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Zweiter Teil.

 


 

Erstes Kapitel.
Fischer

Doktor Francesco Zerboli, K. K. Kommissär von Porlezza, landete am 10. September 1854 am K. K. Zollamt von Oria, gerade als eine wahrhaft kaiserliche und königliche Sonne über das mächtige Bollwerk der Galbiga sich erhob, das rosa Häuschen des Zollamts, die Oleander und Bohnen der Frau Peppina Bianconi vergoldete und dem Reglement gemäß deren Gatten, Herrn Carlo Bianconi, ins Amt rief, jenen Steuereinnehmer, dem geschriebene Noten nach Verschwörung rochen. Bianconi, den seine Gattin »mein Carlascia« und der Volksmund »den Biancon« nannte, ein großer, grobknochiger, harter Mann, mit rasiertem Kinn, einem grauen Schnauzbart und zwei vorstehenden, erloschenen Augen, wie die eines treuen Hofhunds, kam herunter, um das andre K. K. ausrasierte Kinn der höheren Rangklasse zu empfangen. Die beiden hatten sonst keine Ähnlichkeit als in der österreichischen Nacktheit des Kinns. Zerboli, schwarz gekleidet und behandschuht, war klein und untersetzt und trug einen blonden Schnurrbart, der in dem gelblichen Gesicht, in dem zwei sarkastische und durchdringende Äuglein funkelten, angeklebt schien. Seine Haare waren ihm so tief in der Stirn angewachsen, daß er einen Streifen davon zu rasieren pflegte und der stehenbleibende Schatten ihm fast etwas Bestialisches verlieh. Er war äußerst behende von Person, von Augen und mit der Zunge und sprach ein näselndes, trentinisch gefärbtes Italienisch mit leicht flüssiger Höflichkeit. Er sagte dem Zolleinnehmer, er müsse in Castello eine Versammlung des Gemeinderats abhalten und habe vorgezogen, so zeitig zu kommen, um den Aufstieg in der Morgenfrische von Oria aus anstatt von Casarico oder von Albogasio zu machen und sich zugleich das Vergnügen zu verschaffen, den Herrn Zolleinnehmer zu begrüßen.

Das treue Haustier verstand nicht sofort, daß er noch einen andern Zweck habe, dankte mit einer Mischung von unterwürfigen Phrasen und blödem Lachen, rieb sich die Hände und bot Kaffee, Milch, Eier, die frische Luft des Gärtchens an. Den Kaffee nahm er an, aber die frische Luft wies er mit einem Schütteln des Kopfes und einem so beredten Augenblinzeln zurück, daß Carlascia, der »Peppina! Kaffee!« die Treppe hinaufgerufen hatte, den Herrn Kommissär in die Amtsstube geleitete, wo er, seiner doppelten Natur entsprechend, sich aus dem Zollwächter in den Polizeiagenten umgewandelt fühlte und wie bei einer hochheiligen Zusammenkunft mit dem Monarchen sein Herz devot, sein Gesicht streng und ernst umstimmte. Diese Amtsstube war ein unwürdiges Loch zu ebener Erde, mit zwei vergitterten Fenstern, eine primitive, verpestete Zelle, die den üblen Duft der großen Monarchie schon in sich trug. Der Kommissär pflanzte sich auf einem Stuhl in der Mitte auf und sah auf die geschlossene Tür, die vom Landungsplatz zum Vorzimmer führte; die vom Vorzimmer in die Amtsstube führende war auf seinen Befehl offen geblieben.

»Sprechen Sie mir von Herrn Maironi,« sagte er.

»Stetig überwacht,« erwiderte der Biancon. Dann fügte er in seinem Italienisch von Porta Tosa hinzu: »Erlauben Sie, hier habe ich einen beinahe fertiggestellten Rapport.« Und er begann, unter seinen Papieren nach dem Rapport und nach seiner Brille herumzustöbern.

