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Achtes Kapitel.
Bittere Stunden

Am letzten Tag des Jahres, während Franco die bis ins kleinste gehenden Anordnungen für die Besorgung des Ziergärtchens und des Gemüsegartens aufschrieb, die er seiner Frau zurückzulassen beabsichtigte, während der Onkel zum zehnten Male sein Lieblingsbuch, »Die Geschichte der Diözese Como«, las, ging Luisa mit Maria spazieren. Es leuchtete eine milde Sonne. Schnee lag nur auf dem Bisgnago und auf der Galbiga. Maria fand ein Veilchen neben dem Kirchhof und ein zweites hinter der Calcinera. Dort war es geradezu warm, ein leichter Lorbeerduft lag in der Luft. Luisa setzte sich mit dem Rücken gegen den Berg und erlaubte, daß Maria zu ihrem Vergnügen hinaufklettere und auf dem trockenen Gras hinter ihr wieder hinuntergleite. Sie dachte nach.

Sie hatte den Professor Gilardoni seit der Weihnachtsnacht nicht wieder gesehen, und sie hätte ihn gern gesprochen, nicht um die Geschichte von dem Testament Maironi noch einmal zu hören, sondern um sich seine Unterhaltung mit Franco erzählen zu lassen, nachdem er ihm das Testament gezeigt hatte, um Francos erste Eindrücke und die Meinung des Professors kennen zu lernen. Da das Testament vernichtet worden, war das nur von psychologischer Bedeutung.

Luisas Neugier war jedoch weit entfernt von der kalten Neugier einer Beobachtenden. Das Benehmen ihres Gatten hatte sie schwer gekränkt. Immer wieder und wieder darüber nachdenkend, wie sie es seit der Weihnachtsnacht getan hatte, war sie zu der Überzeugung gelangt, daß auch das ihr gegenüber gewahrte Schweigen eine schwere Versündigung gegen ihr gutes Recht und ihre Liebe gewesen sei. Es war bitter für sie, die Achtung vor ihrem Gatten sich verringern zu fühlen, um so bitterer, als es der Vorabend seiner Abreise war und in einem Augenblick, da er Lob verdiente. So hätte sie wenigstens gern gewußt, ob, als Gilardoni ihm diese Papiere gezeigt hatte, er einen innerlichen Kampf durchgekämpft, ob wenigstens für einen Augenblick in seiner Seele das gerechtere Gefühl sich erhoben hatte. Sie stand auf, nahm Maria an der Hand und schlug den Weg nach Casarico ein.

Sie traf den Professor mit Pinella im Gemüsegarten, sagte Maria, sie möchte herumlaufen, mit Pinella spielen, aber das Kind, das immer gar zu gern den Unterhaltungen der großen Leute zuhörte, wollte durchaus nichts davon wissen. So nahm sie die Unterhaltung auf, ohne Namen zu nennen. Sie wollte mit dem Professor von gewissen Papieren, von diesen alten Briefen sprechen. Dunkelrot im Gesicht, behauptete der Professor, sie nicht zu verstehen.

Zum Glück rief Pinella Maria, um ihr ein Bilderbuch zu zeigen, und Maria, durch das Buch besiegt, lief zu ihm.

Jetzt konnte Luisa den Professor aller seiner Skrupel entheben, sie teilte ihm mit, daß sie alles von Franco selbst erfahren habe, gestand ihm, daß sie die Handlungsweise ihres Mannes nicht billige, daß sie tiefen Schmerz empfunden habe und noch empfinde.

»Warum, warum, warum?« unterbrach sie der gute Beniamino. »Nun, weil Franco nichts hatte tun wollen! Ich habe gehandelt, ich, ich!« sagte Gilardoni ganz begeistert und freudezitternd, »aber um des Himmels willen, sagen Sie Ihrem Manne nichts davon!«

Luisa war starr. Aber was hatte der Professor getan? Wann? Und wie? War denn das Testament nicht vernichtet?

Rot wie glühende Kohlen, mit verzückten Augen, seine Worte durch Zwischenbemerkungen, wie: »Aber um Gottes willen, nicht wahr? – Aber kein Wort, nicht wahr?« unterbrechend, kramte nun der Professor alle seine Geheimnisse aus, die Aufbewahrung des Testaments, seine Reise nach Lodi. Luisa hörte ihm bis zum Schlusse zu, vergrub dann ihr Gesicht in ihre Hände und seufzte tief: »Ah!«

»Habe ich unrecht getan?« rief der Professor erschreckt. »Habe ich unrecht getan, Frau Luisina?«

»Unrecht! Mehr als unrecht! Nehmen Sie es mir nicht übel, wissen Sie, es sieht so aus, als wären Sie hingegangen und hätten einen Vertrag vorgeschlagen, ein Handelsgeschäft! Und die Marchesa wird glauben, daß wir im Einverständnis sind! O mein Gott!«

Sie rang und preßte die gefalteten Hände, als wollte sie darin den Kopf eines gewissen Professors zurechtkneten.

Der arme, völlig konsternierte Professor wiederholte immer von neuem: »O du lieber Herrgott! O ich Ärmster! O was für ein Esel!« ohne jedoch völlig zu begreifen, welche Eselei er begangen hätte.

Luisa lehnte sich über die Brüstung nach dem See, um ins Wasser zu blicken. Plötzlich sprang sie auf, schlug mit dem rechten Handrücken auf die Handfläche der Linken, ihr Gesicht erhellte sich.

»Führen Sie mich in Ihr Arbeitszimmer,« sagte sie. »Kann ich Maria hier lassen?«

Der Professor bejahte und geleitete sie klopfenden Herzens in sein Studierzimmer.

Luisa nahm einen Briefbogen und schrieb hastig darauf:

 

»Luisa Maironi Rigey teilt der Marchesa Maironi Scremin mit, daß der Professor Beniamino Gilardoni zwar ihr und ihres Gatten vortrefflicher Freund ist, daß aber die unziemliche Benutzung eines für andre Zwecke bestimmten Dokuments von ihnen gemißbilligt wurde, und daß daher keine Mitteilung seitens der Marchesa erwartet noch gewünscht wird.«

 

Als sie geschrieben hatte, reichte sie den Brief schweigend dem Professor.

»O nein!« rief der Professor, nachdem er gelesen hatte. »Um des Himmels willen, schicken Sie diesen Brief nicht ab. Wenn Ihr Mann das erfährt! Bedenken Sie, was für furchtbare Unannehmlichkeiten für mich, für Sie! Und wie sollte es Ihr Mann nicht erfahren?«

Luisa antwortete nicht, sie sah ihn lange an; sie dachte dabei nicht an ihn, sie dachte an Franco, sie dachte, daß die Marchesa diesen Brief vielleicht für einen Kniff, für eine Falle halten könnte. Sie nahm ihn zurück und zerriß ihn seufzend.

Der Professor strahlte. Er wollte ihr die Hand küssen. Sie protestierte. Sie hatte es weder für ihn nach für Franco getan, sie hatte es aus andern Gründen getan! Das Opfer, das sie ihrem Zorn abringen mußte, reizte sie auch gegen Franco. »Er hat unrecht! Er hat unrecht!« wiederholte sie mit Bitterkeit im Herzen.

Weder sie noch der Professor bemerkten, daß Maria im Zimmer war. Als sie ihre Mutter hineingehen sah, hatte die Kleine nicht länger bei Pinella bleiben wollen, und Pinella hatte sie bis zur Tür des Studierzimmers begleitet, ihr geräuschlos geöffnet. Von dem Aussehen der Mutter betroffen, blieb die Kleine stehen und starrte sie mit erschrecktem Ausdruck an. Sie sah, wie sie den Brief zerriß, sie hörte sie ausrufen: »Er hat unrecht!« und fing an zu weinen. Jetzt erst gewahrte Luisa ihre Gegenwart, nahm sie in die Arme, tröstete sie und brach sofort auf.

Die letzten Worte des Professors beim Abschied waren: »Um Gottes willen, schweigen!«

»Was, schweigen?« fragte Maria sofort. Die Mutter beachtete sie nicht: alle ihre Gedanken waren anderswo. Drei- oder viermal wiederholte Maria: »Was, schweigen?« Als endlich die Mutter antwortete: »Still, genug!« schwieg sie ein Weilchen, um bald darnach, ihr lachendes Köpfchen hintenüberlegend, wie um die Mutter zu reizen, wieder anzufangen: »Was, schweigen?«

Sie wurde heftig gescholten, schwieg wieder, aber unterhalb des Kirchhofs, wenige Schritte vom Hause entfernt, fing sie von neuem an mit demselben schlauen Lachen. Luisa, die ihre ganze Kraft zusammennahm, um hinter der Maske der Gleichgültigkeit ihre Erregung zu verbergen, schüttelte sie ein wenig, das genügte, sie zum Schweigen zu bringen.

Maria war an diesem Tag sehr vergnügt. Bei Tisch, während sie mit der Mutter Possen trieb, erinnerte sie sich der auf dem Spaziergang erhaltenen Vorwürfe und sah sie von der Seite mit ihrem gewohnten halb schüchternen, halb schelmischen Lächeln an, noch einmal ihr: »Was, schweigen?« wiederholend.

Die Mutter tat, als hörte sie nicht, aber sie blieb dabei. Da brachte Luisa sie mit einem so ungewöhnlich barschen »Genug!« zum Schweigen, daß Marias Mäulchen sich leise verzog und Tränen aus ihren Augen brachen.

Der Oheim sagte: »Ach, ich Ärmster!« und Francos Gesicht verfinsterte sich. Es war klar, daß er seiner Frau Vorgehen mißbilligte.

Da Maria nicht aufhörte zu weinen, machte er seinem Ärger ihr gegenüber Luft, nahm sie in seine Arme und trug sie, die wie ein Adler kreischte, hinaus.

»Immer besser!« rief der Onkel. »Bravo!«

»Lassen Sie ihn doch,« sagte die Cia, während Luisa schwieg. »Kinder müssen den Eltern gehorchen lernen.«

»Ja, ja, das ist ganz nach meinem Geschmack,« erwiderte ihr der Herr, »geben Sie nur auch Ihre Weisheit zum besten.«

Brummend verstummte sie.

Indessen kam Franco, der Maria im Schlafzimmer in die Ecke gestellt hatte, zurück und murmelte etwas von Kinder absichtlich zum Weinen bringen vor sich hin, worauf Luisa ihrerseits ein böses Gesicht machte, zu Maria ging und sie verweint, aber schweigsam wieder hereinbrachte. Das kurze Mittagessen endete ungemütlich, weil Maria nicht mehr essen wollte, und alle waren aus diesem oder jenem Grunde verstimmt, bis auf Oheim Piero, der Maria halb ernste, halb scherzhafte kleine Reden hielt, so daß sich wieder etwas Sonnenschein über ihr Gesichtchen stahl. Nach Tisch besichtigte Franco einige Blumentöpfe, die er im Keller unter dem hängenden Gärtchen aufbewahrte, und nahm Maria mit sich. Da er sie wieder getröstet sah, befragte er sie freundlich nach der Ursache all des Unglücks.

»Was bedeutet dieses: Was, schweigen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber warum wollte die Mutter nicht, daß du so sagtest?«

»Ich weiß es nicht. Ich hab' es immerzu gesagt, und Mama hat mich immer dafür gescholten.«

»Wann?«

»Auf dem Spaziergang.«

»Wohin bist du spazieren gegangen?«

»Zu Herrn Ladroni.« (Der Onkel hatte ihr den Namen des Professors in dieser Weise vereinfacht.)

»Und hast du schon bei Herrn Ladroni angefangen so zu sagen?«

»Nein, Herr Ladroni hat es zur Mama gesagt.«

»Was hat er gesagt?«

»Aber Papa, du verstehst gar nichts! Er hat gesagt: ›Um Gottes willen, schweigen!‹«

Franco sprach nicht weiter.

»Mama hat auch ein Papier zerrissen bei Herrn Ladroni,« fügte Maria hinzu, in dem Gefühl, daß es ihrem Vater lieber sei, je mehr sie ihm von diesem Besuch erzählte.

