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Erster Teil.

 


 

Erstes Kapitel.
Risotto und Trüffeln

Ein rauher Wind blies über den See. Er peitschte, als gelte es, die grauen Wolken, die schwer auf den dunkeln Bergkuppen lagerten, zu verjagen. Und wirklich hatte der Regen noch nicht eingesetzt, als die Pasotti, von Albogasio Superiore herunterkommend, in Casarico anlangten. Donnernd brandeten die Wellen gegen das Ufer, zerrten an den angeketteten Booten und ließen hier und da, bis hinüber zu dem jenseitigen steilen Ufer des Doi, weiße Schaumkappen aufblitzen. Aber weiter nach Westen, am Ende des Sees, sah man einen hellen Streifen, wie den Anfang der Stille; da war die Wut des Sturms gebrochen. Und hinter dem dunkeln Monte Caprino stieg der erste Regendampf auf. Pasotti, im schwarzen Feiertagsrock, den Zylinderhut auf dem Kopf und das dicke Bambusrohr in der Hand, ging nervös am Ufer entlang, blickte nach rechts und nach links, stampfte heftig mit dem Stock auf den Boden und rief nach dem Esel von Fährmann, der nicht kommen wollte.

Das kleine, schwarze Boot mit dem roten Kissen, dem weiß und roten Zelt, dem quer gestellten, beweglichen Prunksitz, die Ruder am Achterteil gekreuzt, kämpfte, von den Wellen hin und her geschleudert, zwischen zwei mit Kohlen beladenen Kähnen, die kaum schwankten.

»Pin!« rief Pasotti immer aufgebrachter. »Pin!«

Keine Antwort als das gleichmäßige Dröhnen der gegen das Ufer brandenden Wellen, das Gegeneinanderstoßen der Kähne. Man hätte meinen können, daß es in ganz Casarico keinen lebendigen Hund gäbe. Nur eine alte klägliche Stimme, eine verschleierte Stimme wie die eines Bauchredners, jammerte aus der Dunkelheit des Bogenganges heraus.

»Wir wollen zu Fuß gehen! Laß uns zu Fuß gehen!«

Endlich tauchte Pin in der Richtung San Mamette auf.

»Holla!« winkte Pasotti mit dem Arm. Jener setzte sich in Trab.

»Dummkopf!« schrie Pasotti. »Sie haben dir nicht umsonst einen Hundenamen gegeben!«

»Laß uns zu Fuß gehen, Pasotti!« jammerte die klägliche Stimme. »Laß uns zu Fuß gehen!«

Pasotti fluchte noch mit dem Fährmann, der in Eile die Kette seines Bootes von einem in das Ufer getriebenen Ring löste. Dann wandte er sich mit gebieterischer Miene dem Torgang zu und winkte jemand zu kommen.

»Laß uns zu Fuß gehen, Pasotti!« jammerte die Stimme wieder.

Er zuckte die Achseln, machte mit der Hand eine kurze, befehlende Bewegung und stieg hinunter zum Boot.

Da löste sich aus einem Bogen des Ganges die magere Gestalt einer alten Dame; sie war in einen indischen Schal gehüllt, unter dem der schwarze Seidenrock sichtbar wurde; den Kopf umschloß ein unverhältnismäßig hoher Kapotthut, den gelbe Rosetten und schwarze Spitzenkanten garnierten. Zwei schwarze Locken umrahmten das runzlige Gesicht, in dem sich zwei große, sanfte, verschleierte Augen öffneten. Der große Mund war von einem leichten Flaum beschattet.

»O Pin,« sagte sie, die kanariengelben Handschuhe zusammenfaltend, während sie am Ufer stehen blieb und mitleidig auf den Fährmann blickte. »Sollen wir wirklich bei diesem Wetter über den See?«

Ihr Gatte machte eine noch ungeduldigere Gebärde, ein noch barscheres Gesicht als vorher. Die arme Frau ging stumm hinunter zum Boote und wurde, an allen Gliedern zitternd, hineingehoben.

»Ich empfehle meine Seele der Madonna von Caravina, mein lieber Pin,« sagte sie. »Ein schreckliches Wasser!«

Der Fährmann schüttelte lächelnd den Kopf.

»Ehe ich's vergesse,« rief Pasotti, »hast du auch das Segel?«

»Ich hab's oben im Hause,« erwiderte Pin. »Soll ich's holen? Die Dame hier wird vielleicht Furcht haben. Und da, da schlägt schon das Wasser herein!«

»Geh!« sagte Pasotti.

Die Dame, die taub war wie ein Glockenschwengel und von dieser Unterredung kein Sterbenswörtchen gehört hatte, wunderte sich nicht wenig, als Pin plötzlich davonlief. Sie fragte ihren Mann, wohin er ginge.

»Das Segel!« schrie Pasotti ihr ins Gesicht.

Vorgebeugt, mit weitgeöffnetem Mund, versuchte sie einen Laut zu erhaschen. Umsonst.

»Das Segel!« wiederholte er noch lauter und bildete mit den Händen ein Sprachrohr.

Sie glaubte verstanden zu haben, zitterte vor Entsetzen und zeichnete mit dem Finger ein hieroglyphisches Fragezeichen in die Luft. Pasotti antwortete, indem er gleichfalls einen phantastischen Bogen in die Luft zeichnete und hineinblies. Dann nickte er mit dem Kopf, ohne zu sprechen. Furchtbebend stand seine Frau auf, um wieder auszusteigen.

»Ich steige aus,« sagte sie angsterfüllt. »Ich steige aus! Ich gehe zu Fuß!«

Ihr Mann packte sie am Arm, zwang sie zum Niedersitzen und durchbohrte sie mit seinen zürnenden Blicken.