»Sie können ihn schicken, Sie können ihn schicken,« meinte der Kommissär, der von der Prosa des Tölpels nicht viel erwartete. »Sprechen Sie nur inzwischen, reden Sie!«

»Immer übelgesinnt, das wußte man ja,« begann der beredte Einnehmer, »aber jetzt sieht man es auch. Läßt er sich's nicht einfallen, diesen Bart zu tragen, Sie wissen ja, diese Fliege, dies Kinnbärtchen, diesen Dreck, diese Schweinerei ...«

»Entschuldigen Sie,« sagte der Kommissär. »Sehen Sie, ich bin noch neu; ich habe Instruktionen, ich habe Informationen, aber eine rechte Vorstellung von dem Manne und von der Familie, die habe ich noch nicht. Die müssen Sie mir nun so recht von Grund aus beschreiben, so gut sie können. Und da wollen wir denn mit ihm den Anfang machen.«

»Er ist hochmütig, jähzornig, unverschämt. An die fünfzigmal hat er hier gewiß schon Händel gesucht wegen Einschätzungsgeschichten. Immer will er recht haben, immer möchte er uns Lektionen erteilen, mir und dem Sedentarius. Augen macht er, als ob er das ganze Amt auffressen möchte. Mit mir übrigens soll's ihm schwer werden, den Unverschämten zu spielen, wenn die übrigen ...! Denn, das muß man sagen, alles weiß er. Er kennt die Gesetze, er kennt die Steuerverwaltung, er weiß Bescheid mit Musik, mit Blumen, mit Fischen, mit der Teufel weiß was noch.«

»Und sie?«

»Sie? Sie, sie, sie, sie ... sie ist eine Katze, aber wenn sie die Krallen zeigt, ist sie schlimmer als er; viel schlimmer! Er, wenn er in Zorn kommt, wird rot und macht einen Lärm für tausend; sie wird blaß und sagt einem Impertinenzen. Eben hab' ich gesagt, Impertinenzen dulde ich nicht ... aber schließlich ... Sie verstehen mich. Eine Frau von Talent, wissen Sie. Meine Peppina ist ganz verliebt in sie. Und eine Frau, die sich in alles einmischt. Wie oft lassen sie hier in Oria sie rufen, anstatt den Doktor kommen zu lassen. Wenn's in einer Familie Streit gibt, gehen sie zu ihr; wenn ein Vieh Bauchschmerzen hat, lassen sie sie kommen. Und im Karneval ist sie auch noch so gut, ihnen allerhand vorzumachen, Puppentheater, wissen Sie. Und in jetzigen Zeiten ist's ein reines Unglück, daß sie Klavier spielt und Französisch und Deutsch kann. Ich kann unglücklicherweise kein Deutsch und bin ab und zu einmal zu ihr gegangen, um mir deutsche Briefe, die im Amt eingelaufen waren, übersetzen zu lassen.«

»Ah, Sie gehen ins Haus Maironi?«

»Ja, ab und zu, zu diesem Zweck.«

In Wahrheit ging der Tölpel auch hin, um sich von Franco gewisse Rätsel des Zolltarifs lösen zu lassen; aber davon sagte er nichts.

Das Verhör nahm seinen Fortgang.

»Und das Haus, auf welchem Fuß wird es geführt?«

»Sehr gut geführt. Schöne venetianische Fußböden, gemalte Decken, Sofa und Teppiche, Klavier, im Speisezimmer Bilder, daß es eine Pracht ist.«

»Und der Oberingenieur?«

»Der Oberingenieur ist ein guter, braver Mann, heiter, von altem Schrot und Korn; er ähnelt mir. Aber älter natürlich. Er ist übrigens wenig hier. Vierzehn Tage zu dieser Jahreszeit, andre vierzehn Tage im Frühling und einige kurze Besuche während des Jahres. Wenn er seine Ruhe und seinen Frieden hat, morgens und abends seine Milch, mittags seinen halben Fiasco Wein, sein Tarock und seine Mailänder Zeitung, dann ist der Ingenieur Ribera zufrieden. Übrigens, um auf Herrn Maironis Bart zurückzukommen, da gibt's noch Schlimmeres. Gestern habe ich erfahren, daß der Herr eine Jasminpflanze in ein hölzernes, rotlackiertes Gefäß gesetzt hat.«