Ihr Vater gebot ihr zu schweigen. Als er wieder im Haus war, fragte er Luisa mit wenig freundlichem Gesicht, warum sie das Kind zum Weinen gebracht habe.

Luisa sah ihn an, es schien ihr, als hätte er einen Verdacht; sie fragte ihn heftig, ob sie sich wegen dieser Dinge rechtfertigen müsse.

»O nein!« entgegnete kalt ihr Gatte und ging in das Gärtchen, um zu sehen, ob das trockene Laub am Fuße der Orangenbäume und das Stroh um den Stamm in Ordnung wären, denn die Nacht versprach kalt zu werden. Während er bei seinen Pflanzen arbeitete, sagte er sich bitter, wenn sie Verstand hätten und sprechen könnten, so würden sie sich dankbarer und zärtlicher als sonst gezeigt haben wegen seiner bevorstehenden Abreise, und Luisa hatte das Herz, herb und schroff zu ihm zu sein. Daß er selbst herb und schroff gewesen, kam ihm nicht in den Sinn.

Luisa ihrerseits bereute sofort, ihm in dieser Weise geantwortet zu haben, aber sie konnte ihn nicht zurückhalten, ihm um den Hals fallen und die Sache mit ein paar Küssen abtun; zu schwer lastete das andre auf ihrem Herzen.

Franco war mit der Winterumhüllung seiner Orangenbäume fertig geworden und kam wieder herein, seinen Mantel zu holen, um in die Kirche von Albogasio zu gehen.

Luisa, die in der Küche Kastanien schälte, hörte seinen Schritt im Korridor, blieb einen Augenblick unschlüssig im Kampfe mit sich selbst, dann stürzte sie ihm nach und erreichte ihn, als er im Begriff war, die Treppe hinunterzugehen.

»Franco!« sagte sie.

Franco antwortete nicht, er schien sie abzuweisen.

Da hielt sie ihn am Arm zurück und zog ihn in das am Gang liegende Schlafzimmer.

»Was wünschest du?« fragte er, unsicher geworden, aber entschlossen, seinen Groll nicht so schnell aufzugeben.

Luisa antwortete nicht, schlang ihre Arme um den widerstrebenden Hals, bog sein Gesicht hinunter auf die Brust und sagte leise:

»Wir dürfen einander nicht zürnen, weißt du, in diesen Tagen!«

Er, der Worte der Entschuldigung erwartet hatte, löste die Arme seiner Gattin vom Halse und antwortete trocken:

»Ich zürne nicht. Du wirst mir dann erzählen,« fügte er hinzu, »was dir der Herr Professor Gilardoni so äußerst Geheimnisvolles anvertraut hat, um dir Schweigen ans Herz legen zu müssen.«

Luisa sah ihn an, bestürzt, schmerzbekümmert. »Du hast mich beargwöhnt,« sagte sie, »und hast das Kind ausgefragt? Hast du das getan?«

»Nun,« sagte er, »und wenn ich es getan hätte? Im übrigen denkst du immer das Schlechteste von mir, das weiß ich ja. Aber sieh, ich will nichts wissen.«

Sie unterbrach ihn: »Aber ich werde es dir sagen, ich werde es dir sagen.«

Er jedoch, dem das Gewissen ein wenig schlug wegen des mit Maria angestellten Verhörs, und da er sah, daß Luisa geneigt war zu sprechen, wollte absolut nichts hören, verbot ihr jede Erklärung. Aber sein Herz floß über von Bitterkeit, und er mußte sich Luft machen. Er beklagte sich, daß sie seit der Weihnachtsnacht nicht mehr dieselbe mit ihm gewesen sei. Wozu widersprechen? Er hatte es wohl empfunden. Übrigens seit sehr langer Zeit hatte er eine gewisse Sache begriffen! Was für eine Sache? O, eine ganz natürliche Sache! Das Natürlichste von der Welt! Verdiente er, von ihr geliebt zu werden? Sicherlich nein! Er war ein armer Müßiggänger und weiter nichts. War es nicht natürlich, daß sie ihn weniger liebte, nachdem sie ihn besser kennen gelernt hatte? Denn das war zweifellos, daß sie ihn weniger liebte als früher.

Luisa erbebte bei dem Gedanken, daß er die Wahrheit sprechen könnte, sie sagte: »Nein, Franco, nein.« Aber der Schrecken, es nicht mit genügender Energie sagen zu können, lähmte ihr die Stimme.

Er, der auf eine heftige Widerlegung gehofft hatte, murmelte betroffen: »Mein Gott!«

Jetzt war sie bestürzt, umschlang ihn verzweifelt mit ihren Armen und schluchzte: »Nicht doch! Nicht doch! Nicht doch!«

Sie verstanden einander wie durch ein magnetisches Fluidum bis auf den Grund ihrer Seele, und lange blieben sie umarmt, in einer stummen, krampfhaften Anspannung ihres ganzen Seins zueinander sprechend, sich gegenseitig beklagend, sich Vorwürfe machend, den leidenschaftlichen Wunsch hegend, sich wieder zu besitzen, den schmerzvoll herben Genuß auskostend, für einen Augenblick im Wollen und in der Liebe eins zu sein, trotz der innerlichen Disharmonie ihrer Überzeugungen und ihrer Naturen; alles ohne ein Wort, ohne einen Laut.

Franco riß sich los, um in die Kirche zu gehen. Er wollte Luisa nicht auffordern, ihn zu begleiten, in der Hoffnung, daß sie es von selbst tun würde: und sie tat es nicht, weil sie nicht sicher war, daß es ihm recht sein würde.

*

Am Morgen des 7. Januar nach zehn Uhr ließ der Oheim Piero Franco zu sich rufen.

Der Onkel lag noch im Bett. Er stand spät auf, da sein Zimmer nicht heizbar war, und er aus Sparsamkeit das Feuer im kleinen Salon nicht so früh anzünden lassen wollte. Die Kälte hinderte ihn jedoch nicht, sich aufrecht zu setzen und mit der halben Brust und beiden Armen außerhalb der Decke zu lesen.

»Grüß Gott,« sagte er, als Franco eintrat.

Aus dem Ton des Grußes, aus dem schönen, in seiner Güte ernsten Gesicht begriff Franco, daß der Onkel Ungewöhnliches zu sagen hatte.

Der Oheim wies auch wirklich auf den Stuhl an seinem Bett und begann mit der feierlichsten seiner Einleitungen.

»Setze dich!«

Franco setzte sich.

»Also du reisest morgen fort?«

»Ja, Onkel.«

»Schön.«

Es schien, als sei ihm bei diesem »Schön« das Herz auf die Zunge getreten, so schwellte das Wort seine Backen, so voll und klingend kam es heraus.

»Du hast mich bis auf diesen Augenblick,« fuhr der Alte fort, »deinen Plan sozusagen weder billigen noch mißbilligen hören. Vielleicht habe ich ein wenig gezweifelt, daß du ihn ausführen würdest. Jetzt ...«

Franco streckte ihm beide Hände entgegen.

»Jetzt,« fuhr der Onkel fort, sie mit festem Druck in den seinigen haltend, »da ich sehe, daß du in deinem Entschluß fest bleibst, sage ich: der Plan ist gut, die Notwendigkeit liegt vor, geh, arbeite, es ist eine große Sache um die Arbeit. Gott schütze dich und lasse dich gut anfangen und gebe dir Ausdauer, was das allerschwerste ist. So sei es.«

Franco wollte ihm die Hände küssen, aber der Oheim zog sie eilig zurück. »Laß das, laß das!« Und er fuhr fort in seiner Rede.

»Jetzt höre! Es ist möglich, daß wir uns nicht wiedersehen.«

Franco protestierte.

»Ja, ja,« entgegnete der Alte, die Seele aus den Augen und der Stimme verbannend, »alles schöne Dinge, alles Dinge, die gesagt werden müssen. Laß nur gut sein.«

Die Augen strahlten wieder ernst und gütig, die Stimme nahm wieder ihren tiefen Ton an.

»Es ist möglich, daß wir uns nicht wiedersehen. Im übrigen frage ich dich: was tue ich noch auf dieser Welt? Und für euch wäre es besser, daß ich ginge. Vielleicht mißfällt es deiner Großmutter, daß ich euch aufgenommen habe, vielleicht wird sie darnach eher geneigt sein, sich mit euch auszusöhnen. Deshalb, gesetzt den Fall, wir sähen uns nicht wieder, bitte ich dich, gleich nach meinem Tode, wenn die Dinge noch nicht geordnet sind, irgendwelche Schritte zu tun.«

Franco stand auf und umarmte den Onkel mit Tränen in den Augen.

»Ein Testament,« begann der Oheim von neuem, »habe ich nicht gemacht und werde auch keins machen. Ich lege euch die Cia ans Herz. Richtet's ein, daß ein Bett und ein Stück Brot immer für sie da ist. Für das Begräbnis genügen drei Geistliche, die mir ein von Herzen kommendes Requiem singen; unsrer, Introini und der Präfekt der Caravina; es ist keineswegs nötig, wegen des Konfekts und des Weißweins fünf oder sechs singen zu lassen. Wegen meiner Kleider, das wollen wir Luisa überlassen, die weiß am besten, wo sie unterzubringen sind. Meine Repetieruhr sollst du als Andenken von mir behalten. Ich möchte auch Maria ein Andenken hinterlassen, aber was? Du könntest ein Stück von meiner goldenen Kette nehmen. Wenn du ein kleines Medaillon, ein Kreuzchen hast, hängst du es ihr mit meiner Kette um den Hals. Und Amen.«

Franco weinte. Es war tief ergreifend, den Onkel von seinem Tode in dieser Seelenheiterkeit sprechen zu hören wie von einem beliebigen Geschäft, das mit Umsicht und Ehrenhaftigkeit geführt werden muß. Der Onkel, der, wenn er mit den Freunden sprach, so an dem Leben zu hängen schien, der zu sagen pflegte: »Ja, wenn man diesem Krepieren aus dem Weg gehen könnte!«

»So, und nun erzähle du mir!« sagte er. »Welche Arbeit hoffst du zu finden?«

»Zunächst, schreibt mir T., in Turin in einer Zeitungsredaktion. Vielleicht findet sich in Zukunft etwas Besseres. Und schließlich, wenn ich von der Zeitung nicht leben könnte und nichts andres fände, würde ich zurückkommen. Darum muß die Sache ganz geheim gehalten werden, wenigstens in der ersten Zeit.«

Was das Geheimhalten anbetraf, so war der Onkel ungläubig. »Und die Briefe?« sagte er.

Für die Briefe war verabredet, daß Franco nach Lugano postlagernd schreiben und Ismaele die Briefe der Familie nach der Post in Lugano bringen und die Francos dort in Empfang nehmen sollte.

Und was sollte man den Bekannten sagen? Es war ihnen schon gesagt worden, daß Franco am 8. in Geschäften nach Mailand ginge und vielleicht einen Monat, vielleicht auch länger fortbleiben würde.

»Daß man den Leuten etwas aufbinden muß,« sagte der Onkel, »gehört nicht gerade zu den Annehmlichkeiten dieser Welt, aber schließlich ...! Ich schließe dich jetzt in meine Arme, Franco, denn ich weiß, morgen reist du schon zeitig ab, und wir werden schwerlich allein sein. Also leb wohl! Ich lege dir alles noch einmal ans Herz, und vergiß mich nicht. Ach, noch etwas. Du gehst nach Turin. Ich habe gemeint, als Beamter meinem Vaterland zu dienen. Ich habe mich an keiner Verschwörung beteiligt und würde es auch jetzt nicht tun, aber meine Heimat habe ich immer geliebt. Also grüße mir das dreifarbige Banner. Leb wohl!«

Hier breitete der Oheim seine Arme aus.

