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Langsam stieg Franco den Berg hinunter, ganz versunken in seine innere Welt, die so erfüllt war von neuen Dingen, Gedanken und Empfindungen, daß er in jedem Augenblick stehen blieb, die weißlich schimmernde Straße, die dunkeln Feldstreifen anblickte, die Blätter eines Weinstocks oder die Steine eines Mauervorsprungs berührte, um die Wirklichkeit der äußeren Welt zu fühlen, sich zu überzeugen, daß er nicht träumte. Erst in Casarico, in der Straße dei Mal'ari, vor dem Eingang der kleinen Villa Gilardoni, erinnerte er sich der dunkeln Worte der Mama Teresa über die ihr von Gilardoni gemachten vertraulichen Mitteilungen, und er fragte sich, was das für ein Geheimnis sein könne, das er Luisa nicht enthüllen sollte. In Wahrheit stimmte er diesem Rat der Mutter nicht völlig bei. ›Wie sollte ich,‹ dachte er, während er an die Tür klopfte, ›wie sollte ich vor meiner Frau etwas verbergen?‹
Der Professor Beniamino Gilardoni, der Sohn des »Carlin von Das«, hatte auf Kosten des alten Don Franco Maironi, des Gatten der Marchesa Ursula, eines wunderlichen, launenhaften, gewalttätigen, aber freigebigen Mannes, studiert. Als Carlin starb, zeigte es sich, daß die Freigebigkeit des Maironi nicht vonnöten gewesen wäre. Beniamino erbte ein ganz anständiges kleines Kapital, und Don Franco geriet hierüber in solchen Zorn, daß er ihn für die väterliche Heuchelei verantwortlich machte, ihm den Rücken kehrte und in der kurzen Lebenszeit, die ihm noch nach dem Tode seines Verwalters vergönnt war, nichts wieder von ihm wissen wollte. Der junge Mann widmete sich dem Lehrfach, er wurde Professor des Lateinischen am Gymnasium in Cremona und Lehrer der Philosophie am Lyzeum in Udine. Von schwankender Gesundheit und in steter Furcht vor körperlichen Leiden, ein wenig Misanthrop, ließ er im Jahre 1842 das Katheder im Stich und trat in den Genuß der bescheidenen väterlichen Erbschaft in Valsolda. Das heimatliche Dasio, unter den Dolomitenfelsen des Arabione, war für ihn zu hoch und zu unbequem gelegen. Er verkaufte seine Besitzungen dort oben und erstand die Olivenpflanzung des Sedorgg oberhalb Casarico und ein Landhäuschen in Casarico selbst, am Ufer des Sees; ein wahres Puppenhäuschen, das er wegen seiner Form »Pi greco« nannte, nach dem Muster des Digamma vom Ugo Foscolo. Von der Straße der Mal'ari mündete ein kurzer Pfad in den Hof, der an einen kleinen Säulengang stieß, von dem aus man zwischen großen Oleanderbäumen den Blick auf eine sechs Meilen weite, je nach der Beleuchtung bald grüne, bald graue oder blaue Wasserfläche hatte, bis zu dem Berg S. Salvatore, der sich im Hintergrunde unter dem Gewicht seines melancholischen Höckers den unten gelegenen bescheidenen Hügeln von Corona zuneigte. Östlich von dem Häuschen erstreckte sich ein Garten von für die dortige Gegend fabelhafter Ausdehnung, dessen Flächen der Ingenieur Ribera scherzhaft auf sieben Tafeln abzuschätzen pflegte. Sieben Tafeln sind zwanzig oder zweiundzwanzig Meter im Quadrat.
