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Fünftes Kapitel.
Das Geheimnis des Windes und der Nußbäume

Marias Fieber dauerte nur acht Tage, als aber die Kleine wieder aufstand, fanden ihre Eltern sie sowohl innerlich wie äußerlich mehr verändert, als ob es anstatt acht Tage acht Monate gewährt hätte. Die Augen hatten eine dunklere Färbung bekommen, einen eigentümlich ernsten, frühreifen Ausdruck. Sie sprach klarer und geläufiger, aber mit den Personen, die sie nicht mochte, sprach sie überhaupt nicht; die grüßte sie nicht einmal. Luisa fand weniger hiergegen einzuwenden als Franco. Franco wollte sie liebenswürdig haben, und Luisa fürchtete, sie könnte ihre Aufrichtigkeit einbüßen. Maria hatte für ihre Mutter eine eher zurückhaltende, aber leidenschaftliche Liebe; fast scheu und eifersüchtig. Ihren Vater hatte sie ja auch sehr lieb, aber man merkte, daß sie die Verschiedenheit zwischen ihnen empfand. Franco hatte Anfälle von leidenschaftlicher Zärtlichkeit für sie, er packte sie unversehens, drückte sie an sich und bedeckte sie mit Küssen; und sie pflegte dann den Kopf nach rückwärts zu werfen, ihr Händchen gegen das Gesicht des Vaters zu stemmen und ihn mit düsterer Miene anzusehen, als ob sie etwas Fremdes oder gar Abstoßendes in ihm entdecke. Oft schrie Franco sie zornig an, und dann weinte Maria und starrte ihn durch ihre Tränen an, bewegungslos, wie gebannt, und wieder mit dem Ausdruck jemands, der nicht versteht. Er sah die Vorliebe der Kleinen für die Mutter, und er billigte sie; es schien ihm eine gerechte Empfindung, und er zweifelte nicht, daß Maria ihn eines Tages ebenso zärtlich lieben würde. Luisa war, aus Liebe für ihren Gatten, sehr unzufrieden damit, daß das Kind ihr eine so viel größere Zuneigung zeigte; aber diese Empfindung war nicht so klar und lebhaft wie Francos großherzige Duldsamkeit. Luisa kam es vor, als ob Franco, trotz alles Gefühlsüberschwangs, seine Tochter liebte wie ein von ihm unterschiedenes Wesen; während sie, die diese äußeren Zärtlichkeitsergüsse nicht hatte, die Kleine wie ein notwendig Teil ihrer selbst liebte; deswegen konnte sie es nicht ungerecht finden, daß sie von ihr vorgezogen wurde. Dann trug sie auch eine Zukunftsmaria im Herzen, die vermutlich ganz verschieden war von der, die Franco im Herzen trug. Auch aus diesem Grunde konnte sie nicht bedauern, ein moralisches Übergewicht bei dem Töchterchen zu haben. Sie sah die Gefahr, die darin lag, daß Franco eine allzu starke Entwicklung des religiösen Empfindens begünstigte; nach ihrem Dafürhalten eine sehr ernste Gefahr; denn Maria, voller Neugier und versessen auf Geschichten, besaß die Bedingungen für eine sehr lebhafte, religiösen Vorstellungen sehr zugängliche Einbildungskraft, wodurch sie leicht aus dem moralischen Gleichgewicht kommen konnte. Es handelte sich nicht darum, das religiöse Gefühl zu unterdrücken; das würde Luisa niemals unternommen haben, sei es auch nur aus Respekt vor Franco; aber es war notwendig, daß Maria, einmal Weib geworden, den Stützpunkt ihres Lebens in einem sicheren, in sich selbst gefesteten moralischen Sinne zu finden wisse, ohne sich auf Glaubenssätze verlassen zu müssen, die im letzten Grunde doch nur Hypothesen und Meinungen waren, deren sie von einem Tage zum andern verlustig gehen konnte. Am Rechten und Wahren festzuhalten, losgelöst von jedwedem andern Glaubensbekenntnisse, losgelöst von jedweder Hoffnung oder Furcht, schien ihr die höchste Staffel des menschlichen Bewußtseins. Auf diese Vollkommenheit glaubte sie für sich keinen Anspruch mehr erheben zu dürfen, da sie zur Messe ging und zweimal im Jahre zum Abendmahl; und sie wollte auch für Maria darauf verzichten, aber so wie jemand auf den Stand der christlichen Vollkommenheit verzichtet, weil er nun einmal Weib und Kind hat: schweren Herzens und so wenig wie möglich.