»Du mußt auch nach Piemont kommen, Onkel,« sagte Franco, bewegten Herzens aufstehend. »Sobald ich so viel verdiene, wie zu den bescheidensten Bedürfnissen notwendig ist, lasse ich euch alle nachkommen.«

»Ach nein, mein Lieber. Ich bin zu alt, ich gehe nicht mehr fort.«

»Gut, so komme ich in diesem Frühjahr mit zweihunderttausend meiner Freunde!«

»Ah ja! Zweihunderttausend Stück. Schöne Gedanken, schöne Hoffnungen! – Oho, ist da das Fräulein Ombretta Pipi?«

Ombretta Pipi, so hieß Maria im Hause in gutgelaunten Augenblicken, trat ernst und würdevoll herein. »Guten Morgen, Onkel. Sagst du mir die Ombretta Pipi?«

Ihr Vater hob sie empor und setzte sie auf das Bett des Onkels, der sie lächelnd an sich zog und auf seinen Beinen wippen ließ.

»Kommen Sie her, mein Fräulein, haben Sie gut geschlafen? Und hat die Puppe gut geschlafen? Und das Maultier, hat das gut geschlafen? Ach, das war nicht da? Desto besser! Ja, ja, jetzt komme ich mit der Ombretta. Und ein Kuß, nicht wahr? Noch einen, nein? Dann muß ich wirklich sagen:

›Ombretta, du spröde
Vom Missipipi,
Warum bist du so blöde
Und küssest mich nie?‹«

Maria horchte auf, als hörte sie die Verse zum erstenmal, und dann wollte sie sich halb tot lachen, sprang und klatschte in die Hände. Und der Oheim lachte wie sie.

»Papa,« sagte sie, wieder ernst werdend, »warum weinst du? Bist du in Strafe?«

*

Man erwartete an diesem Tag Besuch von einigen Bekannten, die versprochen hatten, sich von Franco vor seiner Reise nach Mailand zu verabschieden.

Luisa hatte das Wunder vollbracht, den Ofen in Sibirien, wie der Onkel den Saal nannte, anzuzünden, und dort hatten sich Donna Ester, die beiden unzertrennlichen Paoli aus Loggia, der Paolin und der Paolon, und der Professor Gilardoni zusammengefunden, letzterer in einer unaufhörlichen zitternden Erregung, weil Luisa, die mit Francos Gepäck noch zu tun hatte, aus dem Schlafzimmer kam und ging und alle Augenblicke nach Ester rief, und Ester war daher immer in Bewegung, bald ging sie hinter, bald vor dem Professor vorbei, bald rechts, bald links. Der arme Mensch hatte das Gefühl, als befände er sich in einem magnetischen Strudel.

Und da erscheint auch, ganz unerwartet, weil sie sich seit der Haussuchung nicht wieder hatte sehen lassen, Frau Peppina.

»O, meine liebe Frau Luisa! O, mein lieber Herr Don Franco! Ist es wahr, daß Sie wirklich fort wollen?«

Jetzt fängt der Paolin an, sich auf seinem Stuhl etwas zu winden, denn ihm fällt ein, daß die Sora Peppina von ihrem Gatten geschickt sein könnte, um auszuspionieren, wer bei dem verdächtigen Menschen, in dem mit dem Bann belegten Hause zugegen sei. Er wollte am liebsten gleich wieder fort mit seinem Paolon, aber der Paolon ist nicht so leicht von Begriffen.

›Was fängt man jetzt mit diesem Kamel an, das nichts begreift?‹ dachte der Paolin; und ohne den Paolon anzusehen, sagte er leise zu ihm: »Laß uns gehen!«

»Gehen wir!«

Der Paolon brauchte in der Tat lange, bis er begriffen hatte, aber schließlich stand er doch auf und entfernte sich mit Paolin, von dem er es auf der Treppe ordentlich zu hören bekam.

Franco hatte denselben Argwohn wie Paolin und begrüßte Frau Peppina nicht eben freundlich. Die arme Frau hätte am liebsten geweint, denn sie liebte seine Frau von Herzen und hielt große Stücke auch von ihm; aber sie begriff seine Abneigung und entschuldigte sie in ihrem Herzen. Kaum wagte sie es, von Zeit zu Zeit ihn anzublicken, demütig, mit der Miene eines geschlagenen Hundes. Sie nahm Maria auf den Schoß und sprach zu ihr von ihrem guten Papa, von ihrem lieben Papa, der fortginge: »Wer weiß, was für Kummer er meinem alten Frauchen machen wird? Armes Häschen! Armes Mäuschen! Geht der Papa fort? Und so ein Papa!«

Franco unterhielt sich mit dem Professor, aber er hörte jedes Wort und zitterte vor Ungeduld. Er war es sehr zufrieden, daß Veronika kam, um ihn abzurufen.

Im Garten wurde nach ihm verlangt. Er ging hinunter und fand Don Giacomo Puttini und Don Giuseppe Costabarbieri, die gekommen waren, ihn zu begrüßen, aber, von Paolin und Paolon gewarnt, nicht wünschten, sich der Sora Peppina zu zeigen. Selbst der Boden des Gemüsegartens brannte ihnen unter den Füßen. Während der magere, kleine Held Francos Einladung, hinaufzukommen, schnaubend abwehrte, drehte der dicke, kleine Held lebhaft den Kopf und die Äuglein wie eine gutgelaunte Amsel, um bald auf den Berg, bald auf den See ein Auge zu haben, fast wie in gewohnheitsmäßigem Argwohn. Er gewahrte ein Boot, das von Porlezza kam. Wer weiß? Konnte das nicht der K. K. Kommissär sein? Obwohl das Boot noch in ziemlicher Entfernung war, dachte er sofort daran, sich aus dem Staube zu machen, gedachte mit Puttini dem Einnehmer einen Besuch zu machen, um des Glückes willen, die Sora Peppina nicht zu Hause anzutreffen.

Nachdem sie mit Franco leise und hastige Abschiedsworte gewechselt hatten, trabten die beiden alten Hasen gesenkten Hauptes davon, und Franco blieb im Garten zurück. Die Luft war mild, die Spitze des Cressogno ragte schneebefreit, in Sonnenlicht gebadet, in den klaren Himmel; die Sonne vergoldete auch die gelblichen, mit Oliven bestandenen Hänge von Valsolda, während auf der andern Seite des Sees sich die großen weißen Wälle des beschneiten Galbiga und des Bisgnago in dem bläulichen Schatten bis zum Wasser hinuntersenkten. Franco blickte mit geschwelltem Herzen auf diese teure Heimat seiner Träume, seiner Liebe. ›Leb wohl, Valsolda,‹ dachte er. ›Und jetzt will ich auch von euch Abschied nehmen.‹

Euch, das waren seine Pflanzen, die bitteren Orangen, die Olea sinensis, die japanische Mispel, der Pinus pinea, die längs der geraden Allee, die zwischen den Gemüsebeeten zum See führte, in regelmäßigen Intervallen grün schimmerten; es waren die Rosenbüsche, die Kapernsträucher, die Agaven, die aus den in den Mauern angebrachten Öffnungen wucherten und über das Wasser hingen. Alles noch junge Pflanzen; der Koloß der Familie, eine Pinie, war noch nicht drei Meter hoch; kleine blasse Wesen, die an dem winterlichen Nachmittag zu schlummern schienen. Aber Franco sah sie in der Zukunft, wie er sie sich mit seinem feinen Gefühl für das Anmutige und Malerische beim Pflanzen gedacht hatte. Jeder hatte er eine besondere Bedeutung beigelegt.

Die edeln Pflanzen an der Allee, die die Gemüse überragten, sollten eine gewisse Feinheit des Geistes und der Kultur in dem bescheidenen Familienglück versinnlichen. Die Orangen hatten die besondere Aufgabe, eine liebliche und sanfte Note in das Bildchen zu tragen; die Pflicht der Mispel war, ihre belaubten Arme schützend über einen künftigen Ruhesitz zu heben und zu breiten; die Rosenbüsche und Kapernsträucher an der dem See zugewendeten Mauer sollten den im Boot Vorübergleitenden von den Träumereien eines Dichters erzählen; die Agaven würden den Orangen, Gefährten im Exil, im Mollakkord antworten; die hohe Bestimmung der Pinie endlich war, der kleinen Oase anmutigen Schatten zu spenden, dem Akkord der Agaven und Orangen den südlichen Stempel aufzudrücken, mit ihrer grünen Krone die kleine blaue Bucht von Casarico zu umrahmen. Lebt wohl, lebt wohl! Es schien Franco, als antworteten die jungen Pflanzen traurig: »Warum verläßt du uns? Was wird aus uns werden? Deine Frau liebt uns nicht wie du.«

Inzwischen hatte sich die von Don Giuseppe bemerkte Barke genähert und glitt in einiger Entfernung vom Ufer an dem Garten vorbei. Ein Herr und eine Dame saßen darin. Der Herr stand auf und grüßte mit durchdringender Stimme: »Grüß Gott, Don Franco! Er lebe hoch!« Die Dame wehte mit dem Taschentuch. Es waren die Pasottis.

Franco lüftete den Hut.

Die Pasottis! Im Januar in Valsolda! Was hatten sie hier zu suchen? Und dieser Gruß! Pasotti, der sich nach der Haussuchung nicht mehr hatte sehen lassen, Pasotti grüßte in dieser Weise? Was hatte das zu bedeuten? Ganz perplex ging Franco ins Haus zurück und brachte die Nachricht nach oben. Alle waren starr vor Staunen und vor allem die Sora Peppina:

»Aber nein? Ist es die Möglichkeit? Der Herr Kontrolleur? Armer Kerl! Auch die Sora Barborin? Armes Frauchen!«

Die Angelegenheit wurde lebhaft erörtert. Der eine vermutete dies, der andre jenes.

Fünf Minuten später trat Pasotti geräuschvoll ein, Frau Barborin, beladen mit Tüchern und Paketen, halbtot vor Kälte, hinter sich herziehend. Armes Geschöpf, sie konnte nichts weiter hervorbringen als: »Zwei Stunden! Zwei Stunden im Boot!«, während ihr Gatte mit einem Grinsen in seinen diabolischen Augen schrie: »Das tut ihr gut! Ich habe ihr in Porlezza ein Gläschen Wacholder aufgezwungen. Sie hat höllische Grimassen geschnitten!«

Die arme Taube, die erriet, daß er von dem Wacholder sprach, drehte die Augen zur Decke und wiederholte die Grimassen von Porlezza.

Pasotti war nie so zärtlich und herzlich gewesen. Er küßte Luisa die Hand, umarmte den Ingenieur und Franco und begleitete sein Tun mit einem Wortschwall und überfließenden Gefühlsergüssen.

»Teuerste Donna Luisa! Schönste und vollkommenste Frau! Mein lieber Piero! Mein teurer Herzenskönig! Die Welt ist groß, aber einen zweiten Piero gibt's da nicht, was Sie auch sagen! Und dieser Don Franco! Mein bester Franco! Zu denken, wie ich dich gekannt habe! In Kleidchen und Schürzchen! Wie du Feigen beim Präfekten der Caravina stahlst! Dieser Schelm da!«

Der »Schelm« machte nicht gerade das ermutigendste Gesicht von der Welt, aber der andre tat, als merkte er es nicht. Ebensowenig konnten sich die Damen mit seiner Frau verständigen.

»Wie haben Sie's nur angestellt, Sora Pasotti!« schrie Frau Peppina, »bei dem Wetter nach Valsolda zu kommen. – O je, sie versteht nichts, armes Frauchen.«

Und wie auch Luisa und Ester sich abmühten, ihr dieselbe Frage ins Ohr zu schreien, und wie weit sie auch den Mund aufsperrte, die Taube verstand nichts und antwortete aufs Geratewohl:

»Ob ich schon gespeist habe? Ob ich hier essen will?«

Hier mischte sich Pasotti ein und erklärte, daß er und seine Frau im Oktober wegen einer geschäftlichen Angelegenheit hätten abreisen müssen, ohne vorher Wäsche zu halten, daß seine Frau ihm wegen dieser verwünschten Wäsche schon eine Ewigkeit in den Ohren läge, und daß er sich endlich entschlossen habe, ihr den Willen zu tun und herzukommen.