Inzwischen kam der Fährmann mit dem Segel zurück. Die arme Frau wand sich vor Furcht, Tränen standen ihr in den Augen, und sie warf sehnsüchtige Blicke nach dem Ufer. Aber sie sagte nichts. Der Mast wurde hochgerichtet, die beiden unteren Enden des Segels angebunden, und das Boot war eben im Begriff abzustoßen, als eine dröhnende Stimme vom Bogengang rief: »Sieh da, der Herr Kontrolleur!« und die rundliche Gestalt eines Priesters zum Vorschein kam, mit gerötetem Gesicht, glorreichem Schmerbauch, einem großen schwarzen Strohhut, die Zigarre im Mund und den Regenschirm unterm Arm.

»O, der Herr Pfarrer!« rief Pasotti. »Bravo! Auch zum Essen geladen? Kommen Sie mit uns nach Cressogno?«

»Wenn Sie mich mitnehmen!« erwiderte der Pfarrer von Puria, hinunter zum Boot kommend. »Sieh, da ist ja auch die Frau Barborin!«

Das feiste Gesicht wurde liebenswürdig und die laute Stimme weich und sanft.

»Sie hat eine höllische Furcht, arme Seele,« spottete Pasotti, während der Pfarrer vor der Dame, die dieses drohende Übergewicht mit neuem Schrecken erfüllte, dienerte und lächelte. Sie begann wortlos zu gestikulieren, als wären die andern tauber als sie selbst. Sie deutete auf den See, das Segel, den kolossalen Leibesumfang des Priesters, hob die Augen zum Himmel, drückte die Hände gegen das Herz, bedeckte sich das Gesicht.

»Ich wiege gar nicht so schwer,« sagte der Pfarrer lachend. »Schweig du,« fügte er, zu Pin gewendet, der unehrerbietig gemurmelt hatte, hinzu. »So ein Schafskopf.«

»Wißt Ihr,« rief Pasotti, »was wir tun wollen, damit ihr die Furcht vergeht? Pin, hast du ein Tischchen und ein Spiel Tarock?«

»Zwar 'n bißchen fettig,« entgegnete Pin, »aber ich hab' eins.«

Es hielt schwer, der Frau Barbara, gewöhnlich Barborin genannt, klarzumachen, um was es sich handelte. Sie wollte nicht verstehen, selbst nicht, als ihr Ehemann ihr ein Pack widerlich schmutziger Karten gewaltsam in die Hand drückte.

Aber für den Augenblick war es nicht möglich zu spielen. Mühsam näherte sich das Boot, durch die Ruder vorwärts getrieben, der Mündung des Flusses von San Mamette, wo man das Segel hätte hissen können; aber die von den Ufern zurückgeschlagenen Sturzwellen kämpften mit den neu hinzukommenden, so daß das Boot zwischen einem Strudel weißen Gischtes tanzte. Die Dame weinte. Pasotti verwünschte Pin, der nicht genug auf den offenen See hinaus gehalten hatte. Da ergriff der Pfarrer, der seines gewaltigen Körpers wegen in der Mitte des Bootes Platz genommen hatte, zwei Ruder und holte so kräftig aus, daß er in vier Schlägen aus dem gefährlichen Fahrwasser heraus war. Das Segel wurde aufgezogen, und sofort glitt das Boot mit einem leisen Plätschern unter dem Kiel, mit einem langsamen und sanften Wiegen dahin. Darauf setzte sich der Geistliche neben Frau Barborin, die die Augen schloß und Gebete murmelte. Aber Pasotti schlug ungeduldig mit den Tarockkarten auf das Tischchen, und man mußte spielen.

Indessen kam sachte, sachte der graue Regen näher. Er verhüllte die Berge, erstickte die Brise. In dem Maße, wie der Wind abnahm, faßte die Dame wieder Mut. Sie spielte ganz fügsam und ließ sich weder durch ihre eignen Versehen noch die wütenden Ausfälle ihres Mannes aus ihrer Gemütsruhe bringen.

Als dann die ersten Regentropfen auf das Zeltdach des Bootes und das unbewegte Wasser schlugen, das jetzt fast gänzlich windlos gegen die Klippen des Tention trieb, als der Fährmann das Segel reffte und wieder zu den Rudern griff, atmete Frau Barbarin völlig erleichtert auf. »Mein lieber Pin,« sagte sie zärtlich; und sie ging mit einem Eifer, mit einer Lebhaftigkeit, mit einem glückseligen Gesicht an das Kartenspiel, die weder Fehler noch Verweise trüben konnten.

Viele Tage des Sturms und des Regens, des Sonnenscheins und Gewitters sind über den Luganer See, über die Berge von Valsolda dahingezogen seit jener Tarockpartie der Frau Pasotti, ihres Ehegemahls, Steuerkontrolleurs a. D., und des Herrn Pfarrers von Puria auf dem Boot, das mitten durch eine Nebelwolke an der Küste längs der Klippen zwischen San Mamette und Cressogno langsam dahinglitt. Wenn ich im Geiste jene dunkeln, armseligen Häuser vor mir sehe, die jetzt ihren protzigen bäuerlichen Aufputz im See widerspiegeln, jene heiteren, eleganten, kleinen Paläste, die jetzt in unberührtem Schweigen zerfallen, den alten Maulbeerbaum von Oria, die alte Buche von Madamina, die mit den Generationen, die sie verehrten, zugrunde gingen, die vielen menschlichen Gestalten, erfüllt von heimlichem Groll, den sie für ewig hielten, von guten Einfällen, die unerschöpflich schienen, treu den Gewohnheiten, von denen man gemeint hätte, daß nur eine allgemeine Sündflut sie hätte fortspülen können, Gestalten, den vergangenen Generationen nicht weniger vertraut als jene Bäume, mit denen sie verschwanden, – wenn ich jener Zeit gedenke, so scheint sie mir weit entlegener, als sie in Wahrheit ist, wie dem Fährmann Pin, wenn er nach Westen blickte, der San Salvatore und die Berge von Carona durch den Regen viel entfernter erschienen, als sie es in Wirklichkeit waren.