Der Kommissär, ein gescheiter Mann, dem im Innersten seiner Seele vermutlich jede Farbe, außer der seines eignen Gesichts und seiner eignen Zunge, ziemlich gleichgültig war, konnte doch nicht umhin, mit den Achseln zu zucken. Aber dann fragte er plötzlich:

»Steht die Pflanze in Blüte?«

»Ich weiß nicht, ich will die Frau fragen.«

»Wen? Ihre Frau? Geht Ihre Frau ins Haus Maironi?«

»Ja, ab und zu geht sie hin.«

Zerboli bohrte seine geringschätzenden Äuglein fest in Bianconis Gesicht und artikulierte sehr deutlich die Frage:

»Geht sie mit Nutzen hin oder nicht?«

»Aber! Mit Nutzen! Je nachdem! Sie bildet sich ein, als Freundin von Frau Luisina hinzugehen, der Blumen wegen, wegen einer Arbeit, wegen einer Klatscherei und irgendwelchen Schnickschnacks. Ich ziehe dann heraus ...«

»Da bin ich! Da bin ich!« rief in ihrem Italienisch von der Porta Ticinese über und über lächelnd Frau Peppina Bianconi, mit dem Kaffee eintretend. »Der Herr Kommissär! Wie mich das freut, Sie zu sehen! Der Kaffee wird wohl leider nicht der beste sein, obgleich's die erste Sorte ist. Das schlimmste ist, daß man ihn nicht einmal in Lugano kaufen kann!«

»Papperlapapp!« machte barsch der Gatte.

»Teufel auch, ich sag's ja nur zum Spaß! Sie haben's verstanden, nicht wahr, Herr Kommissär? Dieser gesegnete Grobian versteht nie etwas! Für mich halte ich keinen Kaffee, das können Sie glauben! Höchstens Eibischtee halte ich für mich, gegen Schwindel im Kopf.«

»Schwatz nicht so viel, schwatz nicht so viel!« unterbrach sie der Gatte. Der Kommissär stellte die geleerte Tasse hin und sagte zu der guten Frau, daß er später kommen würde, um ihre Blumen anzusehen, und diese Galanterie wirkte so, wie wenn im Kaffeehaus jemand tönend sein Geld auf das Präsentierbrett wirft, damit der Kellner es nehme und sich entferne.

Frau Peppina verstand, und zudem durch die hervorstehenden, drohenden Augen ihres Carlascia erschreckt, zog sie sich eiligst zurück.

»Hören Sie, hören Sie, hören Sie,« machte der Kommissär, indem er sich die Stirn bedeckte und die Schläfe mit der linken Hand drückte. »Ach ja!« rief er, plötzlich sich erinnernd. »Ach ja, was ich noch wissen wollte: ist der Ingenieur Ribera jetzt in Oria?«

»Augenblicklich ist er nicht hier, aber ich glaube, daß er in wenigen Tagen kommen wird.«

»Gibt der Ingenieur Ribera viel für diese Maironis aus?«

»Er gibt sehr viel aus. Ich glaube nicht, daß Don Franco aus eignem mehr als drei Zwanzigkreuzerstücke täglich hat. Und sie ...« Der Einnehmer blies in die flache Hand. »Sie verstehen also. Sie haben eine Hausmagd. Dann das Kind von zwei Jahren oder so etwas, dann das Kindermädchen. Sie lassen Blumen kommen, Bücher, Noten, Gott weiß was. Abends wird Tarock gespielt, Wein getrunken. Dazu gehören Zwanziger, Sie verstehen?«