Nun wandte sich Ester zu der Pasotti und machte die Bewegung des Waschens.

Die Pasotti blickte ihren Mann an, dessen Augen fest auf ihr ruhten, und antwortete: »Ja, ja, die Wäsche, die Wäsche!«

Dieser befehlende Blick, den Luisa in den Augen des Kontrolleurs beobachtete, weckte in ihr den Argwohn, daß ein Geheimnis dahinter stecke. Dieses Geheimnis und die unbegreifliche Herzlichkeit Pasottis brachten sie auf einen weiteren Verdacht. Wenn er ihretwegen gekommen wäre? Wenn die Reise des Professors nach Lodi die Veranlassung dieses unerwarteten Besuches wäre? Sie hätte sich gern mit dem Professor beraten, ihm gesagt, er möge bleiben, bis die Pasottis das Feld geräumt hätten. Aber wie sollte sie mit ihm sprechen, ohne daß Franco es merkte? Inzwischen verabschiedete sich Donna Ester, und der Professor, der unter der Bedingung, nicht das Paradies begehren zu wollen, von dem kleinen, perfiden, kapriziösen Fräulein volle Verzeihung erlangt hatte, durfte sie nach Hause begleiten.

Die Pasottis konnten nicht eher hinauf nach Albogasio Superiore gehen, bis der Verwalter, den sie sofort benachrichtigt hatten, nicht wenigstens ein Zimmer für sie hergerichtet und geheizt hatte. Er schlug sofort ein kleines Tarock zu dreien vor, mit dem Ingenieur und Franco. Darauf ging auch Frau Peppina, und die Pasotti, die sich einen Moment zurückziehen wollte, bat Luisa, sie zu begleiten.

Kaum war sie mit der Freundin im Schlafzimmer allein, so blickte sie mit großen, ängstlichen Augen um sich und flüsterte: »Wir sind gar nicht wegen der Wäsche da, gar nicht wegen der Wäsche!«

Luisa fragte sie stumm mit dem Gesicht und durch Gebärden, denn lautes Sprechen hätte man im Saal gehört. Diesmal verstand die Pasotti, sie antwortete, daß sie von nichts wisse, daß ihr Mann ihr nichts gesagt, ihr nur die Geschichte mit der Wäsche anbefohlen habe, aber daß ihr gar nichts an der Wäsche gelegen sei. Da nahm Luisa ein Stück Papier und schrieb daraus:

»Was vermuten Sie?«

Die Pasotti las und machte eine äußerst komplizierte Mimik. Sie schüttelte den Kopf, rollte die Augen, seufzte, warf hilflose Blicke nach der Decke; es schien, als kämpften in ihrem Innern Furcht und Hoffnung einen entscheidenden Kampf. Endlich sagte sie »ah!«, ergriff die Feder und schrieb unter Luisas Frage: »Die Marchesa!«

Sie ließ die Feder fallen und starrte die Freundin an. »Sie ist in Lodi,« sagte sie flüsternd. »Der Kontrolleur ist in Lodi gewesen. So steht die Sache!« Und dann eilte sie in den Saal zurück, in der Furcht, ihr Gatte könnte Argwohn schöpfen.

Als das Spiel zu Ende war, lehnte Pasotti sich an ein Fenster, machte laut irgendeine Bemerkung über die Wirkung des Dämmerlichts und rief Franco.

»Du mußt heute abend zu mir kommen,« sagte er leise, »ich muß dich sprechen.«

Franco versuchte auszuweichen. Er reiste am nächsten Morgen nach Mailand, verließ die Familie für längere Zeit, es war ihm kaum möglich, den Abend außer dem Hause zu verbringen.

Pasotti erwiderte, daß es absolut notwendig sei. »Es handelt sich um deine morgige Reise,« sagte er.

*

»Es handelt sich um deine morgige Reise!« Kaum hatten die Pasotti den Weg nach Albogasio Superiore angetreten, berichtete Franco seiner Frau diese Unterhaltung. Er war im höchsten Grade betroffen. Pasotti wußte also; er würde nicht so geheimnisvoll getan haben, wenn es nicht Anspielungen auf seine Reise nach Turin gewesen wären. Und Franco war äußerst ärgerlich, daß Pasotti darum wußte. Aber auf welche Weise hatte er es erfahren? Vielleicht war der Freund in Turin unvorsichtig gewesen. Und was wollte jetzt dieser Pasotti von ihm? Bedrohte vielleicht ein neuer Streich der Polizei sein Haupt?

Aber Pasotti war nicht der Mann, der eigens kommen würde, ihm dies mitzuteilen! Und dieses ganze Aufgebot von Liebenswürdigkeit? Vielleicht wünschte man nicht, daß er nach Turin ginge. Man wünschte nicht, daß er einen guten Ausweg fände, ein Mittel, sich und die Seinen der Armut, den Kommissären und den Gendarmen zu entziehen! Wie er auch seine Gedanken anstrengte und grübelte, es konnte nichts andres sein.

Luisa war im Innern ihres Herzens nicht davon überzeugt. Sie fürchtete etwas andres; nichtsdestoweniger zweifelte auch sie nicht, daß Pasotti von dem Turiner Plan wußte, und das verwirrte alle ihre Vermutungen. Es blieb nichts übrig, als hinzugehen und zu hören.

*

Franco machte sich um acht auf den Weg. Pasotti empfing ihn mit liebenswürdigster Herzlichkeit und entschuldigte seine Frau, die schon zu Bett gegangen war. Bevor er auf den Gegenstand einging, bestand er darauf, daß sein Gast ein Glas von dem San Colombano trank und ein Stück von dem Neujahrskuchen aß. Mit dem Wein und den Kuchen mußte Franco, sehr gegen seinen Willen, viele Freundschaftsbeteuerungen und die schwülstigsten Lobeserhebungen über seine Frau, seinen Onkel und seine eigne Persönlichkeit hinunterschlucken. Nachdem endlich Glas und Teller geleert waren, zeigte der honigsüße Mephisto sich geneigt, in den Gegenstand der Verhandlung einzutreten.

Sie saßen an einem Tischchen einander gegenüber. Pasotti, bequem gegen den Rücken seines Stuhles gelehnt, hielt ein gelb und rot gemustertes Foulardtuch in den Händen, mit dem er spielte.

»Also, lieber Franco,« sagte er, »wie ich dir schon sagte, handelt es sich um deine morgige Reise. Wie ich heute in deinem Hause erfuhr, reisest du in Geschäften; nun heißt es aufpassen, ob nicht das Geschäft, das ich dir bringe, erheblich vorteilhafter ist als das deine in Mailand.«

Franco, von dieser unerwarteten Einleitung überrascht, schwieg. Pasotti blickte auf das Tuch, mit dem er keinen Augenblick aufhörte zu spielen, und fuhr fort:

»Mein lieber Freund Don Franco Maironi kann sich denken, daß, wenn ich mich auf ein delikates und vertrauliches Argument einlasse, ich einen triftigen Grund habe, es zu tun, ich fühle mich verpflichtet, es zu tun, und bin autorisiert, es zu tun.«

Die Hände hielten inne, die scharfen, funkelnden Augen blickten auf und begegneten Francos finsteren und argwöhnischen Blicken.

»Es handelt sich, mein lieber Franco, um deine Gegenwart und um deine Zukunft.«

Bei diesen Worten legte Pasotti entschlossen das Foulard beiseite. Die Arme mit den verschlungenen Händen auf den Tisch stützend, ging er geradeswegs auf sein Ziel los, die Augen fest auf Franco gerichtet, der jetzt seinerseits im Stuhl zurückgelehnt, ihn ansah, blaß und in feindlicher Defensivstellung.

»Schon seit langer Zeit trage ich mich, aus alter Freundschaft für deine Familie, mit dem Gedanken, etwas zu tun, um einem betrüblichen Zwist ein Ende zu bereiten. Auch dein Vater, armer Don Alessandro! Welches goldene Herz! Und wie lieb er mich hatte!«

Franco wußte, daß sein Vater einmal Pasotti mit dem Stock bedroht hatte, weil er sich allzuviel in die Angelegenheiten seines Hauses mischte.

»Doch genug. Nachdem ich erfahren hatte, daß deine Großmutter in Lodi sei, sagte ich mir am vergangenen Sonntag: Nach so vielen Ärgernissen, die die Maironi durchgemacht haben, ist dies vielleicht der richtige Moment. Gehen wir hin, machen wir einen Versuch. Und ich ging hin.«

Pause. Franco erbebte. Welcher Vermittler war ihm hier erstanden. Und wer hatte diese Vermittlung verlangt?

»Ich muß gestehen,« fuhr Pasotti fort, »ich bin zufrieden. Deine Großmutter hat ihre eignen Ideen, sie ist in einem Alter, in dem man schwerlich seine Meinungen wechselt, sie ist, wie du weißt, von sehr entschlossenem Charakter, aber es fehlt ihr schließlich nicht an Herz. Sie liebt dich, weißt du. Sie leidet. In ihr ist ein fortwährender Kampf zwischen ihren Gefühlen und ihren Grundsätzen; wenn du willst auch zwischen ihren Empfindungen und ihrer Empfindlichkeit. Arme Marchesa! Es ist traurig, zu sehen, wie sie leidet; im übrigen aber, sie gibt nach, sie gibt nach. Natürlich darf man seine Erwartungen nicht zu hoch schrauben. Sie gibt nach, aber nicht so weit, um das zu zerstören, was sie aufrecht erhält, ihre Grundsätze, ich meine vor allem ihre politischen Grundsätze.«

Francos Augen, seine unruhigen Kinnladen, ein Zucken, das durch seinen ganzen Körper ging, sagten Pasotti: Rühre nicht an diesen Punkt, sei auf deiner Hut! Pasotti hielt inne; vielleicht fiel ihm der Stock des verstorbenen Don Alessandro ein.

»Ich verstehe,« fuhr er fort. »Glaubst du, daß ich dich nicht verstehe? Ich esse das Brot der Regierung und muß, was ich denke, in meinem Herzen verschließen, aber ich bin auf deiner Seite, ich seufze nach dem Augenblick, in dem gewisse Farben gewissen andern Farben weichen werden. Nicht so deine Großmutter, und man muß sie eben nehmen, wie sie ist. Wenn man zu einem Vergleiche kommen will, muß man sie nehmen, wie sie ist. Man kann kämpfen, wie ich gekämpft habe, aber ...«

»Mir scheint diese ganze Rede überflüssig!« rief Franco, aufstehend.

»Warte!« nahm Pasotti seine Rede wieder auf. »Der Teufel ist vielleicht nicht so schlimm, wie er aussieht! Setze dich und höre!«

Franco wollte von Wiederhinsetzen nichts wissen.

»Also hören wir!« sagte er mit vor Ungeduld vibrierender Stimme.

»Die Großmutter ist indessen geneigt, deine Ehe anzuerkennen ...«

»Danke!« unterbrach ihn der junge Mann.