Das Schicksal konnte Maria Reichtum in den Schoß werfen. Sie mußte absolut davor bewahrt werden, ein frivoles Leben voller Nichtigkeiten hinzunehmen, das durch die Frühmesse, den Abendrosenkranz und durch Almosen ausgeglichen würde. Luisa hatte ein paarmal versucht, mit Franco Fühlung zu finden über diesen Punkt; nämlich: Marias Erziehung eine von der religiösen Richtung losgelöste moralische Richtung zu geben, und der Versuch war immer übel ausgeschlagen. Daß jemand an Religion nicht glaubte, verstand Franco; daß aber jemand die Religion als Richtschnur für das Leben nicht ausreichend finden könne, war ihm völlig unbegreiflich. Daß dann alle nach Heiligkeit streben müßten, daß der kein guter Christ wäre, der Tarock- und Primieraspiel, die Jagd, das Fischen, gutes Essen und feine Weine liebte, der Gedanke kam ihm nicht einmal im Traum. Und diese von der Religion losgelöste moralische Richtung der Erziehung schien ihm wie ein schlechter Spaß; denn nach seiner Meinung waren die Ehrenmänner ohne Glauben eben Ehrenmänner von Natur oder aus Gewohnheit, aber nicht aus philosophischen oder moralischen Vernunftgründen. Es gab für Luisa also keinen Weg, sich über diesen delikaten Punkt mit ihrem Gatten zu verständigen. Sie mußte für sich und mit großer Vorsicht handeln, um ihn weder zu beleidigen noch zu kränken. Wenn Franco der Kleinen den Mond und die Sterne, die Blumen und die Schmetterlinge als Wunderwerke Gottes zeigte und eine religiöse Poesie, die für ein zwölfjähriges Mädchen gepaßt hätte, daraus entwickelte, so schwieg Luisa; wenn es aber vorkam, daß er zu Maria sagte: »Gib acht, Gott will nicht, daß du dies, Gott will nicht, daß du jenes tust,« so fügte Luisa sofort hinzu: »Dies ist schlecht und jenes ist schlecht, und man soll niemals etwas Schlechtes tun.« Hier konnte es nun aber nicht fehlen, daß sich hin und wieder Meinungsverschiedenheiten zwischen Vater und Mutter geltend machten, weil das moralische Urteil des einen nicht immer sich mit dem des andern deckte. Eines Tages standen sie zusammen am Fenster des Saales, während Maria mit einem ungefähr gleichalterigen kleinen Mädchen aus Oria spielte. Ein Bruder dieser Kleinen, ein gewalttätiger Bube von acht Jahren, kommt vorüber und befiehlt dem Schwesterchen, ihm zu folgen. Diese weigert sich und weint. Ganz ernsthaft geht Maria mit den Fäusten auf den Störenfried los. Mit einem befehlenden Ruf hält Franco sie zurück; die Kleine dreht sich um, sieht ihn an und bricht in Tränen aus, während jener sein Opfer mit sich fortschleift. Luisa trat vom Fenster zurück und sagte leise zu ihrem Gatten: »Entschuldige, das war ungerecht.« – »Wie, ungerecht?« Franco erhitzte sich, erhob die Stimme, fragte seine Frau, ob sie eine heftige, gewalttätige Maria haben wolle. Sie erwiderte mit Sanftmut und Sicherheit, ohne sich von seinen scharfen Worten verletzt zu zeigen, blieb dabei, daß Marias Empfindung gut gewesen, daß Empörung gegen Ungerechtigkeit und Anmaßung für jeden eine berechtigte Wallung sei, daß, wer als Kind sich mit Fäusten wehre, als Erwachsener sich schon gesitteterer Mittel bedienen werde, daß man aber Gefahr laufe, wenn man im Kinde den natürlichen Ausdruck der Gesinnung unterdrücke, zugleich auch das keimende gute Gefühl zu vernichten.