Der Kommissär dachte ein wenig nach, und dann gab er mit nebelhaftem Gesichtsausdruck, die Augen zur Decke gerichtet, mit einigen unzusammenhängenden Worten, die wie Bruchstücke eines Orakels klangen, zu verstehen, daß der Ingenieur Ribera, ein K. K. Beamter, der erst kürzlich von der K. K. Regierung mit einer Beförderung in loco ausgezeichnet worden sei, auf seine jungen Verwandten einen besseren Einfluß hätte ausüben müssen. Dann brachte er mit neuen Fragen und neuen Bemerkungen, die sich hauptsächlich auf die gegenwärtigen Schwächen des Ingenieurs bezogen, Bianconi bei, daß seine väterliche Aufmerksamkeit sich mit besonderer Delikatesse und Heimlichkeit dem K. K. Kollegen zuzuwenden habe, um nötigenfalls die Obrigkeit über eine Duldsamkeit, die eventuell skandalös wäre, aufzuklären. Zum Schluß fragte er ihn, ob er nicht wisse, daß der Advokat V. von Varenna und ein andrer von Loveno ziemlich häufig die Maironis besuchten. Der Einnehmer wußte es und wußte durch seine Peppina, daß sie kämen, um zu musizieren. »Das glaube ich nicht!« rief der Kommissär mit plötzlicher und ungewohnter Schroffheit. »Ihre Frau versteht gar nichts. Sie läßt sich einfach an der Nase herumführen. Diese zwei sind Subjekte, die nach Kufstein gehörten. Sie müssen sich besser informieren! Sich informieren und mich informieren! Und jetzt wollen wir in den Garten gehen. Apropos, wenn für die Marchesa etwas von Lugano kommen sollte ...«

Zerboli vollendete den Satz durch eine Bewegung von anmutiger Liberalität; darauf schritt er in den Garten, gefolgt von dem einigermaßen verdrossenen Hofhund.

Man fand Frau Peppina, wie sie mit Hilfe eines kleinen Buben ihre Blumen begoß. Der Kommissär besichtigte und bewunderte sie und fand dabei auch Mittel und Wege, dem untüchtigen Spitzel eine kleine Lektion zu erteilen. Indem er ihre Blumen lobte, brachte er geschickt die Bianconi dahin, Franco zu nennen, hielt sich aber bei Francos Person gar nicht auf, als ob sie ihn nicht im geringsten interessiere. Er hielt sich an die Blumen und behauptete, daß Maironi unbedingt keine schöneren haben könne. Gequiek, Gestöhn und Gegenvorstellungen der bescheidenen Frau Peppina, die so weit ging, sich über den bloßen Vergleich zu schämen. Der Kommissär beharrte. Wieso? Auch die Fuchsien des Hauses Maironi wären schöner? Auch die Heliotrope? Auch die Pelargonien? Auch der Jasmin?

»Der Jasmin?« meinte Frau Peppina. »Aber Herr Maironi hat ja den allerschönsten Jasmin im ganzen Valsolda, lieber Herr!«

So brachte der Kommissär es auf die natürlichste Weise heraus, daß der berühmte Jasmin noch nicht blühte. »Don Francos Dahlien möchte ich wohl sehen,« sagte er. Die unschuldige Kreatur erbot sich, ihn noch an jenem Tage in das Haus Ribera zu begleiten: »Es wird ihnen das größte Vergnügen machen!« Aber der Kommissär drückte den Wunsch aus, die Ankunft des K. K. Oberingenieurs der Provinz zu erwarten, um Gelegenheit zu haben, ihm seine Verehrung zu beweisen, und Frau Peppina machte: »Das ist gescheit!« zum Zeichen ihrer Zustimmung. Inzwischen stieg in dem durch diese überlegene Art gedemütigten Hofhund der Wunsch auf zu zeigen, daß es ihm zum mindesten an Eifer nicht fehle, und er ergriff den Buben mit der Gießkanne im Arm, um ihn vorzustellen:

»Mein Neffe. Sohn meiner in Bergamo mit einem K. K. Portier am Polizeiamt verheirateten Schwester. Auf meinen Wunsch hat er die Ehre, Franz Joseph zu heißen; Sie verstehen aber, daß er aus pflichtschuldigem Respekt für gewöhnlich nicht so gerufen werden kann.«

»Seine Mutter nennt ihn Ratì, und sein Vater nennt ihn Ratù, können Sie sich das vorstellen?« fuhr seine Tante dazwischen.