Der Professor bestellte ihn mit Hilfe seines kleinen Dieners Giuseppe, genannt Pinella, und einer kleinen Bibliothek französischer Abhandlungen. Er ließ sich aus Frankreich Samen der berühmtesten Gemüsearten kommen, die zuweilen in ganz schändlicher Weise beim Aufgehen ihrem Taufschein und überhaupt jeder ehrlichen Pflanzenfamilie Hohn sprachen. Es kam dann vor, daß Philosoph und Diener, über das Beet gebeugt, die Hände an den Knien, die Augen von den heimtückischen Sprößlingen hoben, um einander anzublicken, ersterer in aufrichtiger, letzterer in geheuchelter Zerknirschung. In einem Winkel des Gartens fristete in einem nach allen Regeln der Kunst erbauten Stalle eine Schweizer Kuh ihr Dasein; sie war nach dreimonatigem eifrigem Studium gekauft worden und erwies sich als mager und kränklich wie ihr Herr, dem es trotz der Schweizer Milchkuh und vier Paduaner Hennen oft nicht gelang, sich im Haus ein Glas Eiermilch bereiten zu können. In der Stützmauer, nach dem See zu, gegen deren Fuß die Wellen brandeten, hatte er Öffnungen angebracht und auf Franco Maironis Rat einige amerikanische Agaven, Rosenbüsche und Kapernsträucher gepflanzt, auf diese Weise, wie er zu sagen pflegte, den nahrhaften Inhalt des Gartens hinter einer anmutigen poetischen Hülle verbergend. Und aus poetischer Liebhaberei hatte er einen Winkel des Gartens selbst unbebaut gelassen. Hier wucherte hohes Schilfgras, und anstoßend an dieses Röhricht hatte der Professor eine Art von Belvedere errichtet, ein hohes Holzgerüst, sehr ländlich und primitiv, wo er in der guten Jahreszeit manche angenehme Stunde beim frischen Seewind, beim Rauschen des Schilfes und der Wellen mit dem Lesen mystischer Bücher, für die er eine Vorliebe hatte, zubrachte. Von ferne mischte sich die Farbe des Gerüstes mit der des Schilfrohrs, und der Professor schien mit dem Buch in der Hand gleich einem Zauberer in der Luft zu schweben. Die botanische Bibliothek hielt er im Salon; die mystischen Bücher, die Abhandlungen über Nekromantik, Gnostizismus, die Schriften über Halluzinationen und Träume bewahrte er in einem kleinen Studierstübchen neben dem Schlafzimmer auf, einer Art Schiffskajüte, wo See und Himmel durch das Fenster einzudringen schienen.
Nach dem Tode des alten Maironi hatte der Professor seine Besuche bei der Familie wieder aufgenommen, aber die Marchesa Ursula gefiel ihm wenig und Don Alessandro, ihr Sohn, Francos Vater, noch weniger. Schließlich ging er nur einmal im Jahr hin. Als der junge Franco in das Lyzeum eintrat, wurde Gilardoni von der Großmutter – der Vater war schon vor geraumer Zeit gestorben – gebeten, ihm während des Herbstes einige Stunden zu erteilen. Lehrer und Schüler glichen einander in ihrer Begeisterungsfähigkeit, in den heftigen und schnell vorübergehenden Zornesausbrüchen, und beide waren glühende Patrioten. Als die Stunden überflüssig geworden waren, sahen sie sich als Freunde, obschon der Professor über zwanzig Jahre älter war als Franco. Jener bewunderte den Geist seines Schülers; Franco indessen hielt wenig von der halb christlichen, halb rationalistischen Philosophie, von den mystischen Neigungen des Lehrers; er lachte über seine Leidenschaft für die Bücher und die Theorien von Gemüse- und Gartenbaukunst, die jedes praktischen Sinnes ermangelten. Aber er hing an ihm wegen seiner Herzensgüte, wegen der Lauterkeit seiner Gesinnung, wegen seines warmen Gemüts. Er war seinerzeit der Vertraute der unglücklichen Liebe Gilardonis für Frau Teresa Rigey gewesen und hatte ihm dann mit dem gleichen Vertrauen vergolten. Gilardoni war sehr bewegt davon; er sagte zu Franco, daß mit dieser Verehrung im Herzen es ihm schiene, als sei er ein wenig sein Vater geworden, selbst wenn Frau Teresa nichts von ihm wissen wollte. Franco schien keinen Wert auf diese metaphysische Vaterschaft zu legen; die Liebe für Frau Rigey erschien ihm eine Verirrung; aber im ganzen bestärkte er sich in seiner Überzeugung, daß der Kopf des Professors nicht viel taugte, und daß sein Herz Gold war.
Er klopfte also an die Tür, und der Professor öffnete ihm selbst, ein Öllämpchen in der Hand.