Es war eine graue und schläfrige Zeit, gerade wie der Anblick des Himmels und des Sees, nachdem der Sturm sich gelegt, der Frau Pasotti so geängstigt hatte. Nachdem der große Sturm von 1848, der wenige Stunden der Sonne gebracht und eine Weile gegen das schwere Gewölk gekämpft hatte, seit drei Jahren vorübergezogen war, regnete es einförmige, trübe, stille Tage dort, wo diese meine bescheidene Geschichte sich abspielt.

Die Kartenkönige und -königinnen des Tarock, der »Matto« und der »Bagatto« waren zu jener Zeit und in jenem Lande Personen von Wichtigkeit, winzige Mächte, die großmütig im Schoße des großen, schweigsamen österreichischen Kaiserreichs geduldet wurden, und deren Feindschaften, deren Bündnisse, deren Kriege das einzige politische Argument waren, über das man frei diskutieren konnte. Auch Pin steckte während des Ruderns neugierig seine Habichtsnase in Frau Barborins Karten und zog sie nur widerwillig zurück. Einmal hielt er im Rudern inne, um zu sehen, wie die arme Seele sich aus einer schwierigen Lage ziehen, was sie mit einer gewissen Karte anfangen würde, die gefährlich war auszuspielen und gefährlich zu behalten. Ihr Mann klopfte ungeduldig auf den Tisch, der Priester betastete mit einem glücklichen Lächeln seine eignen Karten, und sie drückte die ihren lachend und stöhnend gegen die Brust, kniff die Augen und sah bald zu dem einen, bald zu dem andern ihrer Gefährten spähend hinüber.

»Sie hat den Matto in der Hand,« flüsterte der Geistliche.

»So macht sie's immer, wenn sie den Matto hat,« sagte Pasotti; und zu ihr schrie er: »Heraus mit diesem Matto!«

»Ich werfe ihn in den See,« sagte sie. Dabei blickte sie nach dem Schiffsbug und gewahrte, daß man in Cressogno angelangt und es Zeit war aufzuhören. Dadurch entging sie der Verlegenheit.

Ihr Mann brummte zwar, aber schließlich gab er sich zufrieden und zog die Handschuhe an.

»Forelle, heute, Herr Kurat,« sagte er, während seine demütige Ehehälfte sie ihm zuknüpfte. »Weiße Trüffeln, Haselhühner und Ghemmer Wein.«

»Sie wissen's?« rief der Pfarrer. »Ich weiß es auch. Mir hat's der Koch gesagt, gestern in Lugano. Ei, die versteht's, die Frau Marchesa!«

»Was ist da zu verstehen? Ein Diner zu Ehren der heiligen Ursula; es sind auch Damen geladen; die Carabelli, Mutter und Tochter; die Carabelli von Loveno, wissen Sie?«

»Ah wirklich?« entgegnete der Pfarrer. »Sollte da irgendeine Absicht sein? ... Hier ist Don Franco im Boot. Je, welch eine Flagge, der junge Mann! Ich habe mein Lebtag noch keine solche gesehen.«

Pasotti hob den Zeltvorhang, um zu sehen. In geringer Entfernung wiegte sich eine Barke mit weiß und blauer Flagge in dem gleichmäßigen Rhythmus der Wellen, in dem gleichen müden Tempo. Am Heck unter der Flagge saß Don Franco Maironi, das Mündel der alten Marchesa Ursula, die das Mittagessen gab.

Pasotti sah, wie er aufstand, die Ruder ergriff und sich nach der dicht bewachsenen Bucht des Doi zu entfernte. Er ruderte schlecht, lang wie er war und ungeschickt. Die weiß und blaue Flagge hatte sich ganz entfaltet und flatterte auf dem Wasser.

»Ein Original – wohin mag er fahren?« sagte er. Und mit der erkünstelten Heiserkeit eines Mailänder Straßenrufers brummte er zwischen den Zähnen:

»Antipathischer Mensch.«

»Man sagt, er sei sehr begabt,« bemerkte der Priester.

»Harter Kopf,« entschied der andere. »Viel Hochmut, wenig Wissen, keine Lebensart.«

»Und angefault,« fügte er hinzu. »Wenn ich die junge Dame wäre ...«

»Welche?« fragte der Geistliche.

»Die Carabelli.«

»Merken Sie auf, Herr Kontrolleur. Wenn die Haselhühner und die weißen Trüffeln für die Tochter Carabelli sind, dann sind sie zum Fenster hinausgeworfen.«

»Wissen Sie etwas davon?« sagte Pasotti leise, mit Augen, die vor Neugier funkelten.

Der Geistliche gab keine Antwort, weil das Boot in diesem Augenblick auf den Sand stieß und die Landungsstelle erreicht war. Er stieg als erster aus. Dann gab Pasotti seiner Gattin in schneller, befehlshaberischer Mimik noch irgendwelche Anweisungen und stieg ebenfalls ans Land. Die arme Frau kam zuletzt an die Reihe; ganz eingehüllt in ihren indischen Schal, ganz zusammengebückt unter dem großen, schwarzen Hut mit den gelben Rosetten schwankte sie vorwärts, die großen Hände in den kanariengelben Handschuhen von sich streckend. Die beiden hängenden Locken, die ihre liebenswürdige Häßlichkeit umrahmten, nahmen einen besonderen Ausdruck von Resignation an unter dem Schirm des Gatten, der Eigentümer, Inspektor und eifersüchtiger Hüter all dieser Eleganz war.

Die drei stiegen zu dem Bogengang hinauf, durch den die Villa Maironi im Westen den Landungsweg zur Pfarrkirche von Cressogno abschließt. Der Pfarrer und Pasotti sogen zwischen wollüstigen Seufzern einen unbestimmten warmen Duft in die Nase, der aus dem offenen Vestibül der Villa aufstieg.

»Aha, Risotto, Risotto,« flüsterte der Priester, und es leuchtete begehrlich in seinen Augen.

Pasotti mit seiner feinen Nase zuckte die Achseln und runzelte die Stirn in offenbarer Verachtung dieser andern Nase. »Risotto, nein,« sagte er.