»Warte doch! ... und euch eine sehr angemessene Rente auszusetzen, soviel ich verstanden habe, zwischen sechs- und achttausend Gulden jährlich, nicht übel, wie?«

»Weiter!«

»Geduld! Es ist nichts Demütigendes dabei. Wenn irgendeine erniedrigende Bedingung daran geknüpft wäre, hätte ich es dir nicht vorgeschlagen. Die Großmutter wünscht, daß du eine Beschäftigung hast und eine gewisse Verpflichtung übernimmst, dich nicht in politische Angelegenheiten zu mischen. Ich muß zugeben, daß sich schon ein schicklicher Modus finden wird, beides miteinander zu verbinden, obschon, das sage ich dir ganz offen, ich deiner Großmutter anders geraten hätte. Meine Idee war, sie sollte dich an die Spitze ihrer Geschäfte stellen. Da hättest du so viel zu tun gehabt, daß dir gar keine Zeit blieb, an andres zu denken. Jedoch auch der Gedanke der Großmutter ist gut. Ich kenne die feinsten jungen Leute, die wie du denken und die in der juristischen Karriere sind. Das ist ein sehr unabhängiger und sehr geachteter Beruf. Ein Wort von dir, und du bist Gerichtsauskultator.«

»Ich?« brach Franco los. »Ich? Nein, mein lieber Pasotti! Nein! Man schickt mir nicht, schweige! die Polizei ins Haus, man setzt nicht in niederträchtigster Weise einen Ehrenmann ab, dessen einziges Verbrechen ist, der Onkel meiner Frau zu sein, schweige, sage ich dir! Man sucht nicht heute auf alle Weise meine Familie und mich auszuhungern, um uns morgen schmutziges Brot anzubieten. Nein, das wisse, nein, schrei so viel du willst, durch Hunger, nein, bei Gott, durch Hunger ködert mich niemand! Sage es ruhig der Großmutter, und du ... und du ... und du ...«

Pasotti stammte sicher von dem Geschlecht der Katzen ab, er war lüstern, schlau, vorsichtig, schmeichlerisch, zur Heuchelei bereit, aber auch dem Zorn leicht unterworfen. Er hatte mit immer heftigeren Protesten Maironis Schmährede unterbrochen; bei dieser letzten direkten Anrede, in dem Vorgefühl eines Sturmes von Anklagen, die ihn um so mehr reizten, je mehr er sie erriet, sprang auch er auf.

»Halt ein!« rief er. »Was ist das für eine Art?«

»Guten Abend!« sagte Franco, seinen Hut nehmend. Aber Pasotti beabsichtigte nicht, ihn so fortgehen zu lassen.

»Einen Augenblick!« sagte er, im schnellen Takte auf dem Tisch trommelnd. »Ihr macht euch Illusionen, ihr setzt zu große Hoffnungen in dieses Testament, und das ist kein Testament, das ist ein Papierfetzen, das ist das Delirium eines Verrückten!«

Franco, der schon bei der Tür war, blieb stehen, betäubt von dem Schlag.

»Welches Testament?« sagte er.

»Geh!« fuhr Pasotti halb gleichmütig, halb spöttisch fort, »geh, wir verstehen uns recht gut!«

Zornesglut brachte von neuem Francos Blut in Wallung.

»Nein, keineswegs!« sagte er. »Heraus mit der Sprache! Was weißt du von Testamenten?«

»Ah!« entgegnete Pasotti mit ironischer Freundlichkeit. »So ist's recht, jetzt geht es sehr gut.«

Franco hätte ihn erwürgen können.

»Ich bin in Lodi gewesen, habe ich es dir nicht gesagt? Also weiß ich.«

Franco, außer sich, beharrte dabei, nichts zu verstehen.

»Ah so!« fuhr Pasotti spöttischer als vorher fort. »So werde ich dem Herrn Bescheid sagen. So wissen Sie denn, daß der Herr Professor Gilardoni, der in der Tat Ihr Freund nicht ist, sich Ende Dezember nach Lodi begeben hat und vor der Marchesa mit einer gesetzlich wertlosen Abschrift eines angeblichen Testaments Ihres armen Großvaters erschienen ist. In diesem Testament sind Sie, Herr Don Franco, zum Universalerben eingesetzt, und zwar unter gleichzeitigen abscheulichen Beleidigungen der Gattin und des Sohnes des Testators. Jetzt wissen Sie es. Übrigens ist Herr Gilardoni bei der Überbringung so aufrichtig gewesen, zu sagen, daß er aus eignem Antrieb gekommen sei, ohne euch etwas davon mitzuteilen.«

Franco hörte zu, totenbleich, er fühlte, wie es ihm dunkel vor den Augen und im Herzen wurde. Er mußte alle seine Kräfte zusammennehmen, um sich zu fassen, um eine würdige Antwort zu geben.

»Du hast recht,« sagte er. »Auch die Großmutter hat recht. Wer unrecht hat, das ist der Professor Gilardoni. Er hat mir dieses Testament vor drei Jahren in meiner Hochzeitsnacht gezeigt. Ich habe ihm gesagt, er solle es verbrennen, und ich habe geglaubt, daß er's getan hätte. Wenn er es nicht getan hat, so hat er mich getäuscht. Wenn er sich dieses rühmlichen Unternehmens halber nach Lodi begeben hat, so hat er eine Taktlosigkeit und eine ungeheure Torheit begangen. Ihr habt recht gehabt, übel von uns zu denken. Aber daß du es wissest! Ich verachte das Geld der Großmutter ebenso wie das der Regierung; und da diese Dame das Glück hat, die Mutter meines Vaters zu sein, so werde ich nie, verstehst du, niemals – und sollte sie auch alle Niedrigkeiten, alle ihr zu Gebote stehende Bosheit gegen uns in Bewegung setzen –, nie werde ich von einem Schriftstück Gebrauch machen, das sie entehret! Ich stehe so viel höher als sie! Geh und sage ihr das in meinem Namen und sage ihr, sie möge ihr Anerbieten zurücknehmen, denn ich verachte sie. Guten Abend.«

Er ließ Pasotti ganz betäubt zurück und ging bebend vor übermäßiger Erregung und Zorn, vergaß seine Laterne an sich zu nehmen und stieg mit großen Schritten im Dunkeln hinunter, nicht wissend, noch darauf achtend, wohin er den Fuß setzte, von Zeit zu Zeit sich durch einen Ausruf Luft machend, dem, was in ihm kochte, Ausdruck gebend durch abgerissene Worte des Zorns gegen Gilardoni, Worte der Anklage gegen Luisa.

*

Der Onkel war zeitig zu Bett gegangen, und Luisa erwartete Franco in dem kleinen Salon mit Maria, die sie aufbehalten hatte, damit ihr Vater sie am letzten Abend noch sehen könnte.

Die arme Ombretta Pipi hatte bald angefangen sich zu langweilen, ein Schippchen, ein weinerliches Gesichtchen zu ziehen, mit klagender Stimme zu fragen: »Wann kommt Papa?« Aber sie hatte eine so einzige Mama, die es wie niemand auf der Welt verstand, die Kümmernisse wegzutrösten.

Ombrettina besaß schon seit geraumer Zeit keine heilen Schuhchen mehr, und Schuhchen kosteten, selbst in Valsaldo, Geld. Wenig, das stimmt; wenn nun aber nur ganz wenig da war? Aber es gab nur eine einzige Mama auf der Welt, die so schön die kleinen Füßchen bekleiden konnte. Gerade am Tag vorher hatte Luisa auf der Suche nach einem Stück Leine in der Bodenkammer unter altem Gerümpel, zwischen leeren Kisten und zerbrochenen Stühlen einen Stiefel ihres Großvaters gefunden. Sie hatte ihn zum Aufweichen ins Wasser gelegt und sich Schustermesser, Pfriem und Ahle geliehen. Sie nahm den ehrwürdigen Stiefel, der Ombretta Furcht einflößte, und stellte ihn auf den Tisch.

»Jetzt wollen wir ihm die Leichenrede halten,« sagte sie mit jener absichtlichen Lustigkeit, die selbst die tödlichste Angst ihr nicht rauben konnte, wenn sie ihrer bedurfte: »Erst aber mußt du deinen Herrn Urgroßvater um die Erlaubnis bitten, dir seinen Stiefel zu nehmen.«

Sie hieß Maria die Händchen falten und sagte drollig zur Decke blickend folgendes Spaßverschen her:

»Lieber Herr Urgroßpapa,
Tragen Sie noch diesen Stiefel da?
Sonst könnte ihn ja
Ihre Ombretta haben,
Sie möchte so gerne tragen
Ein Paar Schuh',
Und sie will's Ihnen danken ihr ganzes Leben
Und Ihnen dazu
Noch ein Küßchen schön auf die Fußsohle geben.«

Und daran knüpfte sich ein wenig frommes Märchen, wie so viele in Luisas Gehirn entstanden, eine putzige Geschichte vom Engelchen, das die Stiefel im Paradiese wichst und, weil es ohne Erlaubnis ein Stückchen Goldbrot nehmen wollte, den Stiefel des Urgroßvaters hatte auf die Erde fallen lassen.

Maria wurde wieder vergnügt, sie lachte, unterbrach die Mutter mit hundert Fragen über das goldene Brot und über den im Paradies zurückgebliebenen Stiefel. Was würde der Urgroßpapa damit anfangen? Die Mutter erklärte ihr, daß der Urgroßvater lieber damit dem Kaiser von Österreich, wenn er ihm begegnete, von hinten einen Stoß versetzen würde, als ihn vom Himmel herunterwerfen.

In diesem Augenblick trat Franco ein.

Luisa gewahrte sofort, daß seine Augen und seine Stirn Sturm kündeten.

»Nun?« sagte sie.

Franco antwortete erregt: »Bring Maria ins Bett.«

Luisa entgegnete, daß sie das Kind habe aufbleiben lassen, um ihn zu erwarten, um noch ein bißchen mit ihm zusammen zu sein.

Franco erwiderte: »Ich sage dir, bringe sie zu Bett!« in so barschem Ton, daß Maria anfing zu weinen.

Luisa wurde rot, schwieg aber. Sie zündete eine Kerze an, hob das Kind auf den Arm, reichte es stumm seinem Vater, der ihm einen kühlen Kuß gab, und trug es hinaus.

Franco folgte ihr nicht. Der Anblick des Stiefels erregte seinen Zorn, und er warf ihn auf die Erde. Dann setzte er sich, stützte die Ellbogen auf den Tisch und preßte seine Hände gegen den Kopf.

Während Pasotti sprach, war ihm plötzlich mit der Erinnerung an jenes »was, schweigen?«, an jenes »genug!« und an die Erzählung des Kindes der bittere Gedanke aufgeblitzt, Luisa könnte Gilardonis Mitschuldige sein. Es war ihm, als bewegte sich in seinem Innern ein Strudel, in dem dieser Gedanke wirbelnd verschwand, wieder auftauchte und immer tiefer wirbelte, immer näher zum Herzen.

»Also?« fragte Luisa, wieder zurückkommend. Franco sah sie einen Augenblick schweigend an, mit forschenden Blicken. Dann stand er auf und umklammerte ihre Hände.

»Sage mir, ob du von nichts weißt!« sagte er.

Sie erriet, um was es sich handelte, aber dieser Blick und diese Art verletzte sie.

»Wie, ob ich was nicht weiß?« rief sie, indem ihr das Blut ins Gesicht stieg. »Fragst du mich so darnach?«

»Ah, du weißt also!« schrie Franco, ihre Hände von sich schleudernd und die Arme in die Luft streckend.

Sie ahnte, was jetzt kommen würde, der Verdacht ihrer Mitschuld an des Professors Vorgehen, ihr eignes Widerlegen, die tödliche, nie wieder gutzumachende Beleidigung, wenn Franco in seinem Zorn ihrem Wort keinen Glauben schenkte, und angsterfüllt rang sie die Hände.

»Nein, Franco, nein, Franco,« sagte sie mit flüsternder Stimme und schlang die Arme um seinen Hals, sie wollte seine Lippen mit Küssen schließen. Aber er mißverstand sie, er glaubte, sie wollte um Verzeihung bitten und stieß sie zurück.

»Ich weiß es, ja, ich weiß es,« sagte sie, sich von neuem leidenschaftlich an seine Brust werfend, »aber ich habe es erst nachher erfahren, als es geschehen war, ich war entrüstet wie du, mehr als du!«

Aber Francos Bedürfnis, sich auszutoben, zu kränken, war allzu groß.

»Und wie willst du, daß ich dir glaube?« rief er.

Mit einem Schrei taumelte sie zurück, dann trat sie wieder auf ihn zu und streckte ihm die Arme entgegen.