Franco war nicht überzeugt. Seiner Meinung nach war es sehr zweifelhaft, daß in Maria diese heroischen Empfindungen maßgebend gewesen seien. Sie war wütend geworden, weil man ihr die Spielgefährtin entziehen wollte, nichts weiter. Und dann, war es nicht etwa Sache der Frau, Anmaßungen und Ungerechtigkeiten gegenüber eine freundliche Milde an den Tag zu legen, eher die Beleidiger zu besänftigen und zu bessern, als die Beleidigung mit Gewalt zurückzuweisen? Luisa wurde rot und erwiderte, daß gewissen Frauen, und vielleicht den besten, diese Rolle anstünde, aber daß sie nicht allen anstehen könne, da es nicht allen gegeben sei, so sanft und demütig zu sein.

»Und du gehörst zu jenen andern?« rief Franco.

»Ich glaube, ja.«

»Das ist eine schöne Geschichte!«

»Tut es dir leid?«

»Sehr, sehr leid!«

Luisa legte ihre Hände auf seine Schultern. »Tut es dir leid,« sagte sie, ihn fest anblickend, »daß ich mich gleich dir dagegen empöre, diese Herren im Hause zu haben, daß ich gleich dir wünsche, auch mit meinen Händen dazu beizutragen, sie hinauszujagen; oder würdest du es vorziehen, wenn ich versuchte, Radetzky zu bessern und die Kroaten zu besänftigen?«

»Das ist doch etwas ganz andres!«

»Warum etwas ganz andres? Nein, es ist ganz dasselbe!«

»Es ist etwas andres!« wiederholte Franco; aber er konnte nicht beweisen, daß es etwas andres wäre. Er vermeinte, unrecht zu haben vermittels eines Trugschlusses, und recht zu haben vermittels einer tiefen Wahrheit, die er nur nicht zu packen vermochte.

Er sprach nichts mehr, war den ganzen Tag nachdenklich, und man sah, daß er nach der Antwort suchte. Auch in der Nacht grübelte er darüber nach, endlich schien ihm, er habe sie gefunden, und er weckte seine schlafende Gattin auf.

»Luisa!« sagte er. »Luisa! Das ist etwas ganz andres!«

»Was gibt's?« rief Luisa, jäh erwachend.

Er hatte sich ausgedacht, daß die durch die Fremdherrschaft zugefügte Kränkung nicht persönlich wäre wie Privatbeleidigungen, und daß sie aus der Verletzung eines Prinzips der allgemeinen Gerechtigkeit hervorginge; aber im Begriff, dies seiner Gattin zu erklären, wurde er sich selbst darüber klar, daß auch bei Privatbeleidigungen stets die Verletzung eines Prinzips der allgemeinen Gerechtigkeit Platz griffe, und er sah ein, daß er sich geirrt habe.

»Nichts,« sagte er.

Seine Frau glaubte, daß er geträumt hätte, legte ihren Kopf auf seine Schulter und schlief wieder ein. Wenn es ein Argument gab, um Franco zu den Ideen seines Weibes zu bekehren, so war es diese süße Berührung, dieser sanfte Atem auf seiner Brust, der ihm so oft schon die beglückende Empfindung der gegenseitigen Übereinstimmung ihrer Seelen zum Bewußtsein gebracht. Heute war es nicht so. Wie ein rascher, kalter Stahl schoß ihm der Gedanke durchs Gehirn, dieser latente Gegensatz zwischen seinen Ideen und denen seiner Frau könnte den einen oder den andern Tag in irgendeiner schmerzlichen Weise ausbrechen, und angstvoll preßte er sie in seine Arme, als wolle er sie und sich verteidigen gegen die Trugbilder des eignen Hirns.