»Still, du da!« sagte streng der Onkel. »Ich nenne ihn Franz. Er ist ein wohlerzogener Junge, das muß ich sagen, sehr wohlerzogen. Sag mal, Franz, was wirst du tun, wenn du groß bist?«

Ratì antwortete geläufig, als ob er den Katechismus aufsage:

»Wenn ich groß bin, werde ich mich stets als treuer und ergebener Untertan Seiner Majestät unsers Kaisers aufführen und außerdem als guter Christ; und ich hoffe, eines Tages mit der Hilfe des Herrn K. K. Zolleinnehmer zu werden wie mein Onkel, um später den Lohn meiner guten Werke im Paradiese zu empfangen.«

»Bravo, bravo, bravo!« rief Zerboli, Ratì streichelnd. »Fahre so fort, mein Sohn.«

»Daß Sie's nur wissen, Herr Kommissär,« entfuhr es Frau Peppina, »diesen Morgen erst hat mir der Schlingel den Zucker aus der Zuckerschale gemaust!«

»Was, was, was?« schrie Carlascia, vor Überraschung aus dem Ton fallend. Schnell aber faßte er sich wieder und urteilte: »Deine Schuld! Was hältst du die Dinge nicht unter Verschluß! Gelt, Franz?«

»Natürlich,« erwiderte Ratì; und der Kommissär, von diesem Zank und diesem lächerlichen Ausgang seiner väterlichen Phrase angewidert, verabschiedete sich kurz angebunden.

Kaum war er fort, so verabfolgte Carlascia mit einem »Da hast du was für den Zucker!« an Franz Joseph, der etwas ganz andres erwartet hatte und nun schleunigst unter die Bohnen flüchtete, eine schallende Ohrfeige. Dann berichtigte er die Rechnung seiner Frau mit einem ordentlichen Rüffel und dem Eide, fortan werde er den Zucker an sich nehmen, und als sie sich erlaubte zu entgegnen: »Was um alles in der Welt ärgert dich denn so?« unterbrach er sie: »Alles ärgert mich! Alles ärgert mich!« und wendete ihr den Rücken. Schnaubend und bebend ging er mit großen Schritten zu dem Platz, wo die aufmerksame Gattin ihm die Angelschnur und Köder aus Polenta vorbereitet hatte, und befestigte die beiden starken, für die Schleie bestimmten Angelhaken. Da früher diese kleine Welt viel abgesonderter von der großen Welt war als jetzt, war sie auch viel mehr als jetzt eine Welt der Ruhe und des Friedens, in der die Beamten des Staats und der Kirche und, deren ehrwürdigem Beispiele folgend, auch alle übrigen treuen Untertanen sich mehrere Stunden des Tages einer beschaulichen Betrachtung widmeten. Der Herr Einnehmer schleuderte zuerst nach Westen zwei an einer Spitze befestigte Angelhaken, zwei verräterische Bissen Polenta, so weit vom Ufer entfernt, als er nur irgend konnte; und als die Schnur sich schön ausgestreckt und der Kork, der sogenannte Schwimmer, gewissermaßen friedlich sich verankert hatte, lehnte der K. K. Mann die Angelrute vorsichtig gegen die Mauer, setzte sich und versank in Betrachtung. Östlich von ihm kauerte auf dem bescheidenen Steindamm des Landungsplatzes der Finanzwächter, den sie damals »den Sedentarius« nannten, vor einem andern Kork, rauchte seine Pfeife und war in Betrachtung versunken. Wenige Schritte weiter saß der alte, ausgemergelte Cüstant, emeritierter Anstreicher, Sakristan und Kirchenaufseher, ein Patrizier des Dorfes Oria, auf dem Vorderteil seines Bootes, mit einem turmhohen, prähistorischen Zylinder auf dem Kopf, mit der magischen Rute in der Hand, mit den Beinen im Wasser baumelnd, die Seele auf seinen eignen Kork konzentriert, in Betrachtung versunken. Am Rande eines kleinen Feldes, im Schatten eines Maulbeerbaums und eines riesigen schwarzen Strohhutes, saß der magere, kleine, bebrillte Don Brazzova, Pfarrer von Albogasio, vom klaren Wasser widergespiegelt, in Betrachtung versunken. In einem Garten von Albogasio Inferiore saß zwischen dem Ufer des Ceròn und dem Ufer von Mandroeugn auf einem Stuhl aus dem siebzehnten Jahrhundert hart und feierlich ein andrer Patrizier, in Jackett und dicken Schuhen, der Aufseher beim Kirchenbau Bignetta, genannt der Herr Gernegroß, mit der berühmten Rute in der Hand, und überwachte sie, in Betrachtung versunken. Unter dem Feigenbaum vom Cadate stand in tiefer Betrachtung Don Giuseppe Costabarbieri. In San Mamette hingen mit großer Aufmerksamkeit der Doktor, der Apotheker und der Schuhmacher über dem Wasser, in Betrachtung versunken. In Cressogno war der blühende Koch der Marchesa in Betrachtung versunken. Gegenüber von Oria, am schattigen, einsamen Gestade des Bisgnago, pflegte ein würdiger Erzpriester aus der Lombardei in jedem Jahre vierzig Tage eines beschaulichen Lebens zu verbringen. Einsam und mit den Abzeichen seiner Würde bekleidet, saß er in Betrachtung versunken, mit drei Ruten zu seinen Füßen, betrachtete die drei dazugehörigen friedlichen Korke, zwei mit den Augen und einen mit der Nase. Wer etwa, um den See gehend, von oben alle diese nachdenklichen, über das Wasser geneigten Gestalten hätte unterscheiden können, ohne die Ruten, die Schnüre und die Korke zu sehen, der würde sich unter ein Volk von asketischen Einsiedlern versetzt geglaubt haben, das, losgelöst von der Erde, den Himmel der größeren Bequemlichkeit wegen hier unten in dem klaren Spiegel betrachtete.