»Nein,« flehte sie mit herzzerreißender Stimme, »sage mir, daß du mir glaubst, sage es mir gleich, sofort, denn sonst, du weißt nicht, du weißt nicht!«

»Was weiß ich nicht?«

»Du weißt nicht, wie ich bin, ich, die ich dich immer lieben, dir aber nicht mehr Gattin sein werde, die ich vielleicht unendlich leiden, aber niemals wieder die alte werden kann. Begreifst du, was das heißt: niemals wieder

Er zog sie an sich, die schmächtige, schwer atmende Gestalt, er preßte ihre Hände, als wollte er sie zerbrechen, und sagte mit erstickter Stimme:

»Ich werde dir glauben, ja, ich werde dir glauben!«

Luisa sah ihn unter Tränen an, sie verlangte ein besseres Wort.

»Ich werde dir glauben,« sagte sie, »ich werde dir glauben?«

»Ich glaube dir, ich glaube dir.«

Er glaubte ihr wirklich, aber wo Zorn ist, ist auch immer Stolz. Er wollte sich nicht allsobald ganz ergeben. Und sein Ton war mehr der eines willfährigen als eines überzeugten Menschen. Hand in Hand blieben sie beide stumm. Wie in unmerklicher Bewegung löste sich ganz sachte einer vom andern. Es war Luisa, die sich endlich sanft, aber entschieden von ihm trennte. Sie fühlte die Notwendigkeit, das Schweigen zu brechen, warme Worte fand sie nicht, kalte Worte mochte sie nicht sagen, so erzählte sie ohne weiteres, wie sie durch Gilardoni von der verwünschten Reise nach Lodi erfahren habe. Sie sprach mit ruhiger Stimme, in nicht gerade gleichgültigem, aber traurigem Ton, während sie am Tisch ihrem Gatten gegenüber saß. Indessen sie die vertraulichen Mitteilungen des Professors berichtete, erregte sich Franco von neuem und unterbrach sie unaufhörlich:

»Und du hast ihm nicht dies und das gesagt? – Und du hast ihn nicht einen Dummkopf genannt? Du hast ihn nicht einen Tölpel genannt?«

Das erstemal ließ Luisa es gehen, dann protestierte sie. Sie hatte ihm schon gesagt, daß Gilardonis Mißgriff sie sehr aufgebracht habe, jetzt schien es fast, als zweifelte ihr Gatte an ihrem Wort.

Franco schwieg, aber nur widerwillig.

Als der Bericht zu Ende war, fiel er noch einmal über diesen eselhaften Philosophen her, so daß Luisa ihn in Schutz nahm. Er war ihr Freund, er hatte einen schweren Irrtum begangen, einen sehr schweren, aber in guter Absicht. Wohin verloren sich Francos Grundsätze, die Barmherzigkeit, die Verzeihung der Kränkungen, wenn er nicht einmal dem verzieh, der ihm hat Gutes tun wollen? Sie dachte Dinge, die sie nicht aussprach. Sie dachte, daß Franco nur allzuoft verzieh, wo verzeihen Torheit und Prahlerei war, und allzuwenig, wo einfach wundervolle Gründe vorhanden waren, es zu tun.

Es reizte Franco, als er sie von Barmherzigkeit sprechen hörte, er wagte nicht zu sagen, daß er sich über einen solchen Angriff erhaben fühlte; aber er parierte den Stoß in wenig großmütiger Weise.

»Siehst du!« rief er, und es war unschwer, auch aus dem Nichtgesagten seine Meinung durchzufühlen. »Du verteidigst ihn bereits!«

Luisa zuckte nervös mit den Schultern, aber sie sagte nichts.

»Und warum nicht mit mir darüber sprechen?« fuhr Franco fort. »Warum mir nicht gleich alles erzählen?«

»Weil Gilardoni, als ich ihm Vorwürfe machte, mich anflehte zu schweigen, und ich meinte, daß, nachdem es nun einmal geschehen war, es unnütz sei, dir einen so großen Verdruß zu bereiten. Am letzten Tag des Jahres, als du so zornig warst, wollte ich es dir sagen, wollte ich dir erzählen, was Gilardoni mir anvertraut hatte, entsinnst du dich? Und du wolltest es durchaus nicht leiden. Ich habe nicht darauf bestanden, auch weil Gilardoni der Großmutter gesagt hat, daß wir nichts davon wüßten.«

»Sie hat es nicht geglaubt! Selbstverständlich!«

»Und wenn ich gesprochen hätte, was würde das daran geändert haben? So hat Pasotti gesehen, daß du nichts wußtest.«

Franco erwiderte nichts. Nun bat Luisa ihn, ihr seine Unterredung mitzuteilen, und hörte zu, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie erriet mit ihrem durch Haß geschärften Blick, daß, wenn Franco die Aufforderung, in die Geschäfte einzutreten, angenommen hätte, man mit der letzten Bedingung herausgerückt wäre, sich von dem Onkel, einem aus politischen Gründen entlassenen Beamten, zu trennen.

»Zweifellos,« sagte sie, »würde sie auch das verlangt haben! Pack!«

Ihr Gatte zuckte zusammen, als ob dieser Hieb auch ihn getroffen habe.

»Gemach mit diesen Worten,« sagte er. »Erstens ist das eine Vermutung von dir, und dann ...«

»Eine Vermutung von mir? Und das übrige? Und dir eine solche Gemeinheit anzubieten?«

Franco, der bei Pasottis Vorschlag in namenlose Wut geraten war, antwortete jetzt seiner Frau ganz nachgiebig:

»Ja, ja, ja, aber schließlich ...«

Jetzt war es an ihr, heftig zu werden. Der Gedanke, daß die Großmutter wagen könnte, ihnen vorzuschlagen, den Onkel zu verlassen, machte sie fast wahnsinnig.

»Das wenigstens wirst du mir zugeben,« sagte sie, »daß sie Mitleid nicht verdient! Mein Gott, zu denken, daß dieses Testament noch existiert!«

»Oho!« rief Franco. »Fangen wir noch einmal von vorn an?«

»Ja, fangen wir noch einmal von vorn an! Hast du das Recht, zu verlangen, daß ich nicht einmal denken, nicht einmal empfinden soll, was dir nicht gefällt? Ich wäre feige, ich verdiente eine Sklavin zu sein, wenn dem so wäre. Und ich will weder das eine noch das andre sein.«

Die Rebellin, die Franco zuweilen in der Geliebten geahnt, gefühlt hatte, das Geschöpf des starken und stolzen, über die Liebe gehenden Intellekts, das er niemals vollkommen besessen hatte, stand ihm jetzt gegenüber, am ganzen Körper bebend in dem Bewußtsein seiner Auflehnung.

»Es ist gut,« sagte Franco, zu sich selbst sprechend. »Sie wäre feige, sie wäre eine Sklavin. Aber denkt sie gar nicht daran, daß ich morgen fortgehe?«

»Gehe nicht fort. Bleibe. Handle nach dem Willen deines armen Großvaters. Erinnere dich dessen, was du mir über den Ursprung des Vermögens der Maironi erzählt hast. Erstatte alles dem Ospitale Maggiore zurück. Übe Gerechtigkeit.«

»Nein!« antwortete Franco, »Hirngespinste! Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Dein wahrer Zweck ist, die Großmutter zu treffen. Die Geschichte mit dem Hospital dient dir nur zum Deckmantel. Nein, ich werde mich nie dieses Testaments bedienen. Ich habe das auch Pasotti erklärt und müßte mir ins Gesicht speien, wenn ich mein Wort nicht hielte! Und morgen früh reise ich.«

Es folgte ein langes Schweigen. Dann nahmen sie beide das Gespräch wieder auf, kalt und traurig, als sei in beider Herzen etwas erstorben.

»Hast du daran gedacht,« sagte Franco, »daß ich auch das Andenken meines Vaters beschimpfen würde?«

»Wieso?«

»Erstens wegen der beleidigenden Form der Verfügungen, dann aber, weil ich meinen Vater der Mitschuld bei der Unterschlagung des Testaments verdächtigen würde. Freilich, du begreifst diese Dinge nicht. Was liegt dir daran?«

»Aber es ist nicht notwendig, von Unterschlagung zu sprechen. Es kann sein, daß das Testament nicht gefunden worden ist.«

Erneutes Schweigen. Selbst die Talgkerze, die auf dem Tisch brannte, schien eine trübselige Stimmung zu verbreiten.

Luisa stand auf, nahm den Stiefel des Urgroßvaters von der Erde und traf ihre Vorbereitungen, um an die Arbeit zu gehen.

Franco lehnte die Stirn an die Fensterscheiben. Er blieb eine Weile in die Betrachtung der nächtlichen Schatten versunken. Dann sagte er leise, ohne den Kopf umzudrehen:

»Nie, nie hat deine Seele mir ganz angehört.«

Keine Antwort.

Jetzt wandte er sich um und fragte seine Frau ohne jeglichen Zorn, mit der unbeschreiblichen Sanftheit, wie sie ihm in den Momenten physischer und moralischer Depression eigen war, ob er vom Anfang ihrer Verbindung an sich ihr gegenüber habe etwas zuschulden kommen lassen.

Ein kaum vernehmbares »Nein« war die Antwort.

»So liebtest du mich vielleicht nicht, wie ich glaubte?«

»Nein, nein, nein.«

Franco war nicht sicher, richtig verstanden zu haben und wiederholte:

»Du liebtest mich nicht?«

»Ja, ja, so sehr!«

Seine Stimmung hob sich, ein Hauch von Strenge klang in seiner Stimme, als er fragte:

»Warum hast du mir dann nicht deine ganze Seele gegeben?«

Sie schwieg. Vergeblich hatte sie vorher versucht, die Arbeit wieder aufzunehmen. Die Hände zitterten ihr.

Und jetzt diese furchtbare Frage. Sollte sie oder sollte sie nicht antworten? Antwortete sie, enthüllte sie zum erstenmal auf dem Grunde ihres Herzens begrabene Dinge, so würde sie den schmerzlichen Riß nur erweitern; aber konnte sie unaufrichtig sein? Ihr Schweigen dauerte so lange, daß Franco noch einmal fragte:

»Du sagst nichts?«

Sie nahm all ihre Kraft zusammen.

»Ich habe mich immer verschieden und losgelöst von dir gefühlt,« sagte sie, »in der Empfindung, die alle andern beherrschen muß. Du hast die religiösen Anschauungen meiner Mutter. Meine Mutter verstand unter Religion, wie du es tust, ein aus Glaubensartikeln, gottesdienstlichen Handlungen und religiösen Vorschriften bestehendes Ganzes, das von der Liebe zu Gott eingegeben und beherrscht würde. Ich habe immer widerstrebt, sie in diesem Sinne aufzufassen, es ist mir nie gelungen, wie sehr ich mich auch bemüht habe, in Wirklichkeit jene Liebe für ein unsichtbares und unbegreifliches Wesen zu empfinden; ich habe nie den Sinn begreifen können, meine Vernunft zu zwingen, Dinge als richtig anzunehmen, die ich nicht fassen kann. Dennoch fühlte ich mich immer von dem glühenden Verlangen beseelt, mein Leben auf ein edles Ziel zu richten, das höher gesteckt war als meine persönlichen Interessen. Und dann hatte meine Mutter durch Beispiel und Worte mich so von meinen Pflichten gegen Gott und die Kirche überzeugt, daß meine Zweifel mir einen tiefen Schmerz verursachten, daß ich gegen sie ankämpfte, soviel ich vermochte. Meine Mutter war eine Heilige. Jede Handlung ihres Lebens stand mit ihrer Frömmigkeit im Einklang. Auch das verfehlte nicht die Wirkung auf mich, und dann wußte ich, daß der größte Kummer ihres Lebens meines Vaters Unglaube gewesen war. Ich lernte dich kennen; ich liebte dich, ich heiratete dich, und ich bestärkte mich in dem Vorsatz, die Religion mit deinen Augen anzusehen, weil du warst wie meine Mutter. Aber allmählich, ganz allmählich fand ich, du warst nicht wie meine Mutter. Muß ich dir auch das sagen?«

»Ja, alles.«

»Ich fand, daß du die Güte selbst warst, daß du das wärmste, edelste, großmütigste Herz von der Welt besaßest, aber daß dein Glaube und deine religiösen Andachten diese Schätze fast überflüssig machten. Du handeltest nicht. Du begnügtest dich damit, mich zu lieben, das Kind, Italien, deine Blumen, deine Musik, die Schönheiten des Sees und der Berge, darin folgtest du deinem Herzen. Dein ideales Bedürfnis wurde befriedigt durch den Glauben und das Gebet. Ohne diesen Glauben und ohne das Gebet hättest du das Feuer deiner Seele dem, was wirklich wahr, was wirklich gerecht auf Erden ist, geweiht, du hättest das Bedürfnis zur Betätigung empfunden, wie ich es fühlte. Du weißt es ja, wie ich dich in gewissen Dingen gern anders gesehen hätte! Wer könnte zum Beispiel patriotischer empfinden als du? Niemand. Nun gut, wie hätte ich gewünscht, daß du versuchtest, deinem Vaterland in Wahrheit in geringerem oder höherem Maße zu dienen. Jetzt gehst du nach Piemont, aber du gehst vor allem dorthin, weil wir fast nichts mehr zu leben haben.«

Franco, finster blickend, machte eine Gebärde zornigen Widerspruches.