*

Am 6. November nahm Franco nach dem Frühstück seine große Gartenschere zur Hand, um gewohntermaßen im Gärtchen und auf der Terrasse das dürre Holz abzuschneiden. Es war eine Stunde von solcher Schönheit, von solchem Frieden, daß es einem das Herz bedrückte. Kein Blatt, das sich bewegte; nach Westen die Luft kristallklar und durchsichtig, nach Osten verschleiert, dazwischen in leichtem Dunst die Berge zwischen Osteno und Porlezza; das Haus funkelte in der Sonne und im zitternden Schein des Sees; die Sonne war ziemlich warm, aber die Chrysanthemen im Garten, die Oliven- und Lorbeerbäume am Ufer, weithin sichtbar im rötlichen Glanz ihrer welkenden Blätter, eine gewisse verborgene Frische in der von olea fragrans süß durchdufteten Luft, das Schweigen des Windes, die hohen, mit Schnee bedeckten Berge des Comersees: alles vereinigte sich in melancholischer Weise, um das Sterben der schönen Jahreszeit zu verkünden. Nachdem Franco das dürre Holz beseitigt, schlug er seiner Frau vor, mit dem Boot nach Casarico zu fahren, um Freund Gilardoni die beiden ersten Bände der Mystères du Peuple, die sie in wenigen Tagen gierig verschlungen hatten, zurückzubringen und den dritten Band zu holen. Sie beschlossen, in der Mittagsstunde aufzubrechen, nachdem Maria ins Bett gelegt worden sei. Aber ehe noch Maria im Bette lag, erschien atemlos keuchend Barborin Pasotti mit schiefem Hut und schiefer Mantille. Sie war durch das Gartengitter hereingekommen und blieb an der Schwelle des Saales stehen. Es war das erstemal, daß sie nach der Haussuchung kam; sie erblickte ihre Freunde, faltete die Hände, wiederholte mit leiser Stimme: »Ach du mein Gott, ach du mein Gott, ach du mein Gott!« stürzte sich auf Luisa und bedeckte sie mit Küssen.

»Meine Allerteuerste! Meine Allerteuerste!« Am liebsten hätte sie Franco ebenso umarmt, aber Franco liebte diese Ergüsse nicht und machte ein so wenig ermunterndes Gesicht, daß die arme Frau sich begnügte, seine beiden Hände zu ergreifen und herzhaft zu schütteln. »Mein teurer Don Franco! Mein teurer Don Franco!« Schließlich nahm sie Maria auf den Arm, die ihre beiden Händchen gegen ihre Brust stemmte und dazu ein ähnliches Gesicht machte wie ihr Vater. »Ich bin alt, gelt? Ich bin garstig, gelt? Ich gefall' dir nicht? Es macht nichts, es macht nichts, es macht nichts!« Und demütig küßte sie ihre Ärmchen und die Schultern, da sie es nicht wagte, sich dem herben Gesichtchen zu nähern. Dann sagte sie ihren Freunden, daß sie ihnen eine gute Neuigkeit brächte, und ihre Augen glänzten bei diesem freudigen Geheimnis. Die Marchesa hatte an Pasotti geschrieben, und in dem Briefe war ein Satz, den Barborin auswendig gelernt hatte: »Mit lebhaftem Mißvergnügen ( mit lebhaftem Mißvergnügen, so steht's da) habe ich von dem traurigen Zwischenfall in Oria gehört ... in Oria ... (warten Sie!) von dem traurigen Zwischenfall in Oria (ach ja!), und obgleich mein Enkel es nicht verdient, wünschte ich doch, daß er keine üblen Folgen haben möge.« Der Satz hatte nicht den gewünschten Erfolg. Luisa machte ein düsteres Gesicht und sagte nichts; Franco sah auf seine Frau und wagte nicht, die günstige Auslegung auszusprechen, die ihm wohl auf den Lippen, nicht aber im Herzen lag. Die arme Barborin, die die günstige Gelegenheit – ihr Gatte war nach Lugano gegangen – benutzt hatte, um schnell ihren Freunden das Zuckerplätzchen zu überbringen, war ganz gekränkt, blickte zerknirscht bald auf Luisa, bald auf Franco und endete damit, ein wirkliches und wahrhaftiges Zuckerplätzchen aus der Tasche zu ziehen, um es Maria zu geben. Dann, als sie verstanden hatte, daß die Gatten mit dem Boot fortfahren wollten, schwätzte und zögerte sie, vor Begierde brennend, noch ein wenig bei Maria bleiben zu dürfen, so endlos, daß jene schließlich aufbrachen und die Sorge, das Kind ein wenig später ins Bett zu bringen, Veronika überließen.