»Was, Risotto nein?« rief der Pfarrer pikiert, »Risotto ja. Risotto mit Trüffeln; riechen Sie es nicht?«

Beide blieben inmitten der Vorhalle stehen und schnupperten geräuschvoll wie die Spürhunde.

»Sie, mein bester Kurat, tun Sie mir den Gefallen und sprechen Sie von Posciandra,« sagte Pasotti nach einer langen Pause, auf ein bestimmtes Bauerngericht aus Kohl und Würsten anspielend. »Trüffeln ja, Risotto nein.«

»Posciandra, Posciandra,« brummte der andre ein wenig beleidigt. »Was das anbelangt ...«

Die gute Dame begriff, daß die beiden Streit anfingen, sie entsetzte sich und wies mit dem rechten Zeigefinger mehrere Male gegen die Decke, um anzudeuten, daß man dort oben hören könnte. Ihr Mann hielt ihre Hand in der Luft fest, gab ihr zu verstehen, daß sie riechen sollte, und flüsterte ihr dann in den weitgeöffneten Mund:

»Risotto!«

Sie zögerte, da sie nicht gut gehört hatte.

Pasotti zuckte ungeduldig die Achseln.

»Sie versteht kein Jota,« sagte er, »das Wetter schlägt um,« damit stieg er die Treppe hinauf, gefolgt von seiner Frau. Der dicke Priester wollte noch einen Blick auf Don Francos Boot werfen. ›Nichts von Carabelli,‹ dachte er; gleich wurde er wieder von Frau Barbarin gerufen, die ihn bat, sich bei Tisch neben sie zu setzen. Sie war so ängstlich, das arme Wesen.

Der Dampf der Pfannen füllte auch die Treppe mit lauen Düften. »Risotto nein,« sagte mit leiser Stimme die Avantgarde. »Risotto ja,« erwiderte in demselben Tone der Nachtrab. Und so ging es fort, immer leiser: »Risotto ja, Risotto nein,« bis Pasotti an der Tür des roten Saales, des gewöhnlichen Aufenthalts der Hausherrin, angekommen war.

Ein häßliches, dünnleibiges Hündchen lief kläffend der Frau Barborin entgegen, die versuchte zu lächeln, während Pasotti seine ehrerbietigste Miene aufsteckte, und der Priester als letzter eintretend mit zuckersüßem Gesicht in seinem Herzen das verfluchte Tier zur Hölle wünschte.

»Friend! Hierher! Friend!« sagte gelassen die alte Marchesa. »Meine liebe Frau, lieber Kontrolleur, lieber Kurat.«

Die fette, näselnde Stimme sprach mit demselben Phlegma, in demselben Ton zu den Gästen wie zu dem Hunde. Sie war für Frau Barborin aufgestanden, aber ohne ihr einen Schritt entgegenzugehen, und stand vor dem Kanapee, eine starke, untersetzte Gestalt mit erloschenen und müden Augen unter der Marmorstirn und der schwarzen Perücke, die sie an den Schläfen zu zwei großen Schnecken aufgerollt trug. Das Gesicht mußte einst schön gewesen sein und bewahrte in seiner gelblichen, an antiken Marmor gemahnenden Blässe eine gewisse kühle Majestät, die wie die Stimme, wie den Blick keine Gemütsbewegung je veränderte. Der Priester machte aus der Entfernung zwei oder drei ungelenke Verbeugungen, aber Pasotti küßte ihr die Hand, während Frau Barborin, die sich unter diesem toten Blick erstarren fühlte, nicht wußte, wie sie sich bewegen, noch was sie sagen sollte. Eine andre Dame hatte sich gleichzeitig mit der Marchesa vom Sofa erhoben und blickte hochmütig auf die Pasotti, dieses arme Häufchen Unglück, das in seine neuen Kleider gewickelt war. »Frau Pasotti und ihr Gatte,« stellte die Marchesa vor; »Donna Eugenia Carabelli.«

Donna Eugenia neigte kaum den Kopf. Ihre Tochter Donna Carolina stand am Fenster im Gespräch mit einem Schützling der Marchesa, der Nichte ihres Verwalters.

Die Marchesa hielt es nicht für notwendig, sie zu stören, um sie den Neuangekommenen vorzustellen, und nachdem sie jene zum Sitzen aufgefordert, nahm sie eine gleichgültige Unterhaltung mit Donna Eugenia über gemeinschaftliche Mailänder Bekannte wieder auf, indessen Friend schnuppernd und niesend Frau Pasottis gekampferten Schal umkreiste, sich gegen des Priesters Waden rieb und Pasotti mit seinen feuchten und traurigen Augen anblickte, ohne ihn zu berühren, als ob er wüßte, daß der Besitzer des indischen Schals trotz seines liebenswürdigen Gesichts ihm am liebsten den Hals umgedreht hätte.

Die Marchesa Ursula fuhr fort, mit ihrer fetten, einschläfernden Stimme zu reden, und die Carabelli bemühte sich, beim Antworten ihr lautes, herrisches Organ liebenswürdig zu färben, aber Pasottis durchdringenden Augen und seinem boshaften Scharfblick entging nicht, daß die beiden alten Damen, die Maironi in stärkerem, die Carabelli in geringerem Maße, eine gemeinsame Unzufriedenheit verbargen. Jedesmal, sobald die Tür aufging, wandten sich die erloschenen Augen der einen und die finstern Blicke der andern dorthin. Einmal war es der Präfekt des Santuario della Caravina, der mit dem kleinen Herrn Paolo Sala, genannt der Paolin, und dem großen Herrn Paolo Pozzi, genannt der Paolon, zwei unzertrennlichen Freunden, zusammen eintrat. Ein zweites Mal erschien der Marchese Bianchi aus Oria, ein alter Offizier des Königreichs Italien, mit seiner Tochter; die vornehme Erscheinung eines alten, ritterlichen Soldaten neben einer reizenden, temperamentvollen Mädchengestalt.