»Bravo!« sagte er. »Ich glaubte, Sie kämen nicht mehr.«
Gilardoni war im Schlafrock und Pantoffeln, er trug auf dem Kopf eine Art weißen Turban und strömte einen starken Kampfergeruch aus. Wie ein Türke sah er aus, ein Gilardoni-Bei; aber das magere und gelbliche Gesicht, das unter dem Turban lächelte, hatte nichts Türkisches. Umrahmt von einem rötlichen Bärtchen, über dem eine große, höckerige und rote Nase leuchtete, wurde es verklärt von zwei schönen, blauen, ganz jugendlichen Augen, aus denen kindliche Güte und Poesie leuchteten.
Kaum hatte Franco die Tür hinter sich geschlossen, als der Freund ihm zuflüsterte:
»Ist's geschehen?«
»Es ist geschehen,« erwiderte Franco.
Der andere umarmte ihn und küßte ihn schweigend. Dann führte er ihn hinauf in das Studierstübchen. Auf dem Wege erklärte er ihm, daß er sich Kompressen von Borwasser, secundum Raspail, Französischer Arzt und Naturforscher (1794-1878), führte die Mehrzahl der Krankheiten auf das Eindringen parasitischer Insekten in den menschlichen Organismus zurück und wandte als Medikament mit Vorliebe Kampfer an, den er als eine Art Panacee ansah und in Form von Zigaretten, Puder, Pomade und so weiter verordnete. auf den Kopf gemacht habe wegen einer drohenden Migräne. Er war ein Apostel Raspails und hatte auch Franco, der sehr zu Halsentzündungen neigte, von den Blutegeln zur Kampferzigarette bekehrt.
In dem Arbeitszimmer erneute, sehr innige und sehr lange Umarmung.
»Alles, alles, alles Gute!« rief Gilardoni, eine Welt von Dingen in das Wort legend.
Armer Gilardoni, in seinen Augen glänzte es. Er hatte umsonst auf ein ähnliches Glück, wie es seinem Freunde zuteil ward, gehofft. Franco begriff, er wurde verlegen, es fiel ihm kein Wort ein, das er ihm hätte sagen können, und es erfolgte ein so bedeutungsvolles Schweigen, daß Gilardoni es nicht ertragen konnte und anfing, ein wenig Feuer anzumachen, um den Kaffee, den er bereitet hatte, zu wärmen. Franco bot seine Hilfe bei dieser Verrichtung an, der Professor nahm, seinen Kopfschmerz vorschützend, an und begann seinen Turban vor einem mit Borwasser gefüllten Napf abzuwickeln.
»Also,« sagte er, die eigne Rührung mit Willenskraft unterdrückend, »erzählen Sie mir.«
Franco erzählte ihm alles, von dem Mittagessen bei der Großmutter an bis zu der Trauungsfeier in der Kirche von Castello, ausgenommen natürlich die geheime Unterredung mit Frau Teresa.
Der Professor Beniamino, der sich inzwischen den Turban wieder angelegt hatte, faßte Mut. »Eh ...,« sagte er, den geliebten Namen durch eine Art dumpfen Stöhnens ersetzend, »wie geht es ihr?« Als er von der Halluzination hörte, rief er: »Ein Brief? Sie glaubte einen Brief zu sehen? Aber was für einen Brief?«
Das konnte Franco nicht sagen.
Ein Prasseln auf der Kohlenglut unterbrach das Gespräch; der Kaffee brodelte und kochte über.
Gilardoni glich auch darin seinem jungen Freund, daß man ihm das Herz vom Gesicht ablas. Der junge Freund, der übrigens ein unendlich viel scharfsichtigerer und schnellerer Gedankenleser als er selbst war, begriff sofort, daß er an einen bestimmten Brief gedacht hatte, und fragte ihn, während der Kaffee sich setzte, ob er in der Lage sei, diese Halluzinationen zu erklären. Der Professor beeilte sich zu verneinen, aber kaum hatte er dies Nein ausgesprochen, so schwächte er es durch einige andre, mit unartikuliertem Gebrumme untermischte Verneinungen ab: »Ach nein – nein doch – nicht daß ich wüßte – kurz und gut nein.«
Franco bestand nicht weiter darauf, und es folgte ein andres, ebenso bedeutungsvolles Schweigen.