Maria schien nicht gerade sehr entzückt über die Gesellschaft ihrer alten Freundin. Sie schwieg und schwieg eigensinnig, und es dauerte nicht lange, so riß sie den Mund auf und brach in Tränen aus. Die arme Pasotti wußte nicht, welche Heiligen anrufen. Sie rief nach Veronika, aber Veronika plauderte mit einem Finanzwächter und hörte nicht oder wollte nicht hören. Sie bot ihre Ringe an, ihre Uhr, bis auf den Hut à la Vizekönigin Beauharnais, aber nichts fand Gnade, und Maria fuhr fort zu weinen. Endlich kam ihr der Einfall, sich ans Klavier zu setzen, und sie begann immer von neuem, acht oder zehn Takte einer vorsündflutlichen Tanzweise zu hämmern. Da besänftigte sich Prinzeßchen Maria und gestattete ihrer Kammermusikerin, sie so vorsichtig, als ob ihre Ärmchen Schmetterlingsflügel wären, zu nehmen und so sachte auf die Knie zu setzen, als ob die alten Beine Gefahr liefen, in Staub zu zerfallen.

Nachdem Maria fünf- oder sechsmal die Tanzweise gehört, machte sie ein gelangweiltes Gesichtchen, versuchte die runzligen Hände der alten Spielerin von den Tasten zu ziehen und sagte leise: »Singe mir ein Liedchen.« Dann, da sie keine Antwort erhielt, drehte sie sich um, sah ihr ins Gesicht und schrie aus voller Kehle:

»Du sollst mir ein Lied singen.«

»Ich verstehe nicht,« erwiderte die Pasotti, »ich bin taub.«

»Warum bist du taub?«

»Ich bin taub,« antwortete die Unglückliche lächelnd.

»Aber warum bist du taub?«

Die Pasotti konnte nicht herausbringen, wonach das Kind fragte. »Ich verstehe nicht,« sagte sie.

»Dann,« meinte Maria mit sehr ernster Miene, »dann bist du dumm,« worauf sie die Augenbrauen runzelte und weinerlich wieder begann: »Ich will ein Lied!«

Jemand sagte vom Garten her:

»Da kommt er schon, der mit den Liedern!«

Maria sah auf, und ihr Gesicht verklärte sich ganz. »Missipipi!« rief sie, glitt von den Knien der Pasotti herunter und lief dem eintretenden Onkel Piero entgegen. Auch die Pasotti erhob sich, und ganz überrascht und lachend streckte sie die Arme nach dem alten, unerwarteten Freunde aus. »Nein, so etwas! Nein, so etwas!« Und sie ging ihm entgegen. Maria rief in so hohen Tönen ihr »Missipipi, Missipipi!« und klammerte sich so fest an die Beine ihres Onkels, daß diesem, obgleich er gar keine Lust dazu zu haben schien, nichts andres übrig blieb, als sich auf das Sofa zu setzen, das Kind auf den Schoß zu nehmen und das alte Lied wieder zu singen:

»Ombretta, du spröde ...«

Nach vier oder fünf Wiederholungen des »Missipipi« bekam die Pasotti Angst, ihr Gatte könnte zurückkehren, und verabschiedete sich. Veronika wollte nun die Kleine ins Bett bringen. Aber Maria sträubte sich, und der Onkel vermittelte: »Ach, lassen Sie sie mir noch ein wenig!« und trat mit ihr auf die Terrasse, um zu sehen, ob Papa und Mama noch nicht heimkehrten. Von Casarico her war kein Boot in Sicht. Die Kleine befahl dem Onkel, sich niederzusetzen, und kletterte auf seinen Schoß.

»Warum bist du gekommen?« fragte sie. »Es gibt gar kein Essen für dich, weißt du.«

»Dann mußt du das Essen für mich kochen. Ich bin gekommen, um bei dir zu bleiben.«

»Für immer?«

»Für immer.«

»Wirklich immer, immer, immer?«

»Wirklich immer.«

Maria schwieg nachdenklich. Dann fragte sie:

»Und was hast du mir mitgebracht?«

Der Onkel zog eine Gummipuppe aus der Tasche. Wenn Maria hätte ahnen, hätte verstehen können, in welcher Stimmung der Onkel nach jenem Schlage ausgegangen war, um diese Puppe für sie zu kaufen, so würde sie vor zärtlicher Rührung geweint haben.

»Das ist ein garstiges Geschenk,« sagte sie, sich der früheren Gaben des Onkels erinnernd. »Und wenn du hier bleibst, bringst du mir nichts mehr mit?«

»Gar nichts mehr.«

»Geh fort, Onkel!« sagte sie.

Er lächelte.

Nun wollte Maria vom Onkel hören, ob sein Onkel ihm Geschenke mitgebracht hätte, als er noch klein war. Aber dieser Onkel des Onkels, so unmöglich es Maria auch vorkam, hatte niemals existiert. Und wer hatte ihm dann Geschenke mitgebracht? Und war er ein braves Kind gewesen? Weinte er? Der Oheim fing an, ihr Geschichten aus seiner Kindheit zu erzählen, Geschichten von vor sechzig Jahren, als die Leute noch Perücke und Zöpfchen trugen. Es machte ihm Spaß, dem Nichtchen seine ferne Zeit vor Augen zu führen, sie für einen Augenblick mit seinen Verstorbenen zusammenleben zu lassen, und er sprach mit so traurigem Ernst, als ob er jene teuren Toten vor sich gehabt und mehr zu ihnen als zu der Kleinen gesprochen hätte. Sie blickte ihm mit weitgeöffneten Augen starr ins Gesicht und zuckte nicht mit den Wimpern. So verging die Zeit, ohne daß weder er noch sie es gewahr wurden, und weder er noch sie dachten mehr an das Boot, das heimkehren sollte.

Und das Boot kam, und Franco und Luisa stiegen arglos herauf, in der Meinung, daß das Kind schliefe. Franco war der erste, der unter den hängenden Zweigen der Passionsblume den Oheim sitzen sah, über die auf seinem Schoß sitzende Maria gebeugt. Er stieß einen Schrei der Überraschung aus, und, von Luisa gefolgt, lief er auf ihn zu in der Befürchtung, daß etwas vorgefallen sei. »Du hier?« rief er noch im Laufen. Luisa, die ganz bleich war, sagte nichts. Der Onkel hob den Kopf und sah sie an; sie verstanden sofort, daß es sich um eine schlimme Neuigkeit handeln müsse, denn nie hatten sie ihn mit einem so ernsten Gesicht gesehen.

»Vorbei!« sagte er.

»Was ist vorgefallen?« murmelte Franco.