Sowohl das erste- wie das zweitemal glitt es wie ein Schatten von Ärger über das Gesicht der Carabelli. Auch ihre Tochter drehte die Augen nach der Tür, wenn sie sich öffnete; aber dann schwatzte und lachte sie lauter als zuvor.

»Und Don Franco, Marchesa? Wie geht es Don Franco?« fragte der boshafte Pasotti mit honigsüßer Stimme und bot dabei der Marchesa die geöffnete Tabaksdose an.

»Danke sehr,« entgegnete die Marchesa, sich ein wenig vorneigend und mit zwei fleischigen Fingern in den Tabak greifend; »Franco? Die Wahrheit zu sagen, ich bin ein bißchen besorgt. Heute morgen fühlte er sich nicht wohl, und jetzt sehe ich ihn nicht. Ich möchte ...«

»Don Franco?« unterbrach sie der Marchese. »Der ist im Boot. Wir haben ihn soeben noch wie einen Matrosen rudern sehen.«

Donna Eugenia klappte den Fächer auf.

»Bravo,« sagte sie, sich hastig fächelnd. »Das ist eine wundervolle Zerstreuung.«

Sie klappte den Fächer hastig zu und nagte mit den Lippen daran.

»Er wird das Bedürfnis nach frischer Luft gehabt haben,« bemerkte die nicht aus dem Gleichmut zu bringende Marchesa durch die Nase.

»Er wird das Bedürfnis nach Wasser gehabt haben,« murmelte der Präfekt der Caravina mit boshaft funkelnden Augen. »Es regnet.«

»Eben kommt Don Franco, Frau Marchesa,« sagte die Nichte des Verwalters, nachdem sie einen Blick hinunter auf den See geworfen hatte.

»Es ist gut,« tönte es aus der schläfrigen Nase. »Ich hoffe, es geht ihm besser. Sonst spricht er keine zwei Worte. Ein kerngesunder Junge, aber nervös. Hören Sie, Kontrolleur, und Herr Giacomo? Warum läßt er sich nicht sehen?«

»Der Herr Zacomo,« begann Pasotti, sich über Herrn Giacomo Puttini lustig machend, einen alten Junggesellen aus Venetien, der seit dreißig Jahren in Albogasio Superiore neben der Villa Pasotti wohnte, »der Herr Zacomo ...«

»Halt,« unterbrach ihn die Dame. »Ich erlaube nicht, daß Sie über die Venezianer spotten, und dann ist es gar nicht wahr, daß man im Venezianischen Zacomo sagt.«

Sie war in Padua geboren, und obwohl sie seit beinahe fünfzig Jahren in Brescia lebte, so war doch ihr lombardischer Dialekt mit gewissen chronischen Patavinitäten behaftet. Während Pasotti noch mit feierlichem Entsetzen protestierte, daß er nur beabsichtigt habe, die Stimme seines geschätzten Nachbars und Freundes nachzuahmen, öffnete sich die Tür ein drittesmal.

Donna Eugenia, wohl wissend, wer eintrat, würdigte den Kommenden keines Blickes, aber die müden Augen der Marchesa richteten sich mit ihrem ganzen Phlegma auf Don Franco.

Don Franco, einziger Erbe des Namens Maironi, war der Sohn eines Sohnes der Marchesa, die mit achtundzwanzig Jahren gestorben war. Die Mutter hatte er bei seiner Geburt verloren, und so hatte er immer unter der Autorität der Großmutter Maironi gestanden. Groß und hager, trug er eine Mähne rotblonder, borstiger Haare, die ihm den Beinamen »Wolkenkehrer« verschafft hatte. Er hatte sprechende Augen von lichtestem Blau, ein mageres, sympathisches Gesicht, das sehr beweglich war, sich leicht färbte und entfärbte. Auf diesem mürrischen Gesicht stand jetzt deutlich geschrieben: »Ich bin hier, aber ihr seid mir höchst lästig.«

»Wie geht's dir, Franco?« fragte die Großmutter und fügte, ohne die Antwort abzuwarten, schnell hinzu: »Höre, Donna Carolina möchte gern das Stück von Kalkbrenner hören.«

»Ach nein, wissen Sie,« sagte die junge Dame, sich mit verdrossener Miene an den jungen Mann wendend, »ich habe es gesagt, ja, aber Kalkbrenner gefällt mir nicht. Ich plaudere lieber mit den jungen Mädchen.«

Franco schien mit dem ihm zuteil gewordenen Empfang zufrieden und begann, ohne Weiteres abzuwarten, mit dem Priester über ein gutes altes Bild zu sprechen, das sie sich zusammen in der Kirche von Dasio ansehen müßten.

Donna Eugenia Carabelli schnaubte Wut. Sie war mit ihrer Tochter erst nach einer geheimnisvollen diplomatischen Verhandlung, an der andre Mächte teilgenommen hatten, von Loveno gekommen. Ob dieser Besuch gemacht werden sollte oder nicht, ob das Dekorum der Familie Carabelli es gestattete, wenn die Wahrscheinlichkeit des Erfolges, den Donna Eugenia verlangte, vorhanden sei, das waren die letzten von der Diplomatie endgültig geregelten Fragen gewesen. Trotz der alten Beziehungen der Mama Carabelli und der Großmama Maironi hatten die jungen Leute sich nur ein paarmal flüchtig gesehen, und es war ihr Reichtum und ihre Vornehmheit, ihre Verwandtschaften und Freundschaften, die sie anzogen, wie ein Tropfen Seewasser und ein Tropfen Süßwasser einander anziehen, obschon die mikroskopischen Lebewesen sowohl des einen wie des andern Tropfens zu sterben verurteilt sind, wenn die beiden sich vereinen. Die Marchesa hatte ihren Punkt gewonnen; anscheinend wegen ihres Alters, tatsächlich wegen ihres Geldes hatte man den Vorschlag angenommen, daß die Zusammenkunft in Cressogno erfolgte. Hatte Franco im eignen Besitz auch nur die dürftige Mitgift der Mutter, achtzehn- oder zwanzigtausend österreichische Lire, so saß die Großmutter mit ihrer phlegmatischen Würde auf einigen Millionen. Donna Eugenia, als sie das Benehmen des jungen Mannes sah, schäumte vor Grimm gegen die Marchesa, weil sie sie und die Tochter einer solchen Demütigung ausgesetzt hatte. Wenn sie mit einem Schlage die Alte, ihren Neffen, das abscheuliche Haus und die verhaßte Gesellschaft hätte fortblasen können, sie würde es mit Freuden getan haben. Aber man mußte sich verstellen, gleichgültig erscheinen, die Schmach und das Essen hinunterwürgen.

