ihre Gedanken abzulenken, ob Franco beabsichtige, bald abzureisen. Er selbst antwortete ihm. Es hing von einem Brief aus Turin ab. In einer Woche vielleicht; spätestens in vierzehn Tagen. Luisa schwieg, und die Unterhaltung stockte. Franco sprach darauf von Politik, von der Wahrscheinlichkeit, daß der Krieg im Frühjahr ausbräche. Auch diese Unterhaltung erstarb bald wieder. Es schien, als ob Gilardoni und Luisa an andres dächten, als horchten sie auf das Anschlagen der Wellen gegen die Gartenmauern. Endlich kam Ismaele zurück, bekam seinen Punsch, versicherte, daß der See nicht allzu stürmisch sei, und daß man die Heimfahrt antreten könne.

Kaum waren die Maironis im Boot, kaum war Maria wieder eingeschlummert, so fragte Luisa ihren Gatten, ob es etwas gebe, das sie nicht wissen und wovon Gilardoni nicht sprechen solle.

Franco schwieg.

»Gut,« sagte sie. Da schlang ihr Gatte einen Arm um ihren Hals, preßte sie an sich, gegen Worte protestierend, die sie nicht gesprochen hatte: »O Luisa, Luisa!«

Luisa ließ sich umarmen, erwiderte aber den Druck nicht, worauf ihr trostloser Gatte ihr sofort versprach, ihr alles zu sagen, alles. »Hältst du mich für neugierig?« flüsterte sie in seinen Armen. Nein, nein, er wollte ihr alles erzählen, gleich, sofort, ihr sagen, warum er nicht früher gesprochen habe. Sie widersetzte sich; er sollte später sprechen, aus eignem Antrieb.

Der Wind war ihnen günstig, und das Licht, das aus einem Fenster der Loggia leuchtete, tat Ismaele gute Dienste als Zielpunkt. Franco hielt die ganze Zeit seine Gattin im Arm und blickte schweigend zu dem leuchtenden Punkt. Weder er noch sie dachten an die gütige und vorbedachte Hand, die es angezündet hatte. Ismaele dachte daran, er behauptete, daß weder Veronika noch Cia eines so genialen Einfalls fähig seien und segnete das Antlitz des Herrn Ingenieurs.

Beim Aussteigen aus dem Boot erwachte Maria, und es schien, als ob die Ehegatten nur noch Gedanken für sie hätten. Als sie im Bett waren, löschte Franco das Licht.

»Es handelt sich um die Großmutter,« sagte er. Seine Stimme klang bewegt, gebrochen.

Luisa flüsterte: »Liebster,« und nahm zärtlich seine Hand.

»Ich habe nie davon gesprochen,« fuhr Franco fort, »um die Großmutter nicht anzuklagen, und dann auch ...« Hier folgte eine Pause; jetzt war er es, der seine Worte mit zärtlichsten Liebkosungen begleitete, während seine Frau nicht mehr darauf reagierte. »Ich fürchtete den Eindruck,« sagte er, »den es auf dich machen könnte, ich fürchtete deine Gefühle, die Gedanken, die dir kommen könnten ...« Je unsicherer seine Worte wurden, um so zärtlicher klang seine Stimme.

Luisa fühlte nicht einen Streit, aber einen schweren Konflikt nahen; sie hätte jetzt gewünscht, ihr Mann spräche nicht, und er, als er sie so kühl werden sah, sprach nicht weiter. Da legte sie ihre Stirn gegen seine Schulter und sagte leise, im Widerspruch mit sich selbst: »Erzähle.«

Und nun wiederholte Franco, in ihre Haare hineinsprechend, die Geschichte, die Gilardoni ihm in seiner Hochzeitsnacht erzählt hatte. Als er den Brief und das Testament des Großvaters aus dem Gedächtnis wiedergab, milderte er um einiges die seinen Vater und die Großmutter beschimpfenden Sätze. Mitten in der Erzählung hob Luisa, die auf eine derartige Enthüllung nicht gefaßt war, den Kopf von ihres Mannes Schulter. Dieser unterbrach sich.

»Weiter,« sagte sie.

