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Zweites Kapitel.
Die Mondscheinsonate und Wolken

Die Sonne verschwand hinter dem Gipfel des Monte Brè, und schnell verdunkelte der Schatten den steilen Abhang und die Häuser von Oria, zeichnete bläulich und düster das Profil des Berges auf das leuchtende Grün der Wellen, die noch groß, aber ohne Schaumkappen bei dem matten Wind schräg nach Westen liefen. Die Villa Ribera versank als letzte in der Dämmerung. Gegen die abschüssigen Weingelände, von denen sich vereinzelte Olivenbäume abhoben, lag sie quer vor dem Fußpfad, der sich längs des Sees hinzieht, und kehrte dem bewegten Wasser eine bescheidene Front zu. An der Westseite, dem Dorfe zu, war sie von einem terrassenförmigen, hängenden Garten umsäumt, nach Osten gegen die Kirche von einem kleinen Altan, der auf Pfeilern ruhte, die ein Stück des geweihten Kirchplatzes umschlossen. Ein kleines Hafenbecken öffnete sich in diese Front, wo sich jetzt auf den plätschernden Wellen der Kahn des jungen Paares schaukelte. Oberhalb der Buchtung des Hafens verband eine zierliche Galerie, deren drei Fenster auf den See gingen, das westliche hängende Gärtchen mit der östlichen Terrasse. Man nannte sie Loggia, vielleicht weil sie vor Zeiten als solche gedient hatte. Bei dem alten Hause hatten sich hier und dort noch verschiedene dieser altehrwürdigen fossilen Bezeichnungen durch Tradition erhalten, und in ihrer anscheinenden Absurdität erläuterten sie die Geheimnisse der Religion des häuslichen Herdes. Hinter der Loggia lag ein geräumiger Saal und hinter dem Saal zwei Zimmer: nach Westen das kleine Speisezimmer, dessen Wände rings mit kleinen Porträts berühmter Männer tapeziert waren, jedes unter Glas und Rahmen und jeder in der würdevollen Haltung, wie berühmte Sterbliche sie an sich haben, als seien die Kollegen gar nicht vorhanden, und als blicke die Welt nur auf ihn allein, und nach Osten das Schlafzimmer, wo neben den Ehegatten im eignen Bettchen Fräulein Maria Maironi, geboren im August 1852, schlief.

Von den Rokokokommoden bis zu den Schlafzimmern und zu dem Mehlkasten der Küche, von der schwarzen Wanduhr des Speisezimmers bis auf das Kanapee der Loggia mit seinem kastanienbraunen Bezug, auf dem sich gelbe und rote Türkenritter tummelten, von den Rohrstühlen bis zu gewissen unverhältnismäßig hohen Armsesseln gehörten die Möbel des Hauses der Zeit der berühmten Männer an, von denen die meisten Perücke und Zopf trugen.

Wenn es auch aussah, als seien sie von einer Rumpelkammer heruntergestiegen, so schien es doch, als hätten sie in der Luft und dem Licht der neuen Wohnung gewisse verlorene Gewohnheiten der Sauberkeit wieder angenommen, ein bemerkenswertes Interesse am Leben, die Würde eines in Ehren Ergrauten. So könnte sich heute der Erguß einer betagten konservativen Dichterseele aus einem Gemisch ungebräuchlicher Worte zusammensetzen und seine heitere und anmutige Senilität widerspiegeln. Unter dem mathematischen und bureaukratischen Regime des Oheims Piero hatten Stühle und Sessel, Tischchen und Tische in vollkommener Symmetrie gelebt, und das Privilegium der Unabsetzbarkeit war selbst den Strohmatten zugebilligt worden. Den Namen »Möbel« – abgeleitet von mobile – trug nur ein himmelblau und graues Kissen mit Recht, eine gepolsterte Mißgeburt, das der Ingenieur während seiner kurz bemessenen Aufenthalte in Oria immer mit sich trug, wenn er den Stuhl wechselte.

In seiner Abwesenheit respektierte der Hausverwalter die Einrichtungsgegenstände derart, daß er keine vertraulichere Berührung wagte, sich nicht getraute, die weniger sichtbaren Teile abzustäuben. Darüber geriet bei der jedesmaligen Rückkehr in Valsolda die Wirtschafterin regelmäßig in höchsten Zorn. Der Hausherr, gereizt, daß wegen eines bißchen Staubes so ein armer Teufel von Bauer heruntergemacht würde, geriet mit ihr aneinander und gab ihr den guten Rat, selbst abzustäuben; und als die Frau entrüstet fragte, ob sie sich denn jedesmal, wenn sie zurückkäme, zu Tode arbeiten sollte, wenn sie immer das ganze Haus in Ordnung bringen müsse, antwortete er ihr gutmütig: »Ein einziges Mal wird ja wohl genügen.«

Ferner überließ er der Laune des Verwalters sowohl die Sorge für das Gärtchen wie für einen Gemüsegarten, den er östlich vom Kirchplatz am Ufer des Sees besaß. Nur ein einziges Mal, zwei Jahre vor Luisas Heirat, als er Anfang September nach Oria kam und auf der zweiten Terrasse des Gärtchens sechs Maispflanzen fand, hatte er sich erlaubt, dem Verwalter zu bemerken: »Hören Sie mal, hier die sechs Stengel, ginge es nicht eigentlich ohne die?«