Nachdem er den Kaffee unter vielen deutlichen Zeichen der Unruhe getrunken hatte, schlug der Professor unvermittelt vor, zu Bett zu gehen. Franco, der vor Tag aufbrechen mußte, zog es vor, sich nicht hinzulegen, bestand aber darauf, daß der Freund zu Bett gehen sollte, und der Freund änderte nach endlosem Protestieren und Zeremonien, nachdem er mit dem Napf Borwasser in der Hand bis zur Schwelle der Tür gezögert hatte, plötzlich seine Meinung, sagte ihm ein nachlässiges »Adieu!« und verschwand.
Allein geblieben, löschte Franco das Licht, um sich in dem Armstuhl auszustrecken mit der guten Absicht zu schlafen; zu diesem Zweck wollte er versuchen, wenn es möglich wäre, an Gleichgültiges zu denken.
Es waren noch nicht fünf Minuten verflossen, als an die Tür geklopft wurde und gleich darauf der Professor ohne Licht hastig eintrat und sagte: »Da bin ich.«
»Was gibt's?« rief Franco. »Es tut mir leid, daß ich das Licht ausgelöscht habe.«
In demselben Augenblick fühlte er die Arme des guten Beniamino um seinen Hals, seinen Bart, den Kampfer, die Stimme dicht an seinem Gesicht.
»Lieber, lieber, lieber, lieber Don Franco, ich habe eine so schwere Last auf dem Herzen, ich wollte jetzt nicht mit Ihnen davon sprechen, ich wollte Sie in Ruhe lassen, aber ich kann nicht, ich kann nicht, kann nicht, kann nicht, kann nicht!«
»Aber sprechen Sie doch, beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich!« sagte Franco, sich sanft aus dieser Umarmung lösend.
Der Professor ließ ihn los und preßte seine Hände stöhnend gegen die Schläfen:
»O ich Tölpel, ich Tölpel! Ich konnte ihn doch in Ruhe lassen, ich konnte bis morgen warten! Oder bis übermorgen! Aber jetzt ist's geschehen!«
Er ergriff Francos Hände. »Glauben Sie mir, ich hatte angefangen, mich auszukleiden, als es mich plötzlich wie ein Schwindel packte, und da, sehen Sie, ziehe ich mir den Schlafrock wieder an und laufe davon wie ein Verrückter, ohne Licht. In der Hast habe ich sogar den Napf mit dem Borwasser umgeworfen!«
»Sollen wir Licht machen?« fragte Franco.
»Nein, nein, nein! Es ist besser, im Dunkeln zu sprechen, viel besser im Dunkeln! Sehen Sie, ich setze mich sogar hierher!« Und er setzte sich an seinen Schreibtisch, außerhalb des schwachen Lichtschimmers, der durch das Fenster eindrang, und begann zu sprechen. Er sprach immer nervös und konfus; wie viel mehr jetzt bei der ungeheuern Aufregung, in der er sich befand.
»Ich fange an, nicht wahr? Wer weiß, was Sie sagen werden, lieber Don Franco! Alles überflüssiges Geschwätz, das; aber was wollen Sie, haben Sie nur Geduld. Ich fange also an; wo fange ich an? Ach Gott, sehen Sie, was für ein Dummkopf ich bin, ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll! Ah, diese Halluzination! Ja, ich habe Ihnen vorher eine Lüge gesagt, ich kann die Ursache dieser Halluzination sehr wohl vermuten. Es handelt sich um einen Brief, um einen Brief, den ich vor zwei Jahren Frau Teresa gezeigt habe. Einen Brief des armen Don Franco, Ihres Großvaters. Gut, jetzt fangen wir beim Anfang an.
Mein armer Papa sprach mir in den letzten Tagen vor seinem Tode von einem Brief des Don Franco, den ich in der großen Kiste finden würde, wo alle Papiere aufbewahrt wurden. Er sagte, daß ich ihn lesen, aufbewahren und zu gegebener Zeit meinem Gewissen entsprechend damit verfahren sollte. ›Doch,‹ sagte er, ›ist es fast sicher, daß nichts zu tun sein wird.‹ Der arme Papa starb, ich suchte den Brief in der Kiste, ich fand ihn nicht. Ich durchsuchte das ganze Haus; ich fand ihn nicht. Was tun? Ich beruhigte mich bei dem Gedanken, daß nichts zu machen wäre, und dachte nicht weiter daran. Dummkopf, nicht war, Tölpel? Sagen Sie es ruhig, ich verdiene es, ich habe es mir hundertmal gesagt. Ich fahre fort. Wissen Sie, wie die Erbschaft Ihres Großvaters geregelt worden ist? Wissen Sie, wie die Geschäfte Ihres Hauses erledigt wurden? Sie verzeihen, nicht wahr, wenn ich von diesen Dingen spreche?«
»Ich weiß, daß mein Großvater ohne Testament starb, und daß ich nichts besitze,« erwiderte Franco. »Aber lassen wir das, lassen Sie uns fortfahren.«
Es war für Franco in der Tat ein peinlicher Gegenstand. Bei dem Tode des alten Maironi hatte sich keinerlei Testament vorgefunden. Die Witwe und der Sohn Don Alessandro hatten in Freundschaft und Übereinstimmung das Vermögen zur Hälfte geteilt. Und der Sohn hatte dabei der Mutter eine sehr beträchtliche Schenkung gemacht, indem er erklärte, nur den Willen seines Vaters auszuführen, der versäumt hatte, ihn niederzulegen. Der junge Mann, der lasterhaft, ein Spieler und Verschwender war, befand sich schon bei dem Tode seines Vaters in den Krallen der Wucherer. In den sieben Jahren, die er noch lebte, richtete er sich so ein, daß er seinem einzigen Kinde Franco, dem einige zwanzigtausend Gulden blieben, das Vermögen seiner Mutter, die bei seiner Geburt gestorben war, nicht einen Soldo hinterließ.
»Ja, ja, fahren wir fort,« hub Gilardoni wieder an. »Vor drei Jahren, sage drei Jahren, erhalte ich von Ihnen einen Brief. Ich erinnere mich, daß es am zweiten November war, am Allerseelentage. Seltsame Dinge, geheimnisvolle Dinge. Geben Sie wohl acht. Ich gehe abends zu Bett und habe einen Traum. Ich träumte von dem Brief Ihres Großvaters. Sie müssen wissen, daß ich nie wieder daran gedacht hatte. Ich träumte, daß ich ihn suchte und in einer alten Kiste fände, die in einem Speicher steht. Ich lese ihn, immer noch im Traum. Was sagt er? Er sagt, daß in dem Keller der Villa Maironi in Cressogno sich ein Schatz befinde, und daß dieser Schatz für Sie bestimmt sei. Mit einer seltsamen Gemütsbewegung wache ich auf, mit der Überzeugung, daß der Traum die Wahrheit sagte. Ich stehe auf und suche in der Kiste. Ich finde nichts. Aber zwei Tage später, als ich gewisse Grundstücke, die ich noch in Dasio besaß, verkaufen wollte, kommt mir eine alte Urkunde in die Hand, die Papa in seiner großen Truhe aufbewahrte. Ich falte sie auseinander, und heraus fällt ein Brief. Ich sehe die Unterschrift an und sehe: ›Edler Franco Maironi‹. Ich lese ihn, er ist es. So sage ich, hat der Traum also ...«
»Nun?« unterbrach Franco. »Dieser Brief, was stand darin?«
Der Professor stand auf, nahm ein eine halbe Elle langes Streichholz, hielt es an die Glut des kleinen Kamins und zündete damit die Lampe an.
»Ich habe ihn hier,« sagte er mit einem großen Seufzer der Erleichterung. »Lesen Sie!«
Er zog einen vergilbten Brief von kleinem Format, ohne Kuvert, mit den Überresten einer roten Oblate aus der Tasche und reichte ihn Franco. Die schwarz-gelblichen Linien der Schrift schienen durch die Innenseite des Bogens hier und da fast reliefartig durch.
Franco nahm ihn, näherte sich dem Licht und las mit lauter Stimme:
»Lieber Carlin!
Du wirst in dem Vorliegenden mein Testament finden. Ich habe zwei Abschriften gemacht. Die eine behalte ich. Die andre ist diese, die ich Dich beauftrage zu veröffentlichen, falls die erste nicht ans Licht kommt. Hast Du verstanden? Basta, und wenn Du mich siehst, so ist es Dir streng verboten, mich zu belästigen ... mir Ratschläge zu geben, wie es Deine verfluchte Angewohnheit ist. Du bist die einzige Person, der ich traue, aber im übrigen habe ich nur zu befehlen, und Du hast nur zu gehorchen. Also alle Belästigungen sind überflüssig und unstatthaft.
Ich grüße Dich
als Dein affektionierter Herr
Edler Franco Maironi.
Cressogno, 22. September 1828.«
»Hier das Testament,« sagte Gilardoni feierlich, Franco ein andres vergilbtes Blatt reichend. »Aber das lesen Sie nicht laut vor.«
Auf dem Blatt stand geschrieben:
»Ich, der Unterzeichnete, Edler Franco Maironi, will mit diesem meinem letzten Willen über mein Vermögen verfügen.
Da Donna Ursula Maironi, geborene Marchesa Scremin, sich herabgelassen hat, neben vielen andern Huldigungen auch die meinen anzunehmen, hinterlasse ich ihr als Zeichen meiner Dankbarkeit ein für allemal zehntausend mailändische Lire und den für sie oder für den gesetzlich in den Registern des Kirchspiels der Kathedrale in Brescia als meinen Sohn eingetragenen Don Alessandro Maironi wertvollsten Schmuck des Hauses.
Ich hinterlasse diesem meinem Sohne das ihm gesetzlich zustehende Pflichtteil meines Vermögens und außerdem drei Parpagliole Alte lombardische Münze im Wert von drei toskanischen Soldi. täglich als Zeichen meiner besonderen Wertschätzung.
Ich hinterlasse meinem Verwalter in Brescia, Herrn Grisi, wenn er sich zur Zeit meines Todes in meinen Diensten befindet, alles, was er mir gestohlen hat.
Ich hinterlasse meinem Verwalter in Valsolda, Carlino Gilardoni, unter der Bedingung wie oben, vier mailändische Lire pro Tag, auf die Dauer seiner Lebenszeit.
Ich wünsche, daß in der Kathedrale zu Brescia, solange Donna Ursula Maironi Scremin am Leben ist, täglich eine Messe zelebriert wird für das Heil ihrer Seele.
Für den ganzen Rest meines Vermögens ernenne ich und setze ich zum Erben ein meinen Enkel Don Franco Maironi, Sohn des Alessandro.
So getan, geschrieben und unterzeichnet
am 15. April 1828.
Edler Franco Maironi.«
Franco las das Schriftstück und gab es zurück wie im Traum, ohne ein Wort. Er war tief bewegt und hatte die unklare Empfindung, sich beherrschen, die eigne Erregung unterdrücken zu müssen und sich zu sammeln, klar in der Sache und in sich selbst zu sehen.
»Haben Sie gesehen?« fragte der Professor. Bei diesem Punkt erreichte die Aufregung Gilardonis ihren Gipfel.
»Warum ich nicht eher gesprochen habe, he?« fuhr er fort. »Das ist eben die Geschichte, daß von einem positiven, klaren, präzisen Warum nicht die Rede ist, ich kann es nicht sagen! Diese Papiere haben mir Grauen eingeflößt. Wenn es sich um mich, um meinen Vater, um meine Mutter gehandelt hätte, würde ich lieber auf eine Million verzichtet, als sie mit diesen Papieren in der Hand eingefordert haben. Jetzt bin ich wieder ein Esel, das zu sagen; tun Sie, als hätte ich es nicht gesagt, denn in Ihrem Falle ist es etwas ganz andres! Ich sagte, an meiner Stelle, mein Herr, Sie verstehen. Also mir schien – sehen Sie, was für ein Narr –, daß die Großmutter Sie sehr lieb hätte, daß der Besitz des Großvaters auf alle Fälle in Ihre Hände kommen würde; und mit dem Gedanken! ... Nach einiger Zeit frage ich Frau Teresa um Rat, zeige ihr Brief und Testament. Sie sagt mir, daß ich Sie sofort von der Entdeckung hätte benachrichtigen müssen, aber jetzt, da ihre Tochter auf eine gewisse Art mit hineingezogen werde, sie sich jedes Rats enthalte. Im übrigen sagt sie ... Doch das tut nichts zur Sache. Kurzum, ich verstehe, daß das Testament auch ihr ein Greuel ist. Sehen Sie, ich setze mir in den Kopf, daß die Großmutter schließlich doch in die Heirat willigen wird, und ich sage nichts. Heute abend erzählen Sie mir, daß die Großmutter gedroht hat, denken Sie nur! Jetzt begreifen Sie, daß ich nicht warten konnte, daß ich die Papiere nicht einen Augenblick länger behalten konnte; hier sind sie, nehmen Sie sie!«
Franco, in seine eignen Gedanken versunken, hörte nur diese letzten Worte. »Nein,« sagte er, »ich nehme sie nicht. Ich kenne mich. Wenn ich sie in Händen habe, könnte ich allzuschnell etwas zu Folgenschweres tun. Für jetzt behalten Sie sie.« Gilardoni wollte davon nichts wissen, und Franco hatte einen seiner Ausbrüche von Ungeduld. Nichts irritierte übrigens seine Nerven mehr als diese haltlosen Ergüsse von Menschen mit gutem Herzen und zerfahrenem Geist. Er ereiferte sich, weil Gilardoni sich ihm widersetzte, er gab ihm zu verstehen, daß dieses um jeden Preis sich von den Schriftstücken befreien wollen purer Egoismus sei, und daß, wenn man Fehler beginge, man die Folgen tragen müsse. Das waren ungefähr die Worte; sein gereiztes Gesicht, seine harten Mienen sagten viel Schlimmeres. Gilardoni, dunkelrot im Gesicht, war empört über diese Anschuldigung des Egoismus, aber er hielt an sich; und nachdem auch er zornig die Stirn gerunzelt hatte, steckte er, indem er »gut, gut, gut, gut« sagte, hastig die Schriftstücke in die Tasche und ging ohne weiteres hinaus. Um sein Gewissen zu beruhigen, überzeugte Franco sich selbst sofort, daß Herr Beniamino im höchsten Grade im Unrecht sei; er hatte unrecht, ihm die Schriftstücke nicht schon früher überreicht zu haben, unrecht, sie jetzt nicht behalten zu wollen, unrecht, beleidigt zu sein. Sicher, mit dem unentschlossenen Philosophen doch wieder Frieden zu machen, beschäftigte er sich nicht weiter mit ihm, löschte das Licht, kehrte zu seinem Lehnsessel zurück und versank von neuem in Nachdenken.
Jetzt begann er klar zu sehen. Er konnte sich dieses für seine Großmutter in Form und Inhalt so beschimpfenden Testaments ehrenhalber nicht bedienen wegen des Verdachtes der verbrecherischen Unterschlagung, der durch den Brief erzeugt wurde; wenig ehrenvoll auch für seinen Vater. Nein, niemals. Man mußte dem Professor sagen, daß er alles verbrennen sollte. So, Frau Großmutter, werde ich über dich triumphieren; ich lasse dir Gut und Ehre, ohne mir die Mühe zu nehmen, es dir zu sagen! Im Vorgenuß dieses Planes fühlte Franco sich so leicht, als ob er Schwingen hätte, zufrieden mit sich selbst wie ein König, die Seele erleuchtet und beruhigt in einem aus Großmut und Stolz gemischten Gefühl. Trotz seines Gottesglaubens und seiner christlichen Übungen war er weit entfernt zu vermuten, daß eine solche Empfindungsweise nicht vollkommen gut und eine weniger selbstbewußte Großmut edler gewesen wäre.
Er ließ sich in die Lehne des Armstuhles sinken, mehr als vorher geneigt auszuruhen, und überdachte in aller Ruhe alles, was er gelesen, was er gehört hatte, wie jemand, der sich beinahe auf eine gewagte Spekulation eingelassen hätte und die Angst und das Unheil, das nun für immer vermieden, objektiv betrachtet. In seiner Seele regte es sich, und alte Erinnerungen wollten emportauchen. Es fielen ihm die Reden einer alten Dienerin über den Reichtum des Hauses Maironi ein, der den Armen gestohlen sei. Er war damals noch ein Kind gewesen, und das Mädchen hatte keine Scheu getragen, in seiner Gegenwart zu sprechen. Aber auf den Knaben hatte es einen tiefen Eindruck gemacht, der später, als er sich dem Jünglingsalter näherte, noch einmal Nahrung erhielt durch einen Priester, der ihm mit geheimnisvoll feierlicher Miene und vielleicht nicht ohne Absicht erzählt hatte, das Vermögen der Maironi rühre von einem Prozeß gegen das Ospitale Maggiore in Mailand her, den sie gegen alles Recht, gewonnen hätten.
›So ist für mich,‹ dachte Franco, ›alles wieder wie es war.‹
Es fiel ihm ein, daß es spät sein könnte, er zündete das Licht wieder an und sah nach der Uhr. Es war halb vier. Jetzt war es ihm nicht mehr möglich zu ruhen. Der Augenblick, wo er sich von neuem mit Luisa vereinen sollte, war zu nahe, seine Einbildungskraft zu lebhaft. Noch anderthalb Stunden! Alle Augenblicke sah er auf die Uhr; die verwünschte Zeit wollte nicht vergehen. Er nahm ein Buch und konnte nicht lesen. Er öffnete das Fenster, die Luft war mild, tiefes Schweigen, der See hell nach dem S. Salvatore, der Himmel sternenklar. In Oria sah man ein Licht. Sein Schicksal war vielleicht, dort zu leben, im Hause des Oheims. Indem er zerstreut nach dem leuchtenden Punkt blickte, begann er, sich die Zukunft auszumalen, immer wechselnde Phantome. Gegen halb fünf hörte er die Glocke im unteren Stockwerk anschlagen, und bald darauf kam Pinella, um ihm im Namen seines Herrn zu sagen, daß, wenn er den Weg nach Boglia machen wollte, es Zeit sei aufzubrechen. Der Herr habe starken Kopfschmerz und könne weder aufstehen noch ihn empfangen. Franco suchte auf dem Schreibtisch ein Stück Papier und schrieb darauf:
» Parce mihi, domine, quia brixiensis sum.«
Dann ging er hinaus, von Pinella mit der Lampe bis zu dem dunkeln Säulengang begleitet, wo er die Straße nach Castello einschlug und verschwand.
*
Um halb sieben klingelte die Marchesa Ursula und befahl der Kammerfrau, die gewohnte Schokolade zu bringen. Sie trank die gute Hälfte und fragte dann mit aller Gleichgültigkeit, um welche Zeit Don Franco zurückgekommen sei.
»Er ist nicht zurückgekommen, Frau Marchesa.«
Innerlich zuckte etwas zusammen, aber keine Muskel im Gesicht der Greisin bewegte sich. Sie berührte mit den Lippen den Rand der Tasse, sah die Kammerfrau an und sagte vollkommen ruhig:
»Bringen Sie mir eins von den Biskuits von gestern.«
Gegen acht erschien die Kammerfrau wieder, um zu melden, daß Don Franco zurückgekehrt, aber nur in sein Zimmer gegangen sei, um sich seinen Paß zu holen, dann sei er wieder heruntergekommen und habe den Diener beauftragt, ihm einen Fährmann zu besorgen, der ihn nach Lugano bringen sollte. Die Marchesa ließ kein Wort verlauten, aber später ließ sie ihren Vertrauten Pasotti benachrichtigen, daß sie ihn erwarte. Pasotti erschien sofort und blieb eine gute halbe Stunde bei ihr. Die Dame wollte durchaus in Erfahrung bringen, wo und wie ihr Enkel die Nacht zugebracht hätte. Pasotti hatte schon einiges aufgelesen und konnte ihr gewisse vage Gerüchte über einen nächtlichen Besuch Don Francos im Hause Rigey vorsetzen; aber es wurden genaue und sichere Mitteilungen verlangt. Der verschlagene Tartüff, von Natur neugierig wie ein Spürhund, der jeden Schmutz aufwühlt, seine Schnauze in jede Öffnung steckt und sie an jeder Hose abreibt, versprach der Frau Marchesa, sie ihr binnen weniger Tage zu liefern, und empfahl sich mit funkelnden Augen, sich die Hände reibend, in der Erwartung einer unterhaltenden Jagd.