Als er zu Ende war, fragte sie ihn, ob es bewiesen sei, daß man das Testament des Großvaters unterschlagen habe. Franco verneinte sofort die Frage. »Aber,« sagte sie, »warum sprachst du dann von Gedanken, die mir kommen könnten?« Ihre Gedanken hatten sich gleich dem wahrscheinlich von der Großmutter begangenen Verbrechen, der Möglichkeit einer Anklage zugewendet.

Aber wenn die Anklage ausgeschlossen war?

Franco antwortete nicht. Nachdem sie ein Weilchen nachgedacht hatte, rief sie: »Ach, die Abschrift des Testaments! Kann man Gebrauch davon machen? Ist das ein Testament, das Gültigkeit haben würde?«

»Ja.«

»Und du hast dein Recht nicht geltend machen wollen?«

»Nein.«

»Warum, Franco?«

»Siehst du!« rief Franco, heftig werdend. »Siehst du? Ich wußte es. Nein, ich werde keinen Gebrauch davon machen, nein, nein, nein, auf keinen Fall!«

»Aber die Gründe?«

»Mein Himmel, die Gründe! Die Gründe fühlt man, du mußt sie fühlen, ohne daß ich sie dir sage!«

»Ich fühle sie nicht. Glaube nicht, daß ich an das Geld denke. Wir wollen das Geld nicht haben, gib es, wem du magst. Ich fühle nur Gerechtigkeit. Man hat den Willen deines Großvaters zu achten, es ist ein Verbrechen, das deine Großmutter begangen hat. Du bist fromm, du mußt zugeben, daß es die göttliche Gerechtigkeit war, die dieses Papier ans Tageslicht gebracht hat. Willst du dich zwischen die göttliche Gerechtigkeit und diese Frau stellen?«

»Laß die göttliche Gerechtigkeit aus dem Spiel!« entgegnete Franco heftig. »Was wissen wir von den Wegen der göttlichen Gerechtigkeit? Es gibt auch ein göttliches Erbarmen! Es handelt sich um die Mutter meines Vaters, vergiß das nicht! Und habe ich dieses verfluchte Geld nicht immer verachtet? Was habe ich getan, als die Großmutter mir drohte, mich zu enterben, wenn ich dich heiratete?«

Liebe und Zorn erstickten ihm die Stimme. Er konnte nicht weiter sprechen und nahm Luisas Kopf und drückte ihn an seine Brust.

»Ich habe das Geld verachtet, um dich zu erringen,« fuhr er mit erstickter Stimme fort. »Wie kannst du verlangen, daß ich es jetzt durch Prozesse wieder an mich zu bringen versuche?«

»Aber nein!« unterbrach Luisa ihn, den Kopf aufrichtend. »Das Geld sollst du geben, wem du Lust hast! Ich spreche nur von der Gerechtigkeit! Hast du denn gar kein Gerechtigkeitsgefühl?«

»Mein Gott!« sagte er mit einem tiefen Seufzer. »Es wäre besser gewesen, ich hätte auch heute abend geschwiegen!«

»Vielleicht, ja. Wenn du in keinem Fall auf deinen Vorsatz verzichten wolltest, wäre es vielleicht besser gewesen.«

Luisas Stimme drückte bei diesen Worten Traurigkeit aus, nicht Zorn.

»Übrigens,« fügte Franco hinzu, »existiert dieses Schriftstück nicht mehr.«

Luisa erbebte.

»Es existiert nicht mehr?« sagte sie leise, angsterfüllt.

»Nein. Der Professor hat es auf meinen Wunsch vernichtet.«

Es folgte eine lange Pause. Ganz leise zog Luisa ihren Kopf zurück, bettete ihn auf das eigne Kissen.

Franco sprach laut vor sich hin: »Einen Prozeß! Mit diesen Dokumenten! Mit diesen Beschimpfungen! Der Mutter meines Vaters! Um des Geldes willen!«

»Aber wiederhole doch nicht immer dieselbe Sache!« rief seine Frau entrüstet. »Warum wiederholst du es immer wieder? Du weißt ja, daß es nicht wahr ist?«

Sie sprachen beide in gereiztem Ton miteinander; es war klar, daß während des Schweigens jeder über diesen Punkt seinen eignen Gedanken weiter gefolgt war.

Der Vorwurf reizte ihn, und er antwortete ohne Überlegung:

»Nichts weiß ich.«

»O Franco!« sagte Luisa schmerzerfüllt.