Er machte beiden ein Zeichen, von der Terrasse in die Wohnung zu gehen, folgte ihnen hinein, dann breitete der arme Alte die Arme wie ein Gekreuzigter aus und sagte mit trauriger, aber ruhiger Stimme: »Abgesetzt.«

Franco und Luisa sahen ihn einen Augenblick wie verständnislos an. Dann rief Franco: »Ach, Onkel, Onkel!« und umarmte ihn. Maria brach in Tränen aus, als sie dies sah und das Gesicht ihrer Mutter beobachtete. Luisa versuchte, sie zu beruhigen, aber ihr selbst, der tapferen Frau, steckte das Weinen in der Kehle.

Nachdem er sich im Saal auf das Sofa gesetzt, erzählte der Onkel, der K. K. Delegierte von Como habe ihn kommen lassen, um ihm zu sagen, daß die in seinem Hause in Oria vorgenommene Untersuchung schmerzliche und unerwartete Resultate ergeben habe; welche, habe er absolut nicht sagen wollen. Er habe dann hinzugefügt, daß man eigentlich einen Prozeß gegen ihn hätte anstrengen wollen, daß aber in Anbetracht seiner langen und lobenswerten Dienste die Regierung sich darauf beschränken wolle, ihn seines Amtes zu entsetzen. Der Onkel hatte darauf bestanden, die Anklagen kennen zu lernen, aber jener hatte ihn verabschiedet, ohne ihm zu antworten.

»Und nun?« fragte Franco.

»Und nun ...?« Der Onkel schwieg ein Weilchen, und dann sprach er einen durchs Alter geheiligten Satz unbekannten Ursprungs aus, den er selbst und seine Gefährten beim Tarock von sich zu geben pflegten, wenn das Spiel verzweifelt schlecht stand: »Wir sind hin und geliefert, o Königin!«

Es folgte ein langes Schweigen. Dann warf Luisa sich dem Alten an den Hals. »Onkel, Onkel,« flüsterte sie, »ich fürchte, daß es unsertwegen geschehen ist!«

Sie dachte an die Großmutter, und der Onkel meinte, daß sie Franco und sich irgendeiner Unvorsichtigkeit bezichtigte.

»Hört, meine lieben Freunde!« sagte er mit gutmütigem Ton, der aber dabei einen versteckten Beigeschmack von Vorwurf hatte, »das sind nutzlose Reden. Jetzt sind die Eier zerschlagen, jetzt müssen wir ans Brot denken. Zieht in die Rechnung das Haus, einige kleine Ersparnisse, die mir ungefähr vier Zwanziger pro Tag abwerfen, und zwei Mäuler mehr, meins und Cias; das meine, hoffe ich, nicht mehr für lange.« Franco und Luisa widersprachen. »Das ist nicht anders! Das ist nicht anders!« sagte der Onkel, die Arme bewegend, wie um seine Geringschätzung solcher unvernünftigen Gefühlsduselei auszudrücken. »Gut leben und zur rechten Zeit sterben. So ist die Regel. Den ersten Teil habe ich besorgt, jetzt ist's an mir, den zweiten zu besorgen. Inzwischen könnt ihr mir Wasser auf mein Zimmer schicken und meinen Reisesack öffnen. Ihr werdet zehn Fleischklößchen drin finden, die Frau Carolina dell' Agria mir mit Gewalt aufgedrängt hat. Ihr seht also, daß die Sachen noch nicht allzu schlecht stehen.«

Damit stand der Onkel auf und ging mit festem Schritt durch die Salontür, auch von rückwärts sein mutiges Gesicht, seinen bescheidenen, friedlichen Bauch und die Heiterkeit des antiken Philosophen nicht verleugnend. Franco, aufrecht auf der Schwelle der Terrasse, blickte mit über der Brust gekreuzten Armen und gerunzelten Augenbrauen nach Cressogno hinüber. Und wenn er in diesem Augenblick ein ganzes Bündel von Delegierten, Kommissären, Schergen und Spitzeln zwischen den Kinnladen gehabt hätte, so würde er sie gern mit seinen Zähnen zu einem einzigen Brei zermalmt haben.


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