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Zehntes Kapitel.
Jesus Maria, Sora Luisa!

Zu früher Nachmittagsstunde kehrte Luisa am 27. September aus Porlezza mit einigen Schriftstücken, die sie für den Notar zu kopieren hatte, zurück. Zu jener Zeit bewahrten die Klippen zwischen San Michele und Porlezza noch ihre ursprüngliche Wildheit; der schmale Saumpfad, der sie heute gangbar macht, existierte damals noch nicht. Luisa hatte sich die kurze Strecke im Boot übersetzen lassen und dann zu Fuß den Weg auf der engen Straße eingeschlagen, die wie alle jene Straßen meiner kleinen alten und neuen Welt keine andre Reiseart zuläßt; diese anmutige und boshafte Straße, die es auf alle Weise versucht, nie dorthin zu führen, wohin der Wandrer möchte. Bei Cressogno geht sie oberhalb der Villa Maironi entlang, ohne daß man die Besitzung von dort sehen kann.

›Wenn ich ihr begegnete!‹ dachte Luisa, und ihr Blut geriet aufs neue in Wallung. Aber sie begegnete niemand.

Auf der steilen Höhe von Cressogno bei dem Campo brannte die Sonne. Als sie das frische Höhental, das das Campo heißt, erreicht hatte, setzte sie sich in den Schatten der Riesenkastanie, der letzten überlebenden von drei oder vier altehrwürdigen Patriarchen. Sie blickte auf die Häuser ihres Geburtsortes Castello, die sich kreisförmig um eine hohe Spitze der schattigen Felsenklippen gruppierten, und sie dachte ihrer armen Mutter und fand Trost in dem Gedanken, daß wenigstens sie den Frieden hatte, als sie plötzlich durch den Ruf: »O teure Madonna!« aufgeschreckt wurde.

Es war die Sora Peppina, die gleichfalls von Cressogno kam, verzweifelt, daß sie weder in San Mamette noch in Loggio noch in Cressogno hatte frische Eier auftreiben können. »Jetzt wird er mich schlagen, der Carlo! Umbringen wird er mich geradezu, meine Liebste!«

Sie hatte auch noch nach Puria gehen wollen, aber sie war halbtot vor Müdigkeit. Was für ein abscheuliches Land! Diese erbärmlichen Straßen! Diese spitzigen Steine! »Wenn ich an mein Mailand denke, meine Beste!«

Sie setzte sich neben Luisa ins Gras, sagte ihr tausend Zärtlichkeiten und wollte, daß sie erraten solle, mit wem sie gerade von ihr gesprochen habe. Aber gewiß, mit der Frau Marchesa! Ganz gewiß!

»Ah, meine Teuerste! Die Welt! Die Welt!«

Es schien, als hätte die Peppina sehr Wichtiges zu sagen und wagte es nicht, aber als läge es ihr auf der Zunge und sie wartete nur darauf, daß man sie ihr gewaltsam löste. »Was für Sachen!« rief sie einmal über das andre. »Was für Sachen! Was für 'ne Rede! Die Welt, die Welt!«

Luisa schwieg noch immer. Da konnte jene dem Verlangen nicht widerstehen und sprudelte alles heraus, was sie auf dem Herzen hatte. Sie war zum Koch der Frau Marchesa gegangen, um sich Eier zu leihen.

Die Frau Marchesa hatte, als sie ihre Stimme erkannte, sie durchaus sehen und sie zu einem Plauderstündchen zurückhalten wollen, da war es plötzlich wie eine Eingebung des Himmels über sie gekommen: sprich von diesen armen Menschen! Vielleicht ist der Augenblick günstig. Sprich von Maria, »dem lieben Kerlchen, dem guten Mäuschen, dem herzigen Wurm!« Ach, es war eine Eingebung des Teufels und nicht des Himmels gewesen. Sie hatte angefangen von ihr zu sprechen, sie war im Begriff gewesen, zu erzählen, wie schön sie sei, wie lieb und was für eine staunenswerte, unglaubliche Klugheit; da hatte die Abscheuliche sie mit einem so gleichgültigen Gesicht unterbrochen: »Lassen Sie gut sein, Frau Bianconi, ich weiß, daß sie sehr schlecht erzogen ist, und anders kann es auch nicht sein.« Darauf hatte sie versucht, eine andre Note anzuschlagen, und von dem Unglück des Herrn Ingenieurs gesprochen, der auf einem Auge erblindet war. Und die Marchesa: »Wer nicht ehrlich ist, den züchtigt der Herr.«

Als die Peppina jetzt Luisa anblickte, bereute sie ihre Redseligkeit. Sie streichelte sie, schalt sich geschwätzig und bat sie, sich zu beruhigen.

Luisa versicherte sie, daß sie absolut ruhig sei, und daß nichts von seiten dieser Person sie überrasche.

Die Peppina wollte ihr unter allen Umständen einen Kuß geben und entfernte sich, einmal über das andre: »Ah, ich Ärmste« vor sich hinmurmelnd, und mit dem vagen Gefühl, auch ohne Eier einen großen Salat angerichtet zu haben.

Luisa erhob sich, wandte sich, um nach Cressogno hinüberzuschauen und drohte mit der Faust: ›Wenigstens eine Reitgerte!‹ dachte sie. ›Wenigstens sie durchpeitschen!‹ Der Gedanke einer Begegnung, dieser alte Gedanke, der sie schon vor vier Jahren am Begräbnistage ihrer Mutter in zuckende Leidenschaft versetzt, derselbe Gedanke, der ihr kurz zuvor erst durch den Kopf gegangen war, als sie an Cressogno vorüberkam, ergriff sie von neuem mit solcher Heftigkeit, daß sie einen Schritt nach dem Abhang tat. Gleich darauf blieb sie wieder stehen und ging langsam zurück in der Richtung nach San Mamette, jeden Augenblick im Nachdenken stehen bleibend, mit umwölkter Stirn und zusammengepreßten Lippen, um einige Knoten in dem Gewebe, an dem sie im geheimen spann, aufzulösen.

In Casarico ging sie zum Professor, um ihm und seiner Verlobten für den folgenden Tag um zwei Uhr in ihrem Hause eine Zusammenkunft vorzuschlagen. Beim Abschied fragte sie ihn, ob er noch die Schriftstücke Maironi besitze.

Der Professor, erstaunt über diese unerwartete Frage, bejahte und erwartete eine Erklärung.

Aber Luisa ging fort, ohne weiteres zu sagen. Es drängte sie, nach Hause zu kommen, da sie für die Beaufsichtigung von Maria weder auf den Onkel noch auf Cia zählen konnte und zu der gekündigten kleinen Dienstmagd wenig Vertrauen hatte. Sie fand Maria auf dem Kirchplatz allein und schalt Veronika dafür. Dann ging sie in ihr Zimmer und begann einen Brief an Franco.

Sie hatte ungefähr fünf Minuten geschrieben, als sie ein leichtes Klopfen gegen das Fenster des kleinen Nebenzimmers hörte. Dieses Fenster ging auf eine kleine Treppe, die vom Kirchplatz zu gewissen Ställen und von da auf einen Abkürzungsweg nach Albogasio Superiore führte. Luisa ging in das Zimmer und sah vor dem Fenstergitter das rote, atemlose Gesicht der Pasotti, die ihr durch Zeichen bedeutete, zu schweigen, und sie fragte, ob sie Besuch hätte. Als Luisa verneinte, warf Frau Barborin zwei hastige Blicke nach oben und nach unten, lief die Treppe hinunter und trat heftig zitternd in das Haus.

Arme Frau; sie befand sich auf verbotenem Terrain und sah im Geiste überall das Gespenst des wutschnaubenden Pasotti. Pasotti war in Lugano. Himmlischer Vater, ja, er war in Lugano! Nachdem sie Luisa diese Nachricht mitgeteilt, fing das unglückliche Geschöpf an, die Augen zu verdrehen und in förmliche Zuckungen zu verfallen. Pasotti war wegen des morgigen großen Diners in Lugano, wegen der Einkäufe. Wie, Luisa wußte nichts von diesem Mittagessen? Sie wußte nicht, wer daran teilnehmen würde? Aber die Marchesa, die Frau Marchesa Maironi!