Er hatte seine verletzende Bemerkung schon bereut und bat sie um Verzeihung, er klagte sein Temperament an, das ihn zu unbesonnenen Worten hinriß, und flehte um ein freundliches Wort.

Luisa antwortete ihm seufzend: »Ja, ja,« aber er war nicht zufrieden, er wollte, daß sie sagen solle: »Ich verzeihe dir,« und ihn umarme. Die Berührung des geliebten Mundes erquickte ihn nicht wie sonst.

Es vergingen einige Minuten, und er lauschte, um zu hören, ob seine Gattin eingeschlafen wäre. Er hörte den Wind, Marias leisen Atem, das Rauschen der Wellen, das Klirren der Fensterscheiben, weiter nichts.

Er flüsterte: »Hast du mir wirklich verziehen?« und er hörte die liebliche Stimme antworten: »Ja, Lieber!«

Nach wieder einem Weilchen war sie es, die lauschte. Und durch den Wind und die Wellen, bei dem Klirren der Fensterscheiben, hörte sie den ruhigen, regelmäßigen Atem der Kleinen, den ruhigen, regelmäßigen Atem des Gatten. Und wieder stieß sie einen tiefen Seufzer aus, einen Seufzer der Verzweiflung. Gott im Himmel, wie war es möglich, daß Franco sich so benahm? Was sie im Innern ihres Herzens am meisten verletzte, war, daß er die der armen Mama und dem Onkel zugefügten Kränkungen kaum zu empfinden schien. Aber bei diesem Gedanken wollte sie sich nicht aufhalten, wenigstens erst, nachdem sie sein Unrecht von einem andern Gesichtspunkt aus, vom Standpunkt der Gerechtigkeit betrachtet hatte; und hier empfand sie mit einem Gefühl der Bitterkeit, das nicht ganz einer gewissen Selbstgefälligkeit entbehrte, ihre Überlegenheit.

Er wurde von Empfindungen, die der Phantasie entsprangen, beherrscht, während ihr eignes Empfinden die Vernunft regierte. So viel vom Kinde hatte Franco. Er konnte jetzt schlafen, und sie war sicher, kein Auge vor dem Morgen schließen zu können. Ihr schien, als besäße sie keine Einbildungskraft, weil sie sich selten regte, nicht leicht aufflammte. Wer ihr gesagt hätte, daß in ihr die Phantasie mächtiger arbeitete als in ihrem Gatten, den hätte sie ausgelacht. Und doch war es so. Um es zu beweisen, hätte man nur diese beiden Seelen umwenden müssen.

Francos Phantasie war immer sichtbar an der Oberfläche seiner Seele, und seine ganze Vernunft ruhte auf dem Grunde, während Luisas Phantasie in der Tiefe schaffte und ihre Vernunft immer sichtbar an der Oberfläche ihrer Seele haftete. Sie schlief in der Tat nicht, und die ganze Nacht grübelte sie mit der auf dem Grunde ihrer Seele arbeitenden Phantasie darüber nach, wie die Religion die schwachen Gefühlsduseleien begünstige, wie sie, die den Durst nach Gerechtigkeit predige, nicht imstande war, in den ihr ergebenen Intellekten den wahren Begriff der Gerechtigkeit zu entwickeln.

*

Auch der Professor, der an serösen Ergüssen der Phantasie sowohl in den Denkzellen des Gehirns als in den Empfindungszellen des Herzens litt, verbrachte, nachdem er die Lampe gelöscht hatte, einen großen Teil der Nacht vor dem Kamin, mit der Feuerzange und der Phantasie arbeitend, glühende Kohlen und Pläne aufnehmend, betrachtend, fallen lassend, bis ihm zuletzt nur ein glimmendes Stück Kohle und ein letzter Gedanke übrig blieb. Er nahm ein Streichholz und, es in die Glut haltend, zündete er die Lampe wieder an, nahm seinen gleichfalls leuchtenden und aufregenden Einfall und ging mit ihm zu Bett.

Der Gedanke war der: Er wollte, ohne daß jemand davon wüßte, nach Brescia fahren, mit den schrecklichen Dokumenten vor die Marchesa treten und eine Kapitulation erlangen.


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