»Wenn du willst,« sagte Luisa demütig, »höre ich auf.«

»Nein, nein, weiter, heraus mit allem, das ist am besten!«

Er sprach so gereizt, so erbittert, daß Luisa schwieg und erst nach einem zweiten ungeduldigen »Weiter!« in ihrer Rede fortfuhr:

»Auch ohne daß du nach Piemont gingst, wäre in Valsolda, in Val Porlezza, in Vall' Intelvi zu tun gewesen, was V. am Comersee getan hat, man hätte sich mit den Leuten in Verbindung setzen, das richtige Gefühl in ihnen lebendig halten können, alles, was not tut für den Tag des Krieges, wenn er kommen sollte, vorbereiten. Ich habe es dir gesagt, und du wolltest dich nicht davon überzeugen, du legtest mir so viel Schwierigkeiten in den Weg. Diese innere Trägheit bestärkte meine Abneigung gegen deine Auffassung der Religion und meine Neigung zu einer andern Auffassung. Denn auch ich hatte meine Religion. Mein Begriff von Religion, der sich in meinem Geiste immer klarer gestaltet hatte, war in kurzem folgender: Gott existiert, er ist auch allmächtig und allwissend, gerade wie du es glaubst; aber daß wir ihn anbeten und zu ihm sprechen, daran liegt ihm nichts. Das, was er von uns will, ist ersichtlich aus dem Herzen, das er uns gemacht, aus dem Gewissen, das er uns gegeben, aus dem Ort, an den er uns gestellt hat. Er will, daß wir all das Gute lieben, daß wir all das Böse verabscheuen und mit all unsern Kräften dieser Liebe und diesem Hasse entsprechend handeln sollen, und daß wir uns nur mit der Erde befassen, mit den Dingen, die wir begreifen, die wir fühlen können! Jetzt verstehst du, wie ich meine Pflicht auffasse, unsre Pflicht angesichts aller Ungerechtigkeiten, aller Gewalttätigkeiten!«

Je länger Luisa fortfuhr, ihre eigenen Ansichten zu erklären und darzulegen, je zufriedener war sie, endlich aufrichtig sein zu dürfen, sich mit Freimut auf eignem, sicherem Terrain zu bewegen; in dem Maße, in dem jede Bitterkeit gegen den Gatten schwand, füllte sich ihr Herz mit zärtlichem Mitleid für ihn.

»Siehst du,« fügte sie hinzu, »wenn es sich nur um diese Unannehmlichkeit wegen der Großmutter handelte, glaubst du nicht, daß ich lieber tausendmal meine Meinung geopfert hätte, als dich zu betrüben? Es mußte schon etwas andres dahinter stecken. Jetzt weißt du alles. Jetzt habe ich meine Seele in deine Hände gelegt.«

Sie las auf der Stirn ihres Mannes einen düsteren Schmerz, eine feindliche Kälte. Sie stand auf und näherte sich ihm leise, leise, mit verschlungenen Händen, ihn fest anblickend, seine Augen suchend, die sie vermieden, und sie blieb stehen, von einer höheren Macht zurückgehalten, obwohl er kein Wort gesprochen, keine Bewegung gemacht hatte.

»Franco!« flehte sie. »Du kannst mich nicht mehr lieben?«

Er gab keine Antwort.

»Franco! Franco!« sagte sie, die verschlungenen Hände nach ihm ausstreckend. Dann machte sie Miene, zu ihm zu treten. Er zog sich heftig von ihr zurück. Eine endlose halbe Minute standen sie so schweigend einander gegenüber.

Franco preßte seine Lippen aufeinander, man hörte seine schnellen Atemzüge. Er brach das Schweigen.

»Das, was du gesagt hast, das meinst du wirklich?«

»Ja.«

Seine Hände hielten die Lehne eines Sessels. Heftig stieß er dagegen und sagte bitter: »Genug.«

Luisa blickte ihn mit unsäglicher Traurigkeit an und murmelte: »Genug?«

Zornig antwortete er: »Ja, genug, genug, genug, genug!« Er schwieg einen Augenblick und fuhr mit Härte fort: »Ich mag faul sein, träge, ein Egoist, alles, was du willst, aber ich bin kein Kind, das man mit ein paar Liebkosungen beruhigt, wenn man ihm all das gesagt hat, was du mir gesagt hast! Genug!«

»O Franco, ich habe dir weh getan, ich weiß, aber es ist mir so schwer geworden, dir weh zu tun! Könntest du nicht Nachsicht mit mir haben?«

»Ah, Nachsicht mit dir haben! Du willst verletzen und willst mit Güte behandelt werden! Du stehst über allen, du urteilst ab, du richtest, du bist die einzige, die versteht, was Gott will und was er nicht will! Nein, meine Liebe, das denn doch nicht. Von mir sage nur ruhig, was du magst, aber laß deine Hand von Dingen, die du nicht verstehst. Beschäftige dich lieber mit deinem Stiefel.«

Er wollte in seiner Frau nur den Hochmut sehen, und sein Zorn entsprang doch fast ausschließlich dem Stolz, der gekränkten Eigenliebe, es war ein unedler Zorn, der ihm Geist und Herz trübte. Sowohl die Frau wie der Mann waren der Meinung, daß man sie aller möglichen Dinge beschuldigen konnte, aber nicht des Hochmuts.

Sie schwieg, setzte sich wieder an ihren Platz und versuchte die Arbeit wieder aufzunehmen, sie hantierte nervös mit den Werkzeugen, ohne recht zu wissen, was sie tat. Franco ging in den Saal, die Tür hinter sich zuschlagend.

In dem Dunkel des Saales, der seit fünf Uhr verlassen war, erstarrte man vor Kälte. Aber Franco bemerkte es nicht. Er warf sich auf das Sofa und überließ sich ganz seinem Schmerz, seinem Zorn und verteidigte sich im Geiste, ohne auf den Grund zu gehen, leidenschaftlich gegen seine Gattin. Da Luisa sich, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, gegen ihn und gegen Gott aufgelehnt hatte, so paßte es ihm in seinem Herzen, seine eigne Angelegenheit mit jener andern stummen, schrecklichen Kränkung zu vermischen. Erstaunen, Bitterkeit, Zorn, die guten und schlechten Gründe, die er gegeneinander abwog, verursachten zunächst einen stürmischen Wirbel in seinem Gehirn. Dann erleichterte er sich in der Vorstellung von Luisas Reue, ihrer Bitte um Verzeihung, seinen großmütigen Antworten.

Plötzlich hörte er Maria schreien und weinen. Er sprang auf, um zu sehen, was ihr fehlte, aber er hatte kein Licht. So wartete er ein wenig in dem Glauben, daß Luisa zu ihr gehen würde. Er hörte keine Bewegung, und das Kind weinte immer lauter. Leise näherte er sich dem kleinen Salon und sah durch die Glastür.

Luisa hatte die Arme auf dem Tisch gekreuzt und das Gesicht auf die Arme gelegt. Man sah bei dem Licht der Kerze nur ihre schönen braunen Haare.

Franco fühlte seinen Zorn schwinden, er öffnete die Tür und rief mit halblauter Stimme, einen gewissen milden Ernst im Ton:

»Luisa, Maria weint.«

Luisa hob das totenblasse Gesicht, nahm die Kerze und ging, ohne ein Wort zu sagen, hinaus. Ihr Gatte folgte ihr.

Sie fanden das Kind, erschreckt durch einen bösen Traum, im Bett aufsitzend, ganz verweint. Als es den Vater sah, streckte es ihm die Ärmchen entgegen und flehte mit tränenerstickter Stimme: »Nicht fort, Papa, nicht fort, Papa!«

Franco drückte sie an seine Brust, bedeckte sie mit Küssen, beruhigte sie und legte sie wieder in ihr Bettchen. Sie behielt eine Hand des Vaters fest in der ihren und wollte sie nicht wieder loslassen.

Luisa nahm eine andre Kerze von dem Nachttisch und wollte sie anzünden, aber es gelang ihr nicht, so zitterten ihr die Hände.

»Kommst du nicht zu Bett?« fragte Franco.

Sie antwortete: »Nein« unter noch heftigerem Zittern.

Franco glaubte einen Argwohn, eine Furcht in ihr zu erraten, die ihn verletzten.

»O, du kannst ruhig kommen!« sagte er gereizt.

Luisa zündete das Licht an und sagte jetzt gefaßter, daß sie an den Schuhen arbeiten müsse. Sie ging hinaus, und erst auf der Schwelle murmelte sie: »Gute Nacht.«

Einen Augenblick hatte er die Absicht, sich zu entkleiden, er ließ sie aber sofort wieder fallen, da seine Gattin aufblieb, um zu arbeiten. Er nahm eine Decke, streckte sich angekleidet aus auf der Seite, wo das Bettchen stand, um die Händchen Marias, die noch nicht eingeschlafen war, halten zu können, und löschte das Licht.

Wie weich und lieblich war diese kleine Hand! Franco fühlte sie, sein Kind, sein unschuldiges, liebeheischendes Töchterchen, und er stellte sie sich vor als ein Weib, im Herzen ganz die seine, ihm in Gedanken und Empfindungen gleich, er stellte sich vor, daß dieses Händchen, das er so innig preßte, ihn für den ihm von Luisa zugefügten Schmerz entschädigen wollte, zu ihm spräche: ›Papa, du und ich, wir sind auf immer miteinander verbunden.‹ Gott im Himmel, Schauer durchrieselten ihn bei dem Gedanken, daß Luisa sie in ihren Ansichten erziehen könnte, und er wäre in der Ferne machtlos, etwas dagegen zu tun! Er betete zum Herrn, er betete zum Meister, der die Kindlein zu sich kommen ließ, er betete zur Jungfrau, er betete zu der Großmutter Teresa, die unter den Heiligen wandelte, er betete zu seiner eigenen Mutter, von der er wußte, daß sie rein und fromm gewesen war: »Beschützet, beschützet meine Maria!« Sich selbst, sein irdisches Glück, seine Gesundheit, sein Leben bot er dar, daß Maria vor der Irrlehre bewahrt bleibe.

»Papa,« sagte Ombretta. »Einen Kuß.«

Er lehnte sich aus dem Bett und neigte sich, um mit den Lippen das liebe Gesichtchen zu suchen, dann sagte er ihr, sie solle still sein und schlafen. Sie schwieg eine Minute, dann rief sie: »Papa!«

»Was willst du?«

»Ich habe das Maultier nicht unter dem Kopfkissen, weißt du, Papa.«

»Nein, nein, Liebling, aber schlafe.«

»Ja, Papa, ich schlafe.«

Wieder schwieg sie eine Minute, dann ging's von neuem los:

»Ist Mama im Bett, Papa?«

»Nein, Liebling.«

»Warum nicht?«

»Weil sie dir Schuhchen macht.«

»Werde ich im Paradies auch die Schuhchen tragen wie der Urgroßvater?«

»Still, schlafe.«

»Erzähle mir eine Geschichte, Papa.«

Er fing an, aber er besaß weder Luisas Phantasie noch Geschicklichkeit im Erzählen und geriet bald in die Enge.