Die Marchesa bewahrte ihre äußere kühle Gelassenheit, obgleich sie im Herzen Unwillen und Zorn gegen ihren Enkel nährte. Er hatte vor zwei Jahren gewagt, sie um die Einwilligung zur Heirat mit einer jungen Dame aus dem Valsolda zu bitten, die feingebildet, aber weder reich noch vornehm war. Die bündige Ablehnung der Großmutter hatte die Heirat unmöglich gemacht und die Mutter des Mädchens veranlaßt. Franco nicht mehr in ihrem Hause zu empfangen; aber die Marchesa war fest überzeugt, daß diese Leute noch immer ein Auge auf ihre Millionen hätten. Daher war der Plan in ihr gereift, Franco möglichst schnell eine Frau zu geben, um ihn dieser Gefahr zu entreißen, und sie hatte nach einem Mädchen Umschau gehalten, das reich wäre, aber nicht übermäßig, vornehm, aber nicht übermäßig, klug, aber nicht übermäßig. Als sie eine dieses Schlages ausfindig gemacht hatte, schlug sie sie Franco vor, der außer sich war vor Entrüstung und erklärte, sich nicht verheiraten zu wollen. Die Antwort schien ihr verdächtig, und aufmerksamer als je überwachte sie die Schritte ihres Enkels und jener »Madame Listig«, wie sie liebenswürdigerweise das Fräulein Luisa Rigey nannte.

Die Familie Rigey, nur aus zwei Damen, Luisa und ihrer Mutter bestehend, wohnte in Castello im Valsolda. Es war nicht schwer, sie zu überwachen. Aber selbst die Marchesa konnte hinter nichts kommen. Pasotti hingegen berichtete ihr eines Abends unter erheucheltem Zögern und erkünsteltem Abscheu, daß der Präfekt der Caravina, als er in der Apotheke von San Mamette mit ihm, Pasotti, mit Herrn Giacomo Puttini, mit Paolin und Paolon zu einem Plauderstündchen zusammengekommen sei, folgende schöne Rede gehalten habe: »Don Franco stellt sich so lange zum Spaß tot, bis die Alte es im Ernst sein wird.« Nach Anhörung dieses feinen Witzes antwortete die Marchesa durch ihre gelassene Nase: »Ich danke sehr« und wechselte den Gegenstand der Unterhaltung. Sie erfuhr dann, daß es Frau Rigey, die immer von zarter Gesundheit gewesen, schlecht gehe infolge einer Herzerweiterung, und es schien ihr, als ob Francos Laune darunter litte. Gerade zu dieser Zeit wurde ihr die Carabelli vorgeschlagen. Vielleicht war die Carabelli nicht ganz nach ihrem Geschmack, aber angesichts der andern Gefahr durfte man nicht zögern. Sie sprach mit Franco. Dieses Mal entrüstete Franco sich nicht, er hörte zerstreut hin und sagte, daß er sich die Sache überlegen wollte. Es war vielleicht die einzige Heuchelei seines Lebens. Die Marchesa spielte ein gewagtes Spiel, sie ließ die Carabelli kommen.

Nun sah sie wohl ein, das Spiel war verloren. Don Franco hatte sich zur Ankunft der Damen nicht eingestellt und war dann nur ein einziges Mal auf wenige Minuten zum Vorschein gekommen. Seine Formen waren während dieser wenigen Minuten höflich gewesen, sein Gesicht nicht. Seine Mienen hatten wie gewöhnlich so deutlich gesprochen, daß die Marchesa, indem sie ihm, wie sie es sofort tat, ein Unwohlsein andichtete, niemand zu täuschen vermochte. Dennoch überzeugte sich die alte Dame nicht, daß sie schlecht gespielt hatte. Schon von der Zeit der ersten selbständigen Gedankentätigkeit an hatte sie sich auf den Standpunkt gestellt, sich niemals einen Fehler oder ein Unrecht einzugestehen, sich niemals freiwillig in ihrem edeln und bevorzugten Selbst zu verletzen. Jetzt gefiel es ihr anzunehmen, daß nach ihrer Ehestandsrede dem Enkel auf geheimnisvollem Wege ein zärtliches, anlockendes und giftiges Wörtchen zugegangen sei.

Was ihr in ihrer Enttäuschung einen kleinen Trost gewährte, war das Benehmen des Fräuleins Carabelli, die ihren Verdruß nur mühsam verhehlte. Das gefiel der Marchesa nicht. Der Präfekt der Caravina hatte vielleicht nur in der Form ein wenig unrecht, als er leise von ihr sagte:

»Die ist ein österreichisches Dirnchen ...«

Wie das alte Österreich in jener Zeit, so liebte auch die alte Marchesa in ihrem Reich die lebhaften Geister nicht. Ihr eiserner Wille duldete keinen andern neben sich. Ihr war schon ein widerspenstiger Lombardo-Venezianer wie Herr Franco zu viel, und die Tochter Carabelli, die aussah, als hätte sie eigne Gefühle und eignen Willen, wäre wahrscheinlich dem Hause Maironi eine unbequeme Untertanin geworden, ein aufrührerisches Ungarn.

Es wurde gemeldet, daß angerichtet sei. In dem glatt rasierten Gesicht und der schlecht sitzenden grauen Livree des Dieners spiegelten sich die aristokratischen, durch ökonomische Gewohnheiten gedämpften Anschauungen der Marchesa.

»Und Herr Giacomo, Kontrolleur?« fragte sie, ohne sich zu rühren.

»Ich fürchte, Marchesa ...« antwortete Pasotti. »Ich bin ihm heute morgen begegnet und sagte zu ihm: ›Also, Herr Giacomo, wir sehen uns heute beim Mittagessen?‹ Es war, als ob er eine Schlange im Leibe hätte. Er wand sich und stotterte: ›Ja, ich glaube, ich weiß nicht, vielleicht, ich sage nicht, pff, sehen Sie, wahrhaftig, bester Kontrolleur, ich weiß nicht, pff!‹ Weiter war nichts aus ihm herauszubringen.«

Die Marchesa winkte dem Diener und sagte leise ein paar Worte zu ihm. Dieser verbeugte sich und zog sich zurück.

Der Pfarrer von Puria rückte auf seinem Stuhl und strich sich die Knie in sehnsüchtiger Erwartung des Risotto, aber die Marchesa schien wie versteinert auf dem Kanapee, und so erstarrte auch er. Die andern sahen sich gegenseitig stumm an.

Die arme Frau Barborin, die den Diener gesehen hatte und erstaunt war über diese Unbeweglichkeit, über die verblüfften Gesichter, zog die Augenbrauen in die Höhe und fragte mit den Augen bald ihren Mann, bald den Pfarrer, bald den Präfekten, bis ein niederschmetternder Blick von Pasotti auch sie versteinerte.

›Wenn das Essen verbrannt wäre!‹ dachte sie und versuchte, ein gleichgültiges Gesicht zu machen. ›Wenn sie uns nach Hause schickten! Welches Glück!‹ Zwei Minuten später kam der Diener zurück und machte eine Verbeugung.

»Gehen wir,« sagte die Marchesa und erhob sich.

Die Gesellschaft fand im Speisesaal eine neue Persönlichkeit vor, ein kleines, gebücktes, altes Männchen mit zwei gutmütigen Äuglein und einer langen, über das Kinn hängenden Nase.

»In Wahrheit, Frau Marchesa,« sagte er ganz schüchtern und unterwürfig, »habe ich schon gespeist.«

»Nehmen Sie Platz, Herr Viscontini,« erwiderte die Marchesa, die die anmaßende Kunst des Taubseins auszuüben verstand wie alle Menschen, die sich unter allen Umständen eine Welt nach ihrer Bequemlichkeit und nach ihrem Geschmack zimmern.

Das Männchen wagte keine Antwort zu geben, wagte aber auch nicht, sich zu setzen.

»Nur Mut, Herr Viscontini!« sagte Paolin zu ihm, der neben ihm stand. »Was machen Sie?«

»Er macht das vierzehnte Couvert,« murmelte der Präfekt. In der Tat war der ehrenwerte Herr Viscontini, seines Zeichens Klavierstimmer, am Morgen von Lugano gekommen, um das Klavier der Herrschaften Zelbi aus Cima und das Don Francos zu stimmen; um ein Uhr hatte er im Hause Zelbi zu Mittag gegessen und war dann nach der Villa Maironi gekommen, wo er Herrn Giacomo vertreten mußte, weil es sonst dreizehn Tischgenossen gewesen wären.

Eine braune Flüssigkeit dampfte in der silbernen Suppenschüssel.

»Risotto nein,« flüsterte Pasotti, als er hinter dem Pfarrer vorbeiging. Das feiste, freundliche Gesicht gab kein Zeichen, daß er gehört hatte.

Die Diners im Hause Maironi hatten immer etwas feierlich Langweiliges, und das heutige ließ sich noch steifer an als gewöhnlich. Zur Entschädigung war es aber auch viel feiner. Pasotti und der Pfarrer wechselten beim Essen häufig Blicke miteinander, um ihre Bewunderung auszudrücken und sich gegenseitig zu dem exquisiten Genusse zu gratulieren, und wenn je einmal einer von Pasottis Blicken dem Pfarrer entging, so machte Frau Barborin, seine Tischnachbarin, ihn durch ein leises Berühren des Ellbogens aufmerksam.

Die Kosten der Unterhaltung wurden zum größten Teil von dem Marchese und Donna Eugenia getragen. Die große aristokratische Nase Bianchis, sein seines, den galanten Kavalier verratendes Lächeln wandten sich häufig an die schwindenden, aber noch nicht entschwundenen Reize dieser Dame. Beide Mailänder von vornehmstem Geblüt, fühlten sie sich verbunden durch eine gewisse Überlegenheit, nicht nur über die kleinen Spießbürger an der Tafelrunde, sondern auch über die Wirte des Hauses, Provinzadel. Der Marchese war die Liebenswürdigkeit selbst und hätte sich auch mit dem bescheidensten der Tischgenossen liebenswürdig unterhalten; aber Donna Eugenia, in der Bitterkeit ihrer Seele, in ihrem Widerwillen gegen den Ort und die Menschen, heftete sich an ihn als den einzigen, den sie ihrer würdig hielt, absichtlich, auch um die andern zu ärgern. Sie setzte ihn in Verlegenheit, indem sie ganz laut zu ihm sagte, daß sie nicht begriffe, wie er sich in dieses fürchterliche Valsolda habe verlieben können. Der Marchese, der sich vor langen Jahren zu einem beschaulichen Leben hierher zurückgezogen hatte, wo auch seine einzige Tochter, Donna Ester, geboren wurde, geriet zunächst etwas außer Fassung bei diesen für verschiedene der Gäste so verletzenden Worten, dann aber schwang er sich zu einer beredten Verteidigung für den Ort auf. Die Marchesa zeigte keine Erregung; der Paolin, der Paolon und der Präfekt, alle drei Valsolder, schwiegen mit verdrossenen Gesichtern.

Pasotti sang in schwülstigen Ausdrücken das Lob der »Niscioree«, der Villa Bianchi bei Oria. Bianchi, ein rechtschaffener Mann, der in früheren Zeiten nicht allzu rühmliche Erfahrungen mit Pasotti gemacht hatte, schien durch dieses Lob nicht sehr angenehm berührt. Er lud die Carabelli nach Niscioree ein.

»Zu Fuß machst du's nicht, Eugenia,« sagte die Marchesa, die wußte, daß ihre Freundin immer in der Furcht lebte, zu dick zu werden. »Man muß sehen, wie eng der Weg von der Steuerkontrolle nach Niscioree ist! Du kommst sicher nicht durch.«

Donna Eugenia widersprach entrüstet. »Es ist allerdings nicht der Korso von Porta Renza,« sagte der Marchese, »aber es ist – leider – auch nicht der Weg zum Paradiese.«

»Das nicht! Wahrhaftig nicht! Das kann ich Ihnen sagen!« rief Viscontini, den der reichliche Genuß des Ghemmer Weines unglücklicherweise in Eifer gebracht hatte. Aller Augen richteten sich auf ihn, und Paolin flüsterte ihm etwas zu.

»Ob ich verrückt bin?« entgegnete das Männchen mit gerötetem Gesicht. »Kein Gedanke. Ich sage Ihnen, daß mir in meinem ganzen Leben keine elendere Gesellschaft begegnet ist.« Und nun erzählte er, wie er des Morgens, als er, von Lugano kommend, im Boot gefroren habe, bei Niscioree ausgestiegen sei, um die Reise zu Fuß fortzusetzen; wie er zwischen den beiden Mauern, wo man nicht einen Esel umdrehen kann, den Zollwächtern begegnet sei, die ihn insultierten, weil er nicht bei der Steuerkontrolle gelandet sei, wie sie ihn zu der verwünschten Zollstation geführt hätten, und wie der Esel von Steuereinnehmer ihm eine geschriebene Notenrolle, die er in der Hand getragen, und deren chromatische Zeichen er für politische Geheimkorrespondenzen gehalten, abgenommen habe.

Tiefes Schweigen. Nach einigen Augenblicken entschied die Marchesa, daß Herr Viscontini absolut im Unrecht sei. Er durfte sich nicht bei Niscioree ausschiffen, das war verboten. Was den Herrn Steuererheber beträfe, so sei er eine sehr ehrenwerte Person. Pasotti bekräftigte mit strengem Gesicht: »Ein ausgezeichneter Beamter.« »Ausgezeichneter Schuft,« murmelte der Präfekt zwischen den Zähnen. Franco, der anfangs an ganz andres zu denken schien, schüttelte sich und warf Pasotti einen verächtlichen Blick zu.

»Außerdem,« fuhr die Marchesa fort, »finde ich, daß man unter dem Vorwand geschriebener Noten sehr gut imstande wäre ...«

»Zweifellos,« bemerkte Paolin, der es aus Furcht mit den Österreichern hielt, während die Marchesa es aus Überzeugung tat.

Der Marchese, der im Jahr 1815 den Degen zerbrochen hatte, um den Österreichern nicht zu dienen, lächelte und sagte nur:

» Là! C'est un peu fort!«

»Aber jeder weiß doch, daß er ein Dummkopf ist, dieser Steuereinnehmer,« rief Franco.

»Bitte um Verzeihung, Don Franco,« versetzte Pasotti.

»Was, Verzeihung!« unterbrach ihn der andre. »Ein großer Esel ist er!«

»Er ist ein gewissenhafter Mensch,« sagte die Marchesa. »Ein Beamter, der seine Pflicht tut.«

»Dann sind seine Vorgesetzten Dummköpfe!« gab Franco zurück.

»Lieber Franco,« entgegnete die phlegmatische Stimme, »solche Reden werden in meinem Hause nicht geführt. Gott sei Dank sind wir hier nicht in Piemont.«

Pasotti stimmte mit höhnischem Lachen zu. Da ergriff Franco wütend seinen Teller mit beiden Händen und zerschlug ihn auf dem Tisch.

»Jesus Maria!« schrie Viscontini auf, und Paolon, der in seiner mühevollen Beschäftigung des Kauens mit zahnlosem Munde unterbrochen wurde, machte: »O! o!«

»Jawohl,« sagte Franco, mit verzerrtem Gesicht sich erhebend, »es ist besser, daß ich gehe!« Und er verließ den Saal. Gleich darauf fühlte sich Donna Eugenia schlecht, und man mußte sie hinausführen. Alle Damen, mit Ausnahme der Pasotti, folgten ihr, während von der entgegengesetzten Seite der Diener mit einer Risottopastete eintrat. Der Pfarrer sah Pasotti mit triumphierendem Lachen an, aber Pasotti tat, als bemerke er es nicht. Alle waren von ihren Plätzen aufgestanden.

Viscontini, der scheinbar Schuldige, fuhr fort zu sagen: »Ich verstehe nicht, ich verstehe nicht,« und Paolin, der sich schwer wegen des gestörten Mittagessens ärgerte, brummte: »Was hätten Sie je verstanden?«

Der Marchese schwieg verstimmt.

Endlich sagte Pasotti, der in Wahrheit Schuldige, mit affektiert betrübter Miene, wie zu sich selbst sprechend: »Schade! Armer Don Franco! Ein Herz von Gold, ein kluger Kopf und ein so unglückliches Temperament! Wirklich schade!«

»Ja, aber,« sagte Paolin. Und der Pfarrer ganz zerknirscht: »Das ist sehr bedauerlich!«

Man wartete und wartete. Die Damen kamen nicht zurück. Schließlich fing man an aufzubrechen. Paolin und der Pfarrer näherten sich, die Hände auf dem Rücken, langsam dem Büffet und nahmen die Risottopastete in Augenschein.

Der Pfarrer rief Pasotti mit leiser Stimme, aber Pasotti regte sich nicht.

»Ich wollte Ihnen nur sagen,« meinte der Priester, seinen Triumph durchblicken lassend, »daß weiße Trüffeln dran sind.«

»Ich würde denken, daß auch die schwarzen nicht fehlen,« bemerkte der Marchese, einen besonderen Nachdruck auf die beiden Worte legend.


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