Die nicht konservativen Phantasten Franco und Luisa hatten den Dingen ein völlig verändertes Ansehen verliehen. Francos Phantasie war kühner, inbrünstiger und leidenschaftlicher, Luisas durchdachter; Francos Empfindungen flammten ihm immer aus den Augen, aus dem Gesicht, aus den Worten, Luisas sprühten fast nie Flammen, sondern gaben nur ihrem durchdringenden Blick, ihrer weichen Stimme eine tiefere Färbung. Franco war nur in bezug auf Religion und Kunst konservativ; was die häuslichen vier Wände anging, war er ein glühender Radikaler; immer träumte er von Umwandlungen der Tapeten, der Decken, der Fußböden, der Möbel. Luisa bewunderte anfangs seinen schöpferischen Geist, aber da das Geld fast alles von dem Oheim kam und kein Überfluß für phantastische Unternehmungen vorhanden war, so bewog sie ihn ganz allmählich, die Tapeten, Decken und auch die Fußböden an Ort und Stelle zu lassen und zu überlegen, wie man die Möbel besser disponieren könne ohne eingreifende Umänderungen. Und sie suggerierte ihm Ideen, ohne daß es den Anschein hatte, ihn in dem Glauben lassend, daß er der Urheber sei, denn auf die Vaterschaft der Einfälle hielt Franco sehr, während Luisa diese Mutterschaft ganz gleichgültig ließ. So kamen sie überein, daß der Saal der Unterhaltung, der Lektüre und der Musik gewidmet sein solle, die Loggia dem Spiel, der Altan dem Kaffee und poetischen Betrachtungen. Diese kleine Terrasse stempelte Franco zur lyrischen Poesie des Hauses. Sie war sehr winzig, und es schien Luisa, als könnte man der Begeisterung ihres Gatten etwas Luft schaffen. Und damals war es, daß der König der valsoldesischen Maulbeerbäume von seinem Thron fiel, der alte berühmte Maulbeerbaum des geweihten Kirchplatzes, ein Tyrann, der der Terrasse den schönsten Ausblick raubte. Franco befreite sich mittels käuflicher Erwerbung von ihm. Er entwarf ein luftiges Gefüge feiner Eisenstangen und Stäbchen, das drei von einer kleinen Kuppel überragte Bogen darstellte, und brachte es über der Terrasse an, ließ zwei anmutige Passionsblumen sich hinaufranken, die hier und dort ihre himmelblauen Augen öffneten und von allen Seiten in Gehängen und Gewinden wieder herunterfielen. Ein kleiner runder Tisch und einige eiserne Stühle dienten für den Kaffee und für die Betrachtungen. Was das hängende Gärtchen anbelangt, hätte Luisa auch den türkischen Weizen ruhig hingenommen, aus einer Toleranz des überlegenen Geistes, dem es gefällt, die Untergebenen in ihren Ideen, Gewohnheiten und Neigungen in Frieden gewähren zu lassen. Sie empfand ein gewisses respektvolles Mitleid mit den gärtnerischen Idealen des armen Verwalters, für dieses grobe und liebliche Gemisch, das sein Herz barg, ein großes Herz, imstande, gleichzeitig Reseda und Kürbisse, Balsaminen und Karotten in sich aufzunehmen. Franco hingegen, großmütig und fromm wie er war, würde in seinem Garten weder einen Kürbis noch eine Karotte aus Liebe zu irgendeinem Nächsten geduldet haben. Jede dumme Vulgarität reizte ihn. Als der unglückliche Gärtner den Herrn Don Franco predigen hörte, daß das Gärtchen eine Schweinerei sei, daß man alles ausroden, alles fortwerfen müsse, war er völlig niedergeschmettert, in mitleiderregender Weise verzagt; als er aber dann unter seiner Aufsicht arbeitete, um die Beete zu verbessern, sie mit Tuffstein einzufassen, Sträucher und Blumen zu pflanzen, als er sah, wie der Herr selbst verstand, mit den Händen zuzugreifen, und wie viele schreckliche lateinische Namen und welche wunderbare Gabe, neue und schöne Anlagen zu ersinnen, er im Kopf hatte, empfand er allmählich eine Bewunderung für ihn, die fast an Furcht grenzte, und trotz der vielen Rüffel eine unterwürfige Zuneigung.

Das hängende Gärtchen wurde nach Francos Vorbild und Wesen umgewandelt. Eine Olea fragrans erzählte in einer Ecke von der Macht der anmutigen Dinge über das heiße Ungestüm des Dichters; eine kleine, von Luisa nicht gern gelittene Zypresse erzählte in einer andern Ecke von seiner Frömmigkeit. Ein kleines Geländer aus durchlochtem Backstein, zwischen der Zypresse und dem Oleander, mit oben zwei Reihen Tuffstein, aus denen ein lachendes Volk von Verbenen, Petunien und Portulaken winkte, deutete auf den besonderen Erfindungsreichtum des Verfassers; die vielen, überall verstreuten Rosen sprachen von seiner Liebe zur klassischen Schönheit; der Ficus repens, der die Mauern nach der Seeseite bekleidete, die beiden Orangenbäume, die inmitten der beiden Plateaus standen, ein kräftiger, glänzender Karubenbaum offenbarten ein empfindliches Temperament, eine immer auf südliche Sonne gerichtete Phantasie, unzugänglich für den Reiz des Nordens.

Luisa hatte erheblich mehr gearbeitet als ihr Gatte und tat es auch jetzt noch; wenn dieser aber sich seiner Mühen rühmte und gern davon sprach, so sprach Luisa nie davon und empfand auch wirklich keine Eitelkeit. Sie nähte und häkelte, strickte und schneiderte mit einer stillen und wunderbaren Schnelligkeit für ihren Mann, für ihr Kind, um ihr Haus zu schmücken, für die Armen und für sich. In allen Zimmern fanden sich Arbeiten von ihr: Vorhänge, Decken, Kissen