Tatsächlich aber angelten alle diese Asketen nach Schleien, und kein Mysterium der menschlichen Zukunft war für sie von größerer Wichtigkeit als die Mysterien, die geheimnisvoll der kleine Kork andeutete, wenn er, als ob er von einem Geist besessen wäre, immer deutlichere Zeichen von Unruhe und schließlich von völliger Verrücktheit gab; denn nach verschiedenem Rütteln und Stoßen vorwärts und rückwärts gelangte er schließlich zu dem verzweifelten Ausweg, sich in völliger Ideenverwirrung kopfüber in den Abgrund zu stürzen. Diese Erscheinungen traten aber selten auf, und viele Beschauer pflegten halbe Tage lang hinzubringen, ohne auch nur die kleinste Unruhe an ihren Korken zu bemerken. Dann spann ein jeder, ohne die Augen von dem kleinen schwimmenden Gegenstand abzuwenden, seinen unsichtbaren Gedankenfaden weiter, der der Schnur der Angel parallel lief. So geschah es zuweilen dem Erzpriester, daß er im Geiste einen bischöflichen Stuhl fischte, dem Herrn Gernegroß, daß er einen Wald, der seinen Großvätern gehört hatte, fischte, dem Koch, daß er einen gewissen rosigblonden Bergschlei fischte, dem Cüstant, daß er einen Regierungsauftrag, den Pic von Cressogno zu tünchen, fischte. Was Carlascia anbetrifft, so hatte sein zweiter Faden in der Regel einen politischen Charakter. Und das wird man um so besser verstehen, wenn man weiß, daß auch der Hauptfaden, der an der Angel, in seinem verschlafenen Dickschädel häufig gewisse, vom Kommissär Zerboli ihm eingegebene politische Betrachtungen anregte. »Sehen Sie, lieber Einnehmer,« hatte ihm eines Tages Zerboli gesagt, als er gelegentlich über den Mailänder Aufstand vom 6. Februar seine Betrachtungen anstellte. »Sie, der Sie Angler sind, können die Sache sehr gut verstehen. Unsre große Monarchie fischt mit der Angel. Die beiden Köder sind die Lombardei und Venetien, zwei schöne, runde, verführerische Köder, mit gutem Eisen inwendig. Unsre Monarchie hat sie ausgeworfen, vor jenes dumme Fischlein, das Piemont ist. Dieses hat im Jahre achtundvierzig auf den Köder Lombardei angebissen, aber dann hat es ihn ausspeien und von sich geben können. Mailand ist unser Kork. Wenn Mailand sich rührt, so will das sagen, daß das Fischchen drunter ist. Vergangenes Jahr hat der Kork sich gerührt, aber nur wenig: das liebe Fischchen hatte den Köder gerade beschnuppert. Warten Sie, und die große Bewegung wird kommen, wir werden den Zug machen, es wird ein bißchen Lärm und ein bißchen Kampf geben, und wir werden fest ziehen, und unser Fischlein werden wir uns nicht mehr entkommen lassen, diesen weiß-rotgrünen Frischling.«