»O Papa!« sagte Maria, mit dem Ausdruck des Mitleids. »Du kannst gar nicht Geschichten erzählen.«

Das beschämte ihn. »Höre nur, höre,« entgegnete er und begann eine Ballade von Carrer aufzusagen. »Geboren ward im Wald ein armes Kind, Gerolomina,« die er nach den vier Strophen, die er wußte, immer wieder von vorne anfing, mit einer geheimnisvollen Betonung, allmählich die Stimme immer mehr sinken lassend, bis sie zu einem unartikulierten Geflüster wurde und Ombretta Pipi, durch Rhythmus und Reim eingewiegt, mit ihnen in das Land der Träume sank. Als er sah, daß sie friedlich eingeschlummert war, erschien es ihm so grausam, sie zu verlassen, dünkte er sich ein solcher Verräter, daß er in seinem Vorhaben schwankend wurde. Gleich darauf lenkte er wieder ein.

Das süße Zwiegespräch mit dem Kinde hatte ihm den Frieden einigermaßen wiedergegeben und den Nebel von seinem Geiste verscheucht. Das Bewußtsein einer andern Pflicht, die er seinem Weibe gegenüber zu erfüllen hatte, dämmerte in ihm auf: er wollte ihr, koste es was es wolle, durch Wille und Tat beweisen, daß er ein Mann sei, er wollte durch seine Werke den eignen Glauben gegen sie verteidigen, er wollte fortgehen, arbeiten und leiden; und dann ..., und dann ... wenn der liebe Gott zuließe, daß die Kanonen für Italien donnerten, dann fort und mutig voran, und möge dann nur eine österreichische Kugel kommen, die sie weinen macht und auch sie beten lehrt!

Es fiel ihm ein, daß er seine Abendgebete noch nicht gesprochen hatte. Armer Franco, es war noch nie vorgekommen, daß er sie im Bett gesagt hatte, ohne nach der ersten Hälfte einzuschlummern. Als er sich ziemlich ruhig fühlte, fürchtete er bei dem Gedanken, daß Luisa vielleicht erst spät kommen würde, daß er einschlafen könnte, und er fragte sich, was sie sagen würde, wenn sie ihn eingeschlafen fände. Er stand leise auf, sagte seine Gebete, zündete dann das Licht an, setzte sich an den Schreibtisch, fing an zu lesen und schlief auf dem Stuhl ein.

*

Er wachte von Veronikas Holzpantoffeln auf, die die Treppe herunterklapperten. Luisa war noch nicht gekommen. Kurz darauf trat sie ein und zeigte sich nicht im geringsten erstaunt, Franco wach zu sehen.

»Es ist vier,« sagte sie. »Wenn du abreisen willst, es fehlt eine halbe Stunde.«

Er mußte um halb fünf aufbrechen, um sicher rechtzeitig in Menaggio den ersten Dampfer, der von Colico kam, zu erreichen.

Statt nach Como und dann nach Mailand zu gehen, wie er offiziell angekündigt hatte, mußte Franco in Argegno aussteigen, um in S. Fedele über die Berge und dann entweder durch die Val Mara oder durch Orimento und über den Generoso in die Schweiz zu gelangen.

Franco machte seiner Frau ein Zeichen, still zu sein und Maria nicht zu wecken. Dann winkte er ihr noch einmal stumm, näher zu kommen.

»Ich gehe fort,« sagte er leise. »Ich bin gestern abend schlecht gegen dich gewesen. Ich bitte dich um Verzeihung. Ich durfte dir nicht so antworten, auch wenn ich recht hatte. Du kennst mein Temperament. Verzeihe mir. Wenigstens trage es mir nicht nach.«

»Ich hege keinen Groll gegen dich,« antwortete Luisa sanft, wie jemand, der leicht freundlich sein kann, weil er sich überlegen fühlt.

Die letzten Vorbereitungen wurden in Schweigen getroffen, der Kaffee wurde in Schweigen genommen. Franco ging zum Onkel, den er am Abend nicht mehr gesehen hatte, um ihn zu umarmen, dann trat er in den Alkoven, kniete vor Marias Bettchen nieder und berührte ein Händchen, das über dem Pfosten hing, mit den Lippen. Als er in den Salon zurückkam, fand er Luisa in Hut und Schal. Er fragte sie, ob sie mit nach Porlezza käme. Ja, sie kam mit. Alles war bereit. Luisa hatte die Handtasche, der Reisesack war im Boot, Ismaele wartete bei der kleinen Treppe der Bucht, einen Fuß auf der Stufe, den andern im Vorderteil der Barke.

Veronika leuchtete den Reisenden hinunter, sie wünschte dem Herrn ganz zerknirscht eine glückliche Reise, denn sie ahnte Sturm.

Zwei Minuten noch, und das schwerfällige Boot, von Ismaele mit den ruhigen und langsamen »Reiseruderschlägen« geführt, glitt an der Mauer des Gemüsegartens entlang. Franco sah durch das kleine Fenster. Bei dem matten Schein des gestirnten, mondlosen Nachthimmels zogen die Rosen, die Kapernsträucher, die über die Mauern hängenden Agaven vorüber, vorüber die Orangenbäume, die Mispel, die Pinie. Lebt wohl! Lebt wohl! Weiter ging's vorbei am Kirchhof, an der »Zocca de Mainé«, der schmalen Straße, die er so oft mit Maria gegangen war, am Tavorell. Franco blickte nicht mehr hinaus. Diese Nacht brannte nicht das gewohnte Licht in dem Bootverdeck, und er konnte sein Weib nicht sehen, sein Weib, das stumm blieb.

»Kommst du nach Porlezza wegen der Akten des Notars,« fragte er, »oder nur um mich zu begleiten?«

»Auch deswegen!« sagte Luisa traurig. »Ich wollte aufrichtig mit dir sein bis zum letzten, und du fühlst dich dadurch gekränkt. Du bittest mich um Verzeihung und dann sprichst du so zu mir. Ich begreife, daß man nicht der Wahrheit treu bleiben kann, ohne viel, sehr viel zu leiden. Geduld, jetzt habe ich diesen Weg eingeschlagen. Ob ich mitgekommen bin, um dich zu begleiten, das wirst du wissen. Demütige mich nicht so weit, daß ich es dir jetzt sagen soll!«

»Demütigen!« rief Franco. »Ich verstehe dich nicht. Wir sind so verschieden in so vielen Dingen. Mein Gott, wie sind wir verschieden! Du bist immer so ganz Herr deiner selbst, du verstehst, deinen Gedanken immer einen so präzisen Ausdruck zu geben, du hast sie immer so rund und nett, so kalt beisammen!«

Luisa murmelte:

»Ja, wir sind verschieden.«

Keines von beiden sprach, bis sie nach Cressogno kamen. Als sie in der Nähe der Villa Maironi waren, sprach Luisa und tat ihr möglichstes, daß die Unterhaltung nicht ins Stocken geriet, bis die Villa außer Sicht war. Sie ließ sich die ganze festgesetzte Reiseroute noch einmal wiederholen, riet ihm an, nur die Handtasche zu nehmen, weil der Reisesack ihn von Argegno an zu sehr belästigen würde. Sie hatte schon mit Ismaele gesprochen, und Ismaele übernahm es, ihn nach Lugano zu bringen und von dort nach Turin befördern zu lassen. Inzwischen war man an der großmütterlichen Villa mit ihren unheilvollen Erinnerungen vorübergefahren.

Und jetzt war man bei dem Sanktuarium der Caravina. Zweimal hatten Franco und Luisa sich während ihres Liebesfrühlings bei dem Feste der Caravina am 8. September unter den Olivenbäumen getroffen. Und jetzt ging's vorüber an der lieben kleinen, von Olivenbäumen umstandenen Kirche unter den wilden Felsen des steilen Cressogno. Ade, Kirchlein, ade, vorüber, vorüber!

»Vergiß nicht,« sagte Franco fast hart, »daß Maria jeden Morgen und jeden Abend ihre Gebete sagen muß. Ich befehle es.«

»Ich hätte es auch ohne diesen Befehl getan,« antwortete Luisa. »Ich weiß, daß Maria nicht mir allein gehört.«

Bis Porlezza wurde kein Wort mehr gesprochen. Das Verlassen der friedlichen Bucht von Valsolda, der Ausblick auf neue Täler, andre Horizonte und den im ersten Morgengrauen sich kräuselnden See zogen die Gedanken der beiden Reisenden ab, ließen sie, sie wußten nicht weshalb, an die ungewisse Zukunft denken, die ein verheißungsvolles Raunen, das verstohlen durch das drückende österreichische Schweigen klang, als Vorläufer großer Dinge ankündigte.

Vom Ufer in Porlezza hörte man jemand rufen, und Ismaele ruderte mit aller Kraft darauf zu. Es war der Fuhrmann Toni Pollin, der rief, daß man sich beeilen müßte, wenn man nicht den Dampfer nach Menaggio versäumen wollte.

Die letzten Augenblicke waren gekommen. Franco öffnete das Glasfenster der Tür und sah zu dem Mann hinüber, als ob ihn seine Worte sehr interessierten.

Als sie anlegten, wandte er sich um zu seiner Frau. »Steigst du auch aus?«

Sie antwortete: »Wenn du meinst.«

Sie stiegen aus. Ein Wagen wartete am Ufer.

»Sieh in der Tasche nach,« sagte Luisa, »du wirst darin etwas zum Frühstücken finden.«

Sie umarmten sich und gaben sich vor den drei oder vier Neugierigen, die sie umstanden, einen flüchtigen, gleichgültigen Kuß.

»Sag Maria,« sagte Franco, »sie soll mir verzeihen, daß ich so von ihr gehe,« und das waren seine letzten Worte, denn Toni Pollin trieb zur Eile an, »schnell, schnell!«

Mit lautem Peitschengeknall fuhr der Wagen in schnellem Trab durch die schmale, düstere Gasse von Porlezza davon.

*

Franco fuhr auf dem »Falken« von Campo nach Argegno, als ihm die Lust kam, etwas zu sich zu nehmen. Er öffnete die Tasche, und das Herz wollte ihm stillstehen, als seine Augen auf einen Brief fielen, der die in der Handschrift seiner Frau geschriebene Adresse trug: »Für Dich.« Er öffnete ihn begierig und las:

»Wenn Du wüßtest, was ich im Innern meines Herzens fühle, was ich leide, wie ich mich versucht fühle, die Schuhe, auf die ich mich sehr viel weniger verstehe, als Du anzunehmen scheinst, im Stich zu lassen und zu Dir zu kommen, um alles zurückzunehmen, was ich Dir gesagt habe, so würdest Du nicht so hart zu mir sein. Ich muß viel gegen die Wahrheit gesündigt haben, daß mir die ersten Schritte, die ich in ihrer Gefolgschaft mache, so schwer und bitter werden.

»Du hältst mich für stolz, und ich selbst hielt mich für empfindlich. Jetzt fühle ich, daß Deine demütigenden Worte mich nicht abhalten könnten, Dich aufzusuchen. Das, was mich zurückhält, ist eine Stimme in mir, eine Stimme, die stärker ist als ich, die mir befiehlt, alles zu opfern, außer meiner Wahrhaftigkeit.

»Ach, ich hoffe auf einen Lohn für dieses Opfer! Ich hoffe, daß wir eines Tages in Seelengemeinschaft verbunden sein werden.

»Ich gehe in das Gärtchen und pflücke für Dich das brave Röslein, das wir vorgestern zusammen bewundert haben, das dem Januar getrotzt hat und ihn besiegt. Entsinnst Du Dich, wie viele Hindernisse zwischen uns standen, als ich zum erstenmal eine Blume aus Deiner Hand empfing? Ich liebte Dich noch nicht, und Du dachtest schon daran, mich zu bezwingen. Jetzt bin ich es, die Dich zu erobern hofft.«

Es fehlte wenig, und Franco wäre an Argegno vorbeigefahren, ohne sich von der Stelle zu rühren.


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