Luisa fuhr zusammen.

Die Pasotti mißverstand den Ausdruck ihrer Augen, sie glaubte einen Vorwurf darin zu lesen und fing an zu weinen; mit den Händen das Gesicht bedeckend und ihre beiden armen schwarzen Locken schüttelnd, sprach sie durch die Hände; sie sagte, daß sie einen Zorn hätte, einen Zorn! Ein Jahr bei Wasser und Brot würde sie lieber gelebt haben, als die Marchesa zum Essen einladen! Dieses Mittagessen war gewiß eine große Last für sie wegen all der Sachen, die zu bedenken waren, der Mühe der Vorbereitung und der unerträglichen Vorwürfe von seiten Pasottis, aber das größte Kreuz war doch der Gedanke, Luisa damit zu kränken! Wenn es sich noch um ein dem Herrn wohlgefälliges Opfer gehandelt hätte! Aber nein, sie war gar zu zornig. Sie war eigens gekommen, ihrer teuren Luisa zu sagen, was sie wegen dieses Mittagessens litt.

»Verzeihen Sie mir, Luisa,« sagte sie mit ihrer verschleierten Stimme, die aus einem alten, geschlossenen Spinett zu kommen schien. »Ich kann wirklich nichts, nichts, gar nichts dafür!«

Sie saßen nebeneinander auf dem Kanapee. Die Pasotti zog ein umfangreiches Taschentuch aus der Tasche, drückte es mit einer Hand gegen die Augen, während sie mit der andern, ohne den Kopf zu wenden, nach Luisas Hand suchte.

Aber Luisa stand auf, ging zum Schreibtisch und schrieb auf ein Stück Papier: »Um welche Zeit kommt die Marchesa? Welchen Weg nimmt sie?«

Die Pasotti antwortete, daß das Essen um halb vier stattfinden und die Marchesa so gegen drei an der Landungsstelle der Calcinera aussteigen werde, wo Pasotti sich mit vier Männern und der berühmten Sänfte einfinden würde, die im vorigen Jahrhundert einem Erzbischof von Mailand gedient hatte.

Luisa lauschte eifrig auf jedes Wort, ohne daß sie sprach. Bevor sie ging, sagte die Pasotti, daß sie gern dem geliebten Goldkind, der Maria, einen Kuß gegeben hätte, daß sie aber fürchtete, sie würde nicht reinen Mund halten können. Dabei ließ die gute Dame ihren linken Arm zur Hälfte in ihrer Tasche verschwinden, brachte ein kleines Metallschiffchen zum Vorschein und bat Luisa, es ihrem Töchterchen im Namen eines andern alten Wracks zu geben, das nicht genannt sein wollte. Dann eilte sie die Treppe hinunter und verschwand.

Luisa kehrte zu dem angefangenen Brief an Franco zurück, und nachdem sie mit der Feder in der Hand lange Zeit in Nachdenken versunken dagesessen hatte, schob sie ihn beiseite, ohne ein Wort geschrieben zu haben, nahm die Akten des Notars vor und begann abzuschreiben.

Bei Tisch sprach sie kein Wort. Die Mahlzeit verlief trübselig, auch weil Cia eine unangebrachte Bemerkung über das Fehlen des Käses in der Suppe machte, die so ihrem Herrn nicht schmecken könnte; und ihr Herr wurde böse, schalt sie eine Törin und meinte, wenn an der Suppe der Käse fehlte, so fehle ihr selbst das Salz.

»Ja, ja,« murmelte Cia, »werden Sie nur mit mir böse.«

Die Angelegenheit rührte so viel bittere Gedanken auf, von denen es überflüssig war zu sprechen, daß niemand weiter ein Wort sagte. Nur Maria konnte sich nicht enthalten, nach einigen Minuten mit weisem Gesichtchen zu bemerken: »Weil wir kein Geld haben, nicht wahr, Mama, darum können wir keinen Käse an die Suppe tun?«

Ihre Mutter küßte sie und sagte ihr, sie solle still sein. Die Kleine schwieg selbstzufrieden.

Das Fenster war offen, man hörte von der Straße nach der Treppe des Pomodoro das Geräusch lauter Stimmen, und Luisa erkannte deutlich Pasottis Stimme, der zweifellos mit den Einkäufen aus Lugano heimkehrte und absichtlich so laut sprach, um im Haus Ribera gehört zu werden.

Nach Tisch setzte Onkel Piero sich in seinen Armstuhl in der Loggia und nahm Maria auf den Schoß. Luisa ging hinaus auf die Terrasse. Vor dem von der Sonne vergoldeten Bisgnago lag die Küste von Valsolda fast ganz im Schatten. Ganz in der Ferne leuchtete auf der grünen Spitze, die die Berge von Tention und die Olivenwälder von Cressogno überragt, das Sanktuarium der Caravina außerhalb des Schattens in den blauen See. Luisa blickte mit dem Ausdruck stolzer Zufriedenheit dort hinüber. Ah, Herr Pasotti, wenn Euer Essen eine Rache sein soll, so habt Ihr sie schlecht ausgedacht!

Ihr Entschluß war gefaßt. Das Schicksal selbst bot ihr die Hand zu dieser Begegnung mit der alten Schurkin! Kein Zweifel noch Bedenken stieg in ihr auf. Die seit so lange in ihr genährte, gehegte und gepflegte Leidenschaft hatte jene Kraft in ihr aufgespeichert, die, wenn das Maß voll ist, auf einen Schlag den Gedanken in die Tat umsetzt, so daß dem Handelnden das Gefühl der Verantwortlichkeit genommen zu sein scheint, und er nur von neuem sich angetrieben fühlt, der inneren Versuchung nachzugeben.

Ja, morgen, sei es an der Landungsbrücke oder auf der Calcinera oder auf dem Kirchplatz der Annunciata, würde sie der Marchesa mit Verachtung gegenübertreten, würde sie ihr ins Gesicht den Krieg erklären, würde sie ihr raten, auf ihrer Hut zu sein, weil man mit allen gesetzmäßigen Waffen gegen sie kämpfen werde. Ja, das würde sie sagen, und das würde sie tun, sie selbst, allein, da Franco es nicht wollte. Wenn Franco etwas versprochen, sie hatte nichts versprochen.

Sie ging in die Loggia zurück, plauderte mit dem Oheim, scherzte mit Maria, heiterer, als sie es seit vielen Monaten getan hatte. Später schrieb sie ein Billett an den Freund, Rechtsanwalt V., ihn bittend, sobald es ihm möglich sei, zu ihr zu kommen. Sie wollte von ihm erfahren, in welcher Weise sie die in Gilardonis Besitz sich befindenden Urkunden benutzen könnte. Dann machte sie sich wieder an die Abschriften für den Notar von Porlezza. Maria war nicht einverstanden mit den vielen Schreibarbeiten der Mutter; als die Mama ihr sagte, daß sie schreibe, damit sie Käse in des Onkels Suppe tun könnte, hatte sie sich jedoch beeilt zu antworten: »Und in meine auch, nicht wahr, Mama?«

Als sie ins Bett gelegt war und sah, daß die Mama gleich wieder an ihre Arbeit ging, fiel ihr ein, zu fragen, ob die Großmama in Cressogno Käse in der Suppe habe.

»Sie hat zu viel,« antwortete Luisa, »und man muß ihn ihr fortnehmen, damit er ihr nicht schlecht bekommt.«

»Ach, nein, ihr nicht fortnehmen, arme Großmama!«

»Sei still, schlafe!«

Aber das Kind schlief nicht ein.

Nach einem Weilchen war es Luisa, als hörte sie sie weinen. Sie stand auf und sah nach. Wirklich weinte Maria ganz leise.