Bianconi hatte laut herausgelacht, und nun kaute er, wenn er beim Fischen saß, häufig zu seinem eignen Vergnügen den sinnigen Vergleich wieder, aus dem ihm in der Regel andre feine und tiefe politische Gedanken geboren wurden. An diesem Morgen war der See ruhig, so recht geeignet zur Beschaulichkeit. Man sah die Algen auf dem abschüssigen Grunde aufrecht stehen, ein Zeichen, daß es keine Strömungen gab. Die weit hinausgeschleuderten Köder sanken langsam senkrecht herab, die Schnur legte sich unter dem Kork weit aus, der ein wenig hinter ihr herschwamm, durch viele kleine Ringe die Anziehung auf die kleinen Gründlinge verratend, und setzte sich dann zur Ruhe, ein Zeichen, daß die Köder sich's auf dem Grunde bequem gemacht hatten und die Gründlinge sie nicht mehr berührten. Der Fischer lehnte die Rute an die Mauer und begann über den Ingenieur Ribera nachzudenken.

Bianconi besaß, ohne es selbst zu ahnen, eine gewisse Dosis von Milde in einem doppelten Boden, den Gott ihm, ohne ihn davon in Kenntnis zu sehen, in seinem Herzen verliehen hatte. Die Welt bekam übrigens Gelegenheit, sich davon zu überzeugen, als im Jahre 1859 das liebe kleine Fischchen den Köder Lombardei verschlang mitsamt dem Angelhaken und der Schnur und der Angelrute und dem Kommissär und allem übrigen, und Bianconi sich resigniert dazu entschloß, nationalen und konstitutionellen Kohl in Precotto zu bauen. Ungeachtet dieser versteckten Milde empfand er, als er so die Rute aus der Hand legte und daran dachte, daß es sich darum handle, diesen armen, alten Ingenieur Ribera zu fischen, ein eigentümliches Wohlgefallen, nicht im Herzen, nicht im Gehirn, noch in irgendeinem der gewohnten Sinne, sondern in einem ihm besonders eignen, dem ausschließlichen K. und K. Sinne. Er hatte in der Tat gar kein Bewußtsein von sich als einem vom Organismus der österreichischen Regierung unterschiedenen Organismus. Als Einnehmer einer kleinen Grenzzollstation betrachtete er sich als eine Nagelspitze vorn an einem Finger des Staates; als Polizeiagent ferner betrachtete er sich als ein mikroskopisches kleines Auge unter dem Nagel. Sein Leben war das der Monarchie. Wenn die Russen sie auf der Haut von Galizien kitzelten, fühlte er in Oria das Jucken. Österreichs Größe, Macht und Ruhm flößten ihm einen ungemessenen Stolz ein. Er gab nicht zu, daß Brasilien ausgedehnter sei als das österreichische Reich, oder daß China bevölkerter wäre, oder daß der Erzengel Michael Peschiera einnehmen könne, oder der liebe Herrgott Verona. Sein wahrer Gott war der Kaiser; er verehrte den im Himmel als einen Verbündeten dessen in Wien.

So war ihm nie auch nur der Verdacht gekommen, der Oberingenieur könne ein schlechter Untertan sein. Die Worte des Kommissärs, die ein Evangelium für ihn waren, überzeugten ihn ohne weiteres davon; und die Vorstellung, diesen treulosen Diener in Schußweite zu haben, entflammte seinen Eifer als königliches Auge und kaiserlicher Nagel. Er hieß sich einen Esel, daß er ihn nicht früher erkannt habe. Oho! noch war es aber Zeit, ihn ordentlich einzufangen: ordentlich, ordentlich, aber ordentlich. ›Lassen Sie mich nur machen! Lassen Sie mich nur machen, Herr ...‹

Er brach den Satz ab und griff nach der Angelrute. Der Kork hatte im Wasser einen Ring gebildet, ganz sachte, fast ohne sich zu bewegen; Zeichen eines Schleies. Bianconi zog, den Atem anhaltend, fest an der Rute. Eine neue Berührung des Korkes, ein neuer, größerer Ring; langsam gleitet der Kork über das Wasser, bleibt stehen, Bianconis Herz schlägt zum Zerspringen; wieder wandert der Kork ein kleines Stückchen an der Oberfläche des Wassers und sinkt in die Tiefe; bauz! Bianconi tut einen Zug, die Rute krümmt sich zum Bogen, so stark wird die Schnur durch eine verborgene Last niedergezogen. »Peppina, ich hab' ihn!« schreit Carlascia, der den Kopf verliert und den Fisch nicht mehr vom Ingenieur unterscheidet; »das Netz, das Netz!« Der Sedentarius drehte sich mißgünstig um. »Wen haben Sie, Herr Einnehmer?« Cüstant kocht innerlich, rührt sich nicht, noch wendet er seinen Zylinder. Ratì läuft herbei, und auch Frau Peppina läuft herbei, in der Hand die lange Stange mit dem großen, beutelförmigen Netz an der Spitze, um im Wasser den Schlei hineinzupraktizieren; denn ihn an der Schnur herauszuziehen, wäre ein zu großes Risiko. Bianconi ergreift die Schnur und zieht sie langsam, langsam an sich. Man sieht den Schlei noch nicht, aber er muß riesig sein; die Schnur kommt nur ein paar Armlängen herauf und wird dann wieder wütend nach unten gezogen; dann aber kommt sie wieder, kommt, kommt, und unten im Wasser, gerade vor der Nase der drei Personen, blitzt etwas Gelbes auf, ein enormer Schatten. »Ach, wie schön!« meint Frau Peppina mit halber Stimme. Ratì ruft: »Heilige Jungfrau, heilige Jungfrau!« und Bianconi sagt kein Wort, zieht und zieht mit großer Vorsicht. Es ist ein schöner, kurzer, dicker Fisch mit gelbem Bauch und dunklem Rücken, der aus der Tiefe heraufkommt, schief auf dem Rücken liegend, sehr gegen seinen Willen.

Die drei Gesichter gefallen ihm nicht; denn nachdem er ihnen den Schweif zugewendet und damit geschlagen hat, versucht er einen neuen wütenden Sprung in die Tiefe. Endlich aber folgt er, völlig erschöpft, der Schnur und kommt unter der Mauer an, den vergoldeten Bauch in der Luft. Peppina, rücklings auf der Brustwehr, streckt, soweit sie kann, ihre Stange aus, um den Widerstrebenden einzusacken, und kommt nicht zustande. »An der Schnauze!« schreit der Gatte. »Am Schwanz!« schrillt Ratì. Bei diesem Lärm, beim Anblick dieses fürchterlichen Geräts wehrt sich der Fisch, taucht unter; Peppina zappelt sich vergeblich ab, sie findet weder die Schnauze noch den Schwanz; Bianconi zieht, der an die Oberfläche gezerrte Fisch windet sich zu einem Knäuel, und mit einem mächtigen Ruck zerreißt er die Schnur und verschwindet zwischen dem Schaum. »Heilige Jungfrau!« brüllt Ratì; Peppina fährt fort, mit ihrer Stange das Wasser zu durchstöbern: »Wo ist der Fisch, wo steckt der Fisch?« Und Bianconi, der mit der Schnur in der Hand versteinert stehen geblieben ist, dreht sich wütend um, versetzt Ratì einen Fußtritt, packt seine Frau an den Schultern, schüttelt sie wie einen Sack mit Nüssen und überschüttet sie mit Schimpfworten. »Ist er entkommen, Herr Einnehmer?« fragt honigsüß der Sedentarius. Cüstant dreht ein wenig seine Angströhre, sieht nach dem Ort der Katastrophe, wendet sich wieder der Betrachtung seines friedlichen Korkes zu und brummelt im Tone der Nachsicht: »Äußerst unpraktisch!«

Inzwischen kehrt der Schlei zu den angestammten Algen der Tiefe zurück, übel zugerichtet, aber frei, wie sein Gegenstück, Piemont, nach Novara; und es ist zweifelhaft, ob der arme Oberingenieur das gleiche Glück haben wird.


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