»Was fehlt dir?«

»Papa!« schluchzte die arme Kleine. »Mein Papa!«

»Dein Vater kommt, Liebling, sehr bald wird er kommen. Jetzt schlafe ein und träume recht schön, so einen schönen Traum, daß der Papa zusammen mit dem König Viktor Emanuel kommt, und Mama und Cia kochen einen schönen Risotto, den du so gern ißt, und daß du sagst: Es lebe der König! Und daß der König antwortet: Keine Spur, es lebe Ombretta Pipi und ihr Papa! So, weißt du, jetzt mußt du es auch träumen.«

»Ja, Mama, ja.«

*

Am folgenden Tag erschien der Professor Beniamino eine Stunde vor der ihm von Luisa angegebenen Zeit in Oria. Seit Esters Jawort war der Mann völlig verwandelt. Er schien viel jünger als zuvor. Die gelbliche Farbe seiner Haut, die jetzt ein inneres rosenfarbenes Licht durchleuchtete, war fast ganz geschwunden, bis auf den Schädel, von dem Luisa meinte, daß dort gewiß eines schönen Tages die Haare wieder keimen würden. Er ging, er atmete nicht mehr wie früher. Sein Gang, sein Atem war unruhig, nervös, durch plötzliches Zusammenzucken unterbrochen, das blitzartigen Vorstellungen entsprach, Gott weiß, welchen Vorstellungen unter diesem glänzenden Schädel. Wie seine Augen leuchteten, ist nicht zu beschreiben. Nur wenn sie Ester anschauten, zogen sie sich zusammen, hüllten sie sich in fromme Zärtlichkeit, als fürchtete der Professor, wenn er das ganze Feuer seiner Seele ohne Vorsichtsmaßregeln über sie ergösse, die Auserwählte zu Asche zu verbrennen. Diese Art angeblickt zu werden war Ester unbehaglich, und Luisa, die Beraterin des Professors, hatte den Mut, ihm zu sagen, daß er seine Verlobte nicht mit zusammengekniffenen Augen, wie die verliebten Hunde es tun, anzusehen brauche.

Der Ärmste versprach, daß er versuchen wolle, es nicht wieder zu tun, aber er tat es dennoch. Luisa war immer seine Schutzgöttin, das Orakel, das er sogar befragte, wie er sich bei den Unterhaltungen mit seiner Verlobten zu benehmen habe. In seiner Bescheidenheit war er glücklich, nur aus einem Gefühl der Hochachtung angenommen worden zu sein. Der Gedanke, daß Ester ihn mit wirklicher Liebe lieben könnte, schien ihm eine lächerliche Anmaßung. Und daher seine stete Furcht, einen Mißgriff zu begehen, sie zu verletzen. Ein Zweifel, der ihn quälte, war: ob es richtig sei, einen Kuß zu wagen oder nicht? Sobald dieser Zweifel ihm aufgestiegen, unterbreitete er ihn Luisa, und Luisa, die verkörperte Weisheit, hatte ihm geantwortet: »Nein, jetzt ist es noch zu früh. Der erste Kuß darf weder zu früh noch zu spät kommen.« Die Möglichkeit des »zu spät« erschien dem Professor so schrecklich und unerträglich, daß er seine Unterhaltungen mit dem Orakel, nachdem er über hundert verschiedene Dinge sich Rats geholt hatte, regelmäßig mit der inhaltschweren Frage schloß: »Und dieser Kuß?« Luisa, bei ihrer Neigung, das Komische auch bei den Menschen, die sie gerne mochte, herauszusuchen, amüsierte sich teils darüber, teils fürchtete sie in der Tat, daß eine physische Abneigung Esters sich bei Gelegenheit allzu heftig dokumentieren und die ganze Sache verderben könnte. Sie gewahrte zum Glück, daß der Professor seiner Verlobten immer weniger häßlich erschien. Daher kam es ihr in den Sinn, als sie ihn so zeitig eintreten sah, daß heute, da sie ihn nachher mit Ester allein lassen würde, um der Großmutter zu begegnen, der geeignete Tag »für den Kuß« sein könnte.

Aber der Professor zeigte sich sehr verstimmt. Er hatte schlechte Nachrichten. In San Mamette erzählte man, daß der Arzt aus Pellio verhaftet und nach Como überführt worden sei, daß man Briefe und Schriften bei ihm gefunden habe, die für andre, unter denen man Don Franco Maironi nannte, kompromittierend seien.

»Francos wegen bin ich unbesorgt. Im übrigen, Professor, heißt das nichts andres, als daß wir auch diesen Doktor aus Pellio dem Kaiser von Österreich auf die Rechnung setzen werden; er ist ein stattlicher Mensch und wiegt eine ganze Masse. Aber an einem Tag wie heute wollen wir nicht Trübsal blasen. Heute ist der Tag Ihres Kusses.«

»Ah, wirklich? wirklich?« fragte der Professor ganz rot und atemlos. »Meinen Sie es im Ernst, Frau Luisa? Ganz im Ernst?«

Ja, sie hatte im Ernst gesprochen. Sie setzte ihm auseinander, daß, wenn Ester, wie sie gesagt hatte, um zwei käme, sie sie nach einer halben Stunde sich selbst überlassen würde. In der Loggia hielt sich der Onkel immer auf, aber es war nicht nötig, ihn zu inkommodieren. Sie konnten im Saal bleiben.

»Und dann schreiten sie mit heiterem Mute zur Tat,« sagte sie. »Aber vorher möchte ich von Ihnen ein Versprechen haben.«

»Was für ein Versprechen?«

»Ich brauche die berühmten Schriftstücke.«

»Jederzeit.«

»Geben Sie acht: ich fordere sie von Ihnen, nicht Franco.«

»Ja, ja. Was Sie tun, ist immer gut und richtig. Morgen bringe ich Ihnen die Papiere.«

»Bravo.«

Luisa sprach, das Strickzeug in der Hand, mit einem Anschein von heiterer Ruhe, der durchaus nicht ihre innere Erregung zu verdecken vermochte, die, mit dem vorhergehenden Tage begonnen, durch Schlaflosigkeit zugenommen hatte und immer mehr stieg, je näher der Augenblick ihres Fortgehens rückte. Selbst in dem heiteren Ton ihrer Stimme zitterte eine ungewohnte Saite. Ihre Haare, die immer mit peinlicher Sorgfalt geglättet waren, zeigten einen Schatten von Unordnung, als habe ein leichter Windhauch ihre Stirn berührt. Der Professor bemerkte nichts, er ging in die Loggia, um sich von dem Ingenieur Rats zu holen wegen eines kleinen Hafenbeckens, das er am oberen Teil seines Gartens anlegen wollte, um sich ein Boot zu halten. Maria hielt sich auch in der Loggia auf und nahm den regsten Anteil an Herrn Ladronis zukünftigem Boot. Sie erzählte ihm, daß sie auch eines besäße, lief und holte es, zeigte es ihm, und der Professor scherzte mit ihr und bat sie, ihn in ihrem Boot nach Lugano zu begleiten.

»Du bist zu groß, weißt du!« sagte sie. »Meine Puppe, ja die werde ich im Boot spazieren fahren!«

»Ach, Unsinn!« sagte der Onkel. »Das Boot da kann nur untergehen.«

»Nein!«

»Ja!«

Ombretta wurde ganz böse und lief ins Zimmer, um das Schiffchen in der Waschschüssel schwimmen zu lassen, aber im Waschbecken war kein Wasser, und recht verdrießlich kehrte die Kleine, das Schiffchen im Arm, in den Saal zurück; sie ging nicht wieder zum Onkel.

Ester erschien um dreiviertel auf zwei. Sie sagte, sie habe es donnern gehört und sei deswegen früher gekommen. Donnern? Luisa ging sofort hinaus auf die Terrasse, um nach dem Himmel zu sehen. Es sah nicht gerade drohend aus. Über dem Picco di Cressogno und über der Galbiga war der Himmel völlig klar bis zu den Bergen des Comersees. Nach der andern Seite, über Carona, ja, da war es dunkel, aber immerhin nicht allzu arg. Wenn die Marchesa nicht käme aus Furcht vor dem Wetter? Sie nahm das kleine alte Fernrohr, das immer in der Loggia lag. Es war nichts zu sehen. Freilich, es war noch zu früh. Um die Calcinera um drei zu erreichen, mußte die Marchesa mit der schweren Gondel gegen halb drei aufbrechen. Luisa ging in den Saal zurück, wo Ester, der Professor und Maria waren. Sie hätte es lieber gesehen, Maria wäre in der Loggia beim Onkel geblieben, aber Fräulein Ombretta hängte sich immer an die Mutter, wenn Besuch kam, und war ganz Auge und Ohr. Luisa beabsichtigte, sie fortzuschicken, sobald sie aufbräche, und behielt sie inzwischen bei sich. Die Verlobten standen abseits und unterhielten sich beinahe im Flüsterton.

Um zwei ging Luisa noch einmal auf die Terrasse, blickte durch das Fernrohr, ob die Gondel zufällig beim Tention zum Vorschein käme. Die Marchesa konnte des schlechten Wetters wegen vielleicht die Abfahrt beschleunigen. Nichts. Sie blickte nach Westen. Der Himmel war nicht dunkler als vorher. Nur zwischen dem Monte Bisgnago und dem Monte Caprino, über der leichten Einbuchtung, die Zocca d'i Ment genannt, war aus dem Vall' Intelvi eine dräuende bläuliche Wolke aufgestiegen, die unbeweglich hing, unheilvoll wie eine gerunzelte Stirn über einem blinden Auge. Sie schien die Schar der finsteren Gefährten gesehen zu haben, die sich am See über Carona zusammenballten, und wollte auch mit von der Partie sein. Luisa fing an unruhig zu werden und zu fürchten, daß die Marchesa nicht käme. Sie ging in das Gärtchen, um nach dem Boglia zu sehen. Auf dem Boglia lagen nur lichte weiße Wolken. Sie trat wieder in den Saal und fand Maria vor Ester und dem Professor aufgepflanzt, die beide, sehr rot im Gesicht, lachten.

»Bist du krank?« hatte die Kleine zu Ester gesagt.

»Nein, warum?«

»Weil ich sehe, daß du dir den Puls fühlst.«

Es war, wie es schien, alles gut abgelaufen. Luisa brachte die Kleine hinaus und verbot ihr streng, sich den Herrschaften wieder zu nähern. Einen Augenblick darnach kam der Onkel vorbei, sagte, daß er hinaufgehe, um einige Briefe zu schreiben, und mahnte Luisa, auf die Fenster in der Loggia achtzugeben, da ein Wetter im Anzug sei.

»Adieu, Fräulein Ombretta!« sagte er.

»Adieu, Herr Pipi,« erwiderte das übermütige Mädchen.

Lachend ging er hinauf.

Luisa, die jetzt die größte Mühe hatte, ihre Ruhe zu bewahren, ging zum drittenmal auf die Terrasse hinaus und blickte durchs Fernrohr. Ihr Herz tat einen Sprung: die Gondel bog beim Tention um die Ecke.

Es war ein viertel auf drei.

Jemand, der von Albogasio kam, war auf dem Kirchplatz stehen geblieben, um mit einer andern Person zu sprechen, die den Treppenweg seitlich von der Villa Ribera hinunterkam. Er sagte: »Eben ist die Sänfte mit Herrn Pasotti vorbeigekommen. Ein Haufen Kinder sind hinterher.«

Jetzt hatte sich der Himmel auch über dem Picco di Cressogno und über der Galbiga bezogen. Nur auf den Bergen des Comersees lag noch ein wenig Sonne. Die Gefahr des wilden Gewittersturms, den man in Valsolda Caronasca nennt, war immer drohender geworden. Über Carona war die Farbe der Wolken dunkel wie die der Berge. Die große Wolke der Zocca d'i Ment hatte eine dunkelblaue Färbung angenommen, und auch der Boglia fing an, finster die Stirn zu runzeln. Der See lag in bleierner Unbeweglichkeit.

Luisa hatte sich vorgenommen aufzubrechen, sobald die Gondel bei San Mamette angelangt sei. Sie trat wieder in den Saal.

Maria hatte ihr teilweise gehorcht, sie hatte sich nicht von ihrem Platz gerührt, aber als sie sah, daß der Professor Ester eine lange und lebhafte Rede hielt, hatte sie ihn gefragt:

»Erzählst du ihr eine Geschichte?«

In dem Augenblick kam Luisa herein.

»Ja, Liebling,« antwortete Ester lachend, »er erzählt mir eine Geschichte.«

»Ach, mir auch, mir auch!«

Dumpfes Donnern ertönte. »Geh, Maria, Liebling,« sagte Ester. »Geh in dein Zimmer und bete zum lieben Gott, daß er uns kein böses Wetter schickt, keinen bösen Hagelschlag.«

»O ja, ja, ich gehe und bete zum lieben Gott.«

Die Kleine ging mit ihrem Schiffchen in das Schlafzimmer, würdevoll und ernst, als hinge in diesem Augenblick das Heil Valsoldas von ihr ab. Das Gebet hatte für sie immer etwas Feierliches, es war eine Berührung des Geheimnisvollen, die sie eine ernste und gespannte Miene annehmen ließ wie Zauber- und Spukgeschichten. Sie stieg auf einen Stuhl, sagte die paar Gebete her, die sie wußte, und nahm die Haltung an, wie sie sie in der Kirche bei den Frömmsten der Gemeinde gesehen hatte, sie bewegte wie jene die Lippen, um ein Gebet ohne Worte zu sagen. Und wer sie so gesehen und das furchtbare Geheimnis, das die nächste Stunde bringen sollte, gekannt hätte, würde geglaubt haben, daß in diesem letzten Augenblick der Engel des Kindes an seiner Seite gestanden und ihm eingegeben habe, für etwas andres zu beten als für die Wein- und Olivenberge Valsoldas, für etwas andres, ihr Näherliegendes, das er nicht aussprach, das die Kleine nicht wußte, und dem sie nicht Ausdruck geben konnte: er würde geglaubt haben, daß in ihrem unartikulierten Wispern ein verborgener, zarter und tragischer Sinn gelegen hätte, die sanfte Ergebung einer süßen Seele in den Ratschluß seines Engels, in den geheimnisvollen Willen Gottes.

Um halb drei grollte aus dem finstern Gewölk von Carona wiederum ein dumpfer Donner, auf den die Wolken des Boglia und der Zocca d'i Ment sofort Antwort gaben.

Luisa eilte auf die Terrasse. Die Gondel befand sich San Mamette gegenüber und steuerte gerade auf die Calcinera. Man konnte genau sehen, wie die Ruderer arbeiteten. Während Luisa das Fernrohr aus der Hand legte, fegte der erste Windstoß durch die Loggia, Türen, Fensterscheiben und Laden zuschlagend. In furchtbarer Angst, bei dem Gedanken, zu spät zu kommen, schloß sie in großer Eile die Fenster, lief durch den Saal, griff nach dem Schirm, verließ das Haus, ohne irgend jemand etwas zu sagen, ohne die Haustür zu schließen und schlug den Weg nach Albogasio Inferiore ein. Hinter dem Kirchhof, an der Stelle, die sie dort Mainè nennen, begegnete sie Ismaele.

»Wohin, Sora Luisa, bei dem Wetter?«

Luisa antwortete, daß sie nach Albogasio gehe, und eilte vorwärts. Hundert Schritte weiter fiel ihr ein, daß sie Veronika nicht von ihrem Fortgehen benachrichtigt, ihr nicht gesagt hatte, daß sie die Fenster im Schlafzimmer schließen und auf Maria achtgeben sollte. Sie wollte Ismaele hinschicken. Er war schon hinter der Biegung des Kirchhofs verschwunden. Ein Impuls ihres Herzens riet ihr umzukehren, aber es war keine Zeit mehr. Unaufhörlich rollte das Getöse des Donners, vereinzelte große Tropfen fielen hier und dort auf den Weizen. Windstöße, die dem Wirbelsturm der Caronasca vorangingen, fegten in Zwischenräumen durch die Maulbeerbäume. Luisa öffnete den Regenschirm und beschleunigte ihren Schritt.

Die ganze Wucht des Unwetters ereilte sie in den dunklen Gassen von Albogasio. Sie dachte nicht daran, in einer Tür Schutz zu suchen, unentwegt schritt sie vorwärts. Sie begegnete einer Schar Kinder, die vor dem Regen flüchteten, nachdem sie auf dem Kirchplatz der Annunciata vergeblich auf das Vorbeikommen der Marchesa in der Sänfte gewartet hatten. Auf der kurzen Strecke zwischen dem Rathaus von Albogasio und der Kirche hatte der Wind ihr den Schirm umgestülpt. Sie fing an zu laufen und erreichte den Streifen des Kirchplatzes, der hinter der Kirche den Blick auf die kleine Bucht der Calcinera hat. Dort gegen das Ungestüm von Sturm und Regen durch die Kirche geschützt, brachte sie den Schirm, so gut es gehen wollte, wieder in Ordnung und lehnte sich gegen die Brüstung.

Die Kirche der Annunciata steht auf der Höhe einer Klippe, die, sich von dem Boglia abzweigend, dürftig mit Brombeersträuchern und wilden Feigenbäumen bewachsen, über den See vorspringt und die kleine Bucht der Calcinera im Westen abschließt. Der Streifen des Kirchplatzes, auf dem Luisa sich befand, lief genau auf der Höhe der Klippe. Sie hätte von dort oben den Weg der Gondel von Cressogno bis zur Landung verfolgen können; aber ein förmlicher Sturzbach von Regen verhüllte ihr jetzt alles wie in einen weißen Nebel. Die Marchesa mußte jedoch, wenn sie nicht nach Cressogno zurückkehrte, wo sie auch landete, hier vorüberkommen, denn hier, wo der Verbindungspunkt der vorspringenden Klippe mit dem Ufer ist, führt der Stufenweg von der Calcinera zum Kirchplatz empor, der einzige Weg nach Albogasio Superiore sowohl von der unten gelegenen Landungsstelle als von San Mamette, Casarico oder Cadate.

In wenigen Minuten war die Gewalt des Wolkenbruchs vorüber, und die düsteren Umrisse der Berge begannen sich gespensterhaft von dem weißen Hintergrunde loszulösen. Luisa blickte hinunter nach der Landungsstelle. Keine Gondel, keine Sänfte, nichts war am Ufer zu sehen. War es möglich, daß die Gondel nach Cressogno zurückgekehrt war? Der Nebel zerteilte sich schnell, Cadate kam zum Vorschein, an der Öffnung der Bucht des Palazzo tauchte weiß aus dem leichten grauen Nebel das Hinterteil der Gondel auf. Das war es. Die Marchesa hatte im Palazzo Schutz gesucht, und dasselbe hatte auch Pasotti mit seiner Sänfte und den Trägern getan. Das Gewitter hatte so gut wie aufgehört, die Sänfte mußte jeden Augenblick kommen.

Dem war nicht so, noch zehn lange Minuten ließ sie auf sich warten. Luisa hielt ihre Augen auf den schmalen Weg geheftet, der sich von Cadate zu der Bucht der Calcinera schlängelt. In ihrem Innern schwieg alles Denken. Ihre ganze Seele schaute und wartete, sonst nichts. Links gingen Leute vorbei, von der Calcinera heraufsteigend oder von Albogasio kommend; jedesmal hielt sie den Schirm vor, um nicht erkannt zu werden oder wenigstens Grüße und Unterhaltungen zu vermeiden. Endlich erschien eine Gruppe von Menschen an der Biegung. Luisa unterschied die Sänfte, hinter der Sänfte Pasotti und Don Giuseppe und dann zuletzt die beiden Gondolieri der Marchesa. Noch blieb sie an ihrem Platz, sie folgte mit den Augen der Sänfte, die nur sehr langsam vom Fleck kam, und machte den Regenschirm zu, weil es kaum noch regnete. Fünf oder sechs schaulustige Kinder aus Albogasio waren auch wieder zur Stelle. Sie hieß sie in barscher Weise fortgehen. Die Kinder zögerten zu gehorchen, aber ein plötzlicher Platzregen, ohne Wind, ohne Donner, trieb sie in die Flucht.

Jetzt war die Sänfte am Fuß des Treppenwegs angelangt. Luisa setzte sich in Bewegung.

Ihr Auge war kalt, ihre Gestalt hoch aufgerichtet. Von einem einzigen Gedanken beherrscht, war sie völlig gleichgültig gegen den Regen, der sich in Strömen auf ihren Kopf und ihre Schultern ergoß, der sie wie in einen dichten Schleier hüllte, und dessen klatschendes Geräusch sie umtoste. Vielleicht fand sie Gefallen an diesem Aufruhr der Natur, der ihrem eignen entsprach. Langsam, langsam stieg sie hinunter mit geschlossenem Schirm, den Griff fest umspannend, als sei es der Griff einer Waffe. Der Treppenweg macht einige Biegungen, und man muß eine ganze Anzahl von Stufen hinuntergehen, bis man das Ende sehen kann. Als sie bei der Biegung angelangt war, gewahrte sie die Sänfte, die stillstand. Die beiden Barkenführer nahmen die Stelle der beiden Träger ein. Luisa stieg hinunter bis zu der Stelle, wo sich die Zweige eines großen Nußbaumes über die Treppe spannten. Dort blieb sie stehen, gerade als sich die Träger wieder in Bewegung setzten. Alles ging gut. Pasotti und Don Giuseppe, die mit offenem Schirm hinter der Sänfte gingen, konnten sie nicht sehen. Sobald die Träger bei ihr angekommen waren, mußten sie stehen bleiben und beiseite treten, um sie vorbeizulassen.

Als sie näher kamen, erkannte sie in den beiden vorderen Trägern der Sänfte einen Bruder von Ismaele und einen Vetter der Veronika. Auf vier Schritt Entfernung hieß sie sie durch eine gebieterische Bewegung stehen bleiben. Sie folgten sofort ihrem Wink und stellten die Sänfte nieder, dasselbe taten, ohne zu wissen warum, die beiden Träger, die folgten. Pasotti hob den Schirm, sah Luisa, machte eine Gebärde des Staunens, runzelte finster die Stirn; er hielt Don Giuseppe fest, zog ihn zur Seite, um sie vorbeizulassen, nicht argwöhnend, daß die Begegnung eine absichtliche war.

Aber Luisa rührte sich nicht vom Fleck. »Sie haben nicht darauf gerechnet, mir zu begegnen, Herr Pasotti,« sagte sie mit lauter Stimme. Die Marchesa steckte den Kopf heraus, erkannte sie, zog sich wieder zurück und sagte mit einem ungewohnten Ausdruck von Energie in ihrer schläfrigen Stimme:

»Vorwärts!«

In diesem Augenblick tönten von der Höhe des Kirchplatzes durchdringende, verzweifelte Schreie: »Sora Luisa! Sora Luisa!«

Luisa hörte nicht.

Pasotti hatte den Trägern ein zorniges: »Vorwärts!« zugerufen, und die Träger hoben die Tragstangen wieder auf.

»Meinetwegen vorwärts!« sagte sie, fest entschlossen, neben der Sänfte herzugehen. »Ich habe nur zwei Worte zu sagen.«

Wenn Pasotti und die alte Marchesa zunächst auf Tränen und Bitten gefaßt waren, so sahen sie jetzt an dem stolzen Gesicht, an der vibrierenden Stimme, daß sie ganz etwas anders zu erwarten hatten.

»Worte, jetzt?« sagte Pasotti, beinahe drohend vortretend.

»Sora Luisa! Sora Luisa!« klang es ganz aus der Nähe mit herzzerreißendem Schrei; und gleichzeitig mit dem Rufen näherte sich das Geräusch hastiger, ungestümer Schritte.

Aber Luisa schien nichts zu hören. »Ja, jetzt,« antwortete sie Pasotti mit unsagbarem Stolz. »Ich benachrichtige aus Freundlichkeit diese Dame ...«

»Sora Luisa!«

Jetzt war sie gezwungen, sich zu unterbrechen und umzuwenden. Zwei, drei, vier Weiber waren ihr auf den Fersen, mit verzerrten Gesichtern, zerzausten Haaren, schluchzend: »Sie sollen gleich nach Hause kommen. Um Gottes willen, gehen Sie schnell nach Hause!« Die Gesichter, die Tränen, die Stimmen entrissen sie mit einem Schlag ihrem Zorn, ihrem Vorhaben.

Auf die Frauen zustürzend, schrie sie: »Was gibt's?« Und diese konnten nur wiederholen, mit Augen, die aus den Höhlen traten:

»Gehen Sie nach Hause! Um Gottes willen, gehen Sie nach Hause!«

»Aber was gibt's, ihr Närrinnen?«

»Ihr Kind, Ihr Kind!«

Sie schrie auf wie eine Wahnsinnige:

»Maria? Maria? Was ist mit ihr? Was ist mit ihr?« Sie hörte unter dem Schluchzen das Wort »See«, stieß einen Schrei aus, und wie ein wildes Tier sich Bahn brechend, stürzte sie den Treppenweg hinauf. Die Frauen vermochten ihr nicht zu folgen, aber auf dem Kirchplatz standen trotz des Regens andre, die schrien und weinten.

Luisa fühlte, wie die Kräfte sie verließen. Auf der letzten Stufe stürzte sie zu Boden.

Die Frauen eilten herbei, zehn Hände streckten sich ihr entgegen, hoben sie auf. Sie heulte wie ein Tier.

»Gott, ist sie tot?«

Jemand antwortete: »Nein, nein.«

»Der Arzt?« sagte sie keuchend. »Der Arzt?«

Viele Stimmen antworteten, daß er dort sei.

Sie schien ihre ganze Willenskraft wiederzufinden und setzte den Lauf fort. Acht oder zehn Personen stürzten hinter ihr her. Nur zwei vermochten ihr zu folgen. Sie flog. Beim Kirchhof begegnete sie Ismaele mit einem andern, sie schrie, sobald sie ihrer ansichtig wurde:

»Lebt sie? Lebt sie?«

Ismaeles Gefährte kehrte eiligen Laufes zurück, um die Nachricht zu bringen, daß die Mutter käme. Ismaele weinte und konnte nur herausbringen, »Jesus Maria, Sora Luisa!« Und er machte eine Bewegung, wie um sie zurückzuhalten.

Luisa stieß ihn wild von sich und setzte ihren Weg fort, gefolgt von ihm, der den Kopf verloren hatte und jetzt hinter ihr herlaufend rief: »Es ist vielleicht nichts, es ist vielleicht nichts.« Es schien, als ob der heftige, ununterbrochene, gleichmäßige Regen ihn durch Tränen Lügen strafte.

Atemlos auf dem Kirchplatz von Oria angekommen hatte Luisa noch die Kraft zu rufen: »Maria! meine Maria!«

Das Fenster des Schlafzimmers stand offen. Sie hörte Cia weinen und Ester, die sie schalt. Einige Personen, unter ihnen der Professor Gilardoni, kamen aus dem Haus ihr entgegen. Der Professor hielt die Hände verschlungen und weinte stumm, bleich wie ein Toter. Die andern flüsterten: »Mut, noch ist Hoffnung!«

Sie war im Begriff umzusinken, völlig erschöpft. Der Professor legte einen Arm um ihre Taille und zog sie die Treppe, die ebenso wie der Flur dicht voller Menschen stand, hinauf zum ersten Stock.

Luisa ging, fast getragen, an Stimmen vorbei, die bekümmert Trostworte sprachen. »Mut, Mut, wer weiß, vielleicht!« Am Eingang des Schlafzimmers befreite sie sich von dem Arm des Professors und trat allein ein.

Man hatte Licht anzünden müssen, da es wegen des Regens im Alkoven dunkel war. Die arme, süße Ombretta lag entkleidet auf dem Bett mit halbgeöffneten Augen und den Mund auch halb geöffnet. Auf dem Gesicht lag ein leichter rosiger Schimmer, die Lippen waren schwärzlich, der Körper von bläulicher Leichenfarbe. Mit Esters Hilfe versuchte der Arzt die künstliche Atmung, indem er die kleinen Ärmchen abwechselnd über den Kopf hob, längs der Hüften hinunter bewegte und auf den Unterleib drückte.

»Doktor? Doktor?« schluchzte Luisa.

»Wir tun unser möglichstes,« antwortete der Doktor ernst.

Sie stürzte mit dem Gesicht auf die eiskalten Füßchen ihres Lieblings, bedeckte sie mit wilden Küssen. Da wurde Ester von einem Zittern ergriffen.

»Nein, nein!« sagte der Doktor. »Mut, Mut!«

»Ich will!« rief Luisa.

Der Doktor hielt sie mit einer Bewegung zurück und winkte Ester, innezuhalten. Er beugte sich über Marias Gesichtchen, legte seinen Mund auf ihren und holte mehrere Male hintereinander tief Atem. Dann richtete er sich wieder auf.

»Aber sie ist rosig, sie ist rosig!« flüsterte Luisa, schwer atmend.

Der Doktor seufzte schweigend, zündete ein Streichholz an und näherte es Marias Lippen.

Drei oder vier Frauen, die kniend beteten, erhoben sich, sie traten mit klopfendem Herzen an das Bett, hielten den Atem an. Die Tür zum Saal stand offen; andre Gesichter blickten von dort herein, stumm und gespannt. Luisa, die neben dem Bett kniete, hielt die Augen fest auf die Flamme gerichtet.

Eine Stimme murmelte: »Sie bewegt sich!«

Ester, hinter Luisa stehend, schüttelte den Kopf. Der Doktor löschte das Streichholz.

»Warmen Flanell!« sagte er.

Luisa stürzte hinaus, und der Arzt nahm die Bewegungen der Arme wieder auf. Dann, als Luisa mit der erwärmten Wolle wieder eintrat, begannen sie, er von der einen, sie von der andern Seite die Brust und den Leib der Kleinen zu frottieren.

Nach einer Weile, als er Luisas Blässe, ihr entstelltes Gesicht sah, machte der Arzt einem Mädchen ein Zeichen, ihren Platz einzunehmen.

»Geben Sie Ihren Platz ab,« sagte er, da Luisa eine Gebärde des Widerspruchs machte. »Ich bin auch erschöpft. Es ist unmöglich.«

Luisa schüttelte den Kopf, ohne zu sprechen, mit krampfhafter Energie ihr Werk fortsetzend. Der Doktor zuckte schweigend die Achseln, ließ sich selbst durch das Mädchen ablösen und hieß Ester andres Zeug wärmen, um die Beine des Kindes damit zu bedecken. Ester ging hinaus, es selbst zu besorgen, denn Veronika war sofort nach dem Unglücksfall verschwunden, und man hatte sie nicht finden können.

Im Korridor und auf den Treppen besprach man das Ereignis, das Wie und das Wo. Als Ester vorbei kam, fragten sie alle: »Wie geht's? Wie geht's?«

Ester machte eine hoffnungslose Bewegung, ging vorbei, ohne zu antworten. Die Unterhaltung wurde mit leiser Stimme wieder aufgenommen.

Man wußte nicht, wie lange das Kind im Wasser gelegen hatte. Während das Unwetter tobte, hatte sich ein gewisser Toni Gall in den Ställen hinter der Villa Ribera aufgehalten. Es fiel ihm ein, daß das Boot des Herrn Ingenieurs schlecht befestigt sei und sich an den Mauern des Hafenbeckens zerschlagen könnte. Mit einigen Sprüngen war er unten, sah den Eingang zum Bassin offen und trat ein. Das Boot schaukelte fürchterlich, von dem Schaum der Wellen, die sich an der Mauerung brachen, völlig überschwemmt; es tanzte, schwankte zwischen den Ketten und hatte sich umgedreht, so daß das Hinterteil fast auf der Mauer lag. Gegenüber dem Eingang, der von der Straße in das Bassin führt, lief ein Gang, von dem zwei kleine Treppchen ins Wasser führten, die eine an der Seite des Vorderteils, die andre an der Seite des Hinterteils der Barke. Toni Gall ging zu der letzteren, um die Kette am Hinterteil kürzer zu machen. Da zwischen dem Boot und der letzten Stufe, wo das Wasser sechzig oder siebzig Zentimeter Tiefe hatte, sah er Marias Körperchen auf der Oberfläche treiben, den Kopf unter Wasser. Als er sie aus dem Wasser zog, bemerkte er auf dem Grund ein Metallschiffchen.

Er trug das Kind hinauf, mit seiner furchtbaren Stimme den ganzen Ort zusammenrufend und glücklicherweise auch den Arzt, der sich in Oria befand; er war Ester behilflich, das arme Geschöpf auszukleiden, das kein Lebenszeichen mehr von sich gab.

Mit wem war sie gewesen, bevor sie zum Bassin hinunterging? Mit Veronika nicht, denn Veronika hatte man mit ihrem Zollwächter in die Topfkammer hinter dem Hause gehen sehen, noch bevor Luisa das Haus verlassen hatte. Mit Ester und dem Professor ebensowenig. Ester hatte sie hinauf in das Schlafzimmer zum Beten geschickt und sie dann nicht wieder gesehen. Cia war mit Arbeiten und der Ingenieur mit Schreiben beschäftigt gewesen, als Toni Galls furchtbares Schreien ertönte. Maria mußte aus dem Schlafzimmer hinunter zu dem Hafenbecken gegangen sein, um ihr Schiffchen im Wasser schwimmen zu lassen, und hatte unseligerweise die Haustür und den Eingang zum Hafen offen gefunden. Toni Gall war der Meinung, daß sie einige Minuten im Wasser gelegen haben müßte, denn sie trieb entfernt von dem Ort, wo das Schiffchen auf dem Grund lag. Er schilderte zum hundertsten Male seine entsetzliche Entdeckung im Saale, in dem sich außer der Cia, dem Ingenieur und dem Professor auch andre aus dem Ort befanden. Alle schluchzten, bis auf den Onkel Piero. Auf dem Kanapee sitzend, auf dem vorher Gilardoni und Ester gesessen hatten, schien er zu Stein geworden. Er hatte keine Träne, er hatte keine Worte. Toni Galls Geschwätz belästigte ihn augenscheinlich, aber er schwieg. Seine edlen Züge waren eher feierlich und ernst als bestürzt. Es schien, als sähe er vor sich den Schatten des antiken Fatums. Er fragte nicht einmal; es war klar, er hatte keine Hoffnung. Und es war klar, daß sein Schmerz himmelweit verschieden war von diesem redseligen, vorübergehenden Nervenreiz der ihn umgebenden Leute. Es war der stumme, gefaßte Schmerz des Weisen und Starken.

Aus der geöffneten Tür des Schlafzimmers drangen bald fragende, bald befehlende Laute. Aber niemand konnte sagen, daß er seit mehr als einer Stunde Luisas Stimme gehört hatte. Ab und zu waren es auch zitternde, fast freudige Laute. Es schien irgendeinem da drinnen, als habe er eine Bewegung, einen Hauch, ein Lebenszeichen wahrgenommen. Dann drängten alle die draußen Stehenden herbei. Der Onkel Piero wandte den Kopf zur Tür des Schlafzimmers, und nur in diesen Augenblicken zeigte sich eine Unruhe auf seinem Gesicht. Und leider mußte er jedesmal die Leute sich langsam zurückziehen sehen in beklemmendem Schweigen. Es war fünf Uhr vorüber. Das Regenwetter hielt an, und es war dunkel.

Um halb sechs hörte man endlich Luisas Stimme. Es war ein durchdringender, unbeschreiblicher Aufschrei, der allen das Blut in den Adern erstarren machte. Die Stimme des Doktors antwortete im Tone eifrigen Widerspruches. Man erfuhr, der Doktor hatte eine Bewegung gemacht, wie um zu sagen: »es ist nunmehr umsonst; geben wir es auf«, und daß er bei ihrem Schrei die Arbeit wieder aufgenommen hatte.

Bei der eintönigen Klage des feinen, dichten Regens gegen alle die geöffneten Fenster schien die Grabesstille des Hauses noch schauerlicher geworden. Da es im Saal und im Flur dunkel wurde, näherte man sich dem schwachen Lichtschimmer, der aus dem Schlafzimmer drang. Die Leute begannen sich zurückzuziehen, ein Schatten nach dem andern verschwand schweigend auf den Zehenspitzen. Dann hörte man auf dem Steinpflaster der Straße die schweren Schuhe, Schritte ohne Stimmengeräusch. Die Cia näherte sich leise ihrem Herrn und flüsterte ihm ins Ohr, ob er nicht etwas zu sich nehmen wollte. Mit heftiger Gebärde hieß er sie schweigen.

Nach sieben Uhr, nachdem alle nicht zur Familie Gehörenden bis auf Toni Gall, Ismaele, den Professor, Ester und drei oder vier Frauen, die im Schlafzimmer halfen, das Haus verlassen hatten, hörte man ein langgedehntes, unterdrücktes Stöhnen, das kaum menschlich schien.

Der Doktor trat in den Saal. Man konnte nicht sehen. Er stieß gegen einen Stuhl und sagte laut:

»Ist der Herr Ingenieur hier?«

»Ja, Herr,« antwortete Toni Gall und ging, ein Licht zu holen.

Der Ingenieur sprach nicht, noch rührte er sich.

Toni Gall kehrte bald mit einem Licht zurück, und Doktor Aliprandi, dessen ich hier gern gedenke als eines Mannes mit offenem Wesen, klarem Verstande und edlem Herzen, ging zu dem Kanapee, auf dem Onkel Piero saß.

»Herr Ingenieur,« sagte er, mit Tränen in den Augen, »jetzt müssen Sie etwas tun.«

»Ich?« fragte Onkel Piero aufblickend.

»Ja ... Sie müssen wenigstens versuchen, sie hinauszuführen. Sie müssen kommen und zu ihr sprechen. Sie sind ihr wie ein Vater. Das sind die Augenblicke, wo der Vater eintreten muß.«

»Lassen Sie meinen Herrn in Ruhe,« murmelte die alte Cia. »Er versteht sich nicht auf diese Dinge. Er leidet und weiter nichts.«

Jetzt hörte man gleichzeitig mit dem Stöhnen zärtliche Laute und Küsse.

Der Ingenieur stemmte die Fäuste gegen das Sofa und blieb einen Augenblick mit gesenktem Kopf. Dann erhob er sich, nicht ohne Mühe, und sagte zu dem Arzt:

»Muß ich allein hineingehen?«

»Wünschen Sie, daß ich dabei bin?«

»Ja.«

»Gut. Übrigens wird's unnütz sein. Zwingen möchte ich sie nicht, aber versuchen muß man's.«

Der Doktor schickte die Frauen, die noch im Schlafzimmer waren, hinaus. Dann wandte er sich in der Tür zu dem Ingenieur und winkte ihm zu kommen.

»Donna Luisa,« sagte er mit sanfter, liebevoller Stimme. »Hier ist Ihr Onkel, Ihr teurer Onkel, der Sie bitten will.«

Der Alte trat mit ruhigem Gesicht ein, aber er wankte. Als er zwei Schritte getan hatte, blieb er stehen.

Luisa saß auf dem Bett, ihr totes Kind im Arm, sie preßte es an sich, sie küßte ihm Gesicht und Hals, sie stöhnte, ließ ein unbeschreibliches, langgezogenes Wimmern hören.

»Ja, ja, ja, ja,« sagte sie, fast ein zärtliches Lächeln im Ton, »dein Onkel ist da, Liebling, es ist dein Onkel, der zu seinem Herzblatt kommt, zu seiner Ombretta, seiner Ombretta Pipi, die ihn so lieb hat. Ja, ja, ja, ja.«

»Luisa,« sagte Oheim Piero, »fasse dich. Alles, was man tun konnte, ist getan worden. Komm jetzt mit mir, bleib nicht länger hier, komm mit mir ...«

»Onkel, Onkel, Onkel,« erwiderte Luisa mit von Zärtlichkeit überquellender Stimme, ohne aufzublicken, den kleinen Leichnam an ihre Brust drückend, ihn wiegend. »Komm hierher, komm her, komm her zu deiner Maria. Komm, komm zu uns, du bist unser Onkel, unser lieber Onkel. Nein, Liebling, nein, Liebling, unser Onkel bleibt bei uns.«

Der Onkel zitterte, einen Augenblick übermannte ihn der Schmerz, entriß ihm einen Seufzer.

»Laß ihr den Frieden,« sagte er mit erstickter Stimme.

Sie schien ihn nicht zu hören und fuhr fort:

»Komm, Liebling, komm, wir gehen zu unserm Onkel. Wollen wir zu ihm gehen, Maria? Ja, ja, laß uns gehen, komm.« Sie ließ sich von dem Bette zur Erde gleiten, sie näherte sich dem Onkel, mit dem linken Arm ihre süße Tote an ihre Brust drückend und den andern um den Hals des Alten legend, flüsterte sie: »Einen Kuß, einen Kuß, einen Kuß deiner Ombretta, nur einen Kuß, nur einen.«

Onkel Piero neigte sich, küßte das vom Tod schon traurig entstellte Gesichtchen und badete es mit zwei großen Tränen.

»Sieh, Onkel, sieh,« sagte sie. »Doktor, bringen Sie das Licht her. Ja, ja, seien Sie nicht schlecht, Doktor. Sieh, Onkel, unser Schatz. Doktor!«

Aliprandi war widerstrebend und versuchte noch Widerstand zu leisten; aber dieser wahnsinnige Schmerz hatte etwas Heiliges, das ihm Ehrfurcht einflößte. Er gehorchte, nahm die Kerze und hielt sie über die kleine Leiche, die mit ihren halbgeöffneten Augen und mit den erweiterten Pupillen einen schaurig erbarmungswürdigen Anblick gewährte, und es war Maria gewesen, die liebliche Ombretta, das Herzblatt des Alten, der Sonnenschein und der Schatz des Hauses.

»Sieh, Onkel, diese kleine Brust, wie wir sie mißhandelt haben, armer Schatz, wie weh wir ihr getan haben mit all unserm Reiben! Deine Mama ist es gewesen, weißt du, deine häßliche Mama, Maria, und dieser böse Doktor da.«

»Genug!« sagte der Doktor entschlossen, das Licht auf den Schreibtisch stellend. »Sprechen Sie zu Ihrem Kind, wenn Sie wollen, aber nicht zu diesem, zu jenem, das im Paradies ist.«

Der Eindruck war furchtbar. Jede Zärtlichkeit schwand aus Luisas Gesicht. Finster wich sie zurück, ihre Tote an die Brust drückend.

»Nein!« schrie sie, »nein! nicht im Paradiese! Sie gehört mir! Sie gehört mir! Gott ist schlecht! Nein! Ich gebe sie ihm nicht!«

Sie wich immer weiter zurück, bis in den Alkoven, zwischen das Ehebett und Marias Bettchen und begann von neuem dieses langgezogene Wimmern, das nicht von einem Menschen zu kommen schien. Aliprandi ließ den Ingenieur, der am ganzen Körper bebte, hinausgehen.

»Es wird vorübergehen, es wird vorübergehen,« sagte er. »Man muß Geduld haben. Jetzt bleibe ich hier.«

Im Saal nahm Ismaele den Professor beiseite.

»Muß man nicht den Herrn Don Franco benachrichtigen?« sagte er.

Sie sprachen mit dem Onkel und beschlossen, am nächsten Morgen, weil es jetzt schon zu spät sei, von Lugano ein Telegramm im Namen des Onkels zu schicken, das schwere Erkrankung melden sollte. Ester setzte das Telegramm auf.

Im Saal war noch eine Person anwesend, die arme Pasotti, die hergelaufen war, indessen ihr Mann die Marchesa nach Cressogno begleitete. Sie schluchzte, trostlos darüber, daß sie Maria das Schiffchen geschenkt hatte. Sie wollte zu Luisa hineingehen, aber der Doktor, als er laut weinen hörte, kam heraus und gebot Ruhe, Schweigen. Die Pasotti ging in die Loggia, um sich auszuweinen. Mit ihr zusammen waren der Kurat Don Brazzova und der Präfekt der Caravina gekommen, die bei Pasotti zu Mittag gegessen hatten. Später kam der Kurat von Castello, Introini, der wie ein Kind weinte. Er wollte durchaus zu Luisa hinein, trotz des Verbots des Arztes, und kniete in der Mitte des Zimmers nieder, Luisa anflehend, ihr Kind dem Herrn zu geben.

»Sehen Sie, Sora Luisa, sehen Sie, wenn Sie es durchaus nicht dem Herrn geben wollen, so vertrauen Sie es seiner Großmutter Teresa an, Ihrer lieben Mutter, die es droben im Paradiese in Liebe hüten wird.«

Luisa war bewegt, nicht durch die Worte, aber von den Tränen, und antwortete sanft:

»Sie wissen, daß ich an Ihr Paradies nicht glaube! Mein Paradies ist hier!«

Aliprandi machte dem Kurat ein bittendes Zeichen, und dieser ging schluchzend hinaus.

*

Der Arzt verließ Oria gegen Mitternacht zusammen mit dem Professor. Das ganze Haus lag im Schweigen, selbst aus dem Schlafzimmer drang kein Laut mehr.

Aliprandi hatte die beiden letzten Stunden im Saal mit dem Professor und Ester zugebracht, ohne daß ein Schrei, ein Stöhnen oder irgendeine Bewegung zu hören war. Er war zweimal hineingegangen, um zu sehen, wie es stand. Luisa saß auf dem Rand ihres Bettes, die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht in den Händen, und blickte unverwandt auf das Bettchen, das Aliprandi nicht sehen konnte. Diese neue Unbeweglichkeit mißfiel ihm fast mehr als die vorherige übergroße Erregtheit.

Da Ester die Absicht hatte, die Nacht über zu bleiben, legte er ihr ans Herz, vorsichtig zu versuchen, ihre Freundin aufzurütteln, sie zum Weinen und Sprechen zu bringen.

Um mit Ester zu wachen, waren noch einige Frauen aus dem Ort dageblieben und Ismaele, der um fünf Uhr nach Lugano fahren wollte. Onkel Piero war zu Bett gegangen.

Aliprandi und der Professor blieben auf dem Kirchplatz stehen, um nach dem erleuchteten Schlafzimmerfenster zu sehen und zu horchen.

Alles still.

»Verfluchter See!« sagte der Doktor, den Arm seines Begleiters nehmend und sich auf den Weg machend. Zweifellos dachte er bei diesen Worten an das süße Geschöpfchen, das der See gemordet hatte, aber in seinem Herzen war auch das bange Vorgefühl, daß noch andres Unheil im Anzuge, daß das unselige Werk des tückischen Wassers noch nicht vollendet sei; und ein ungeheures Mitleid ergriff ihn mit dem Vater, mit dem armen Vater, der noch von nichts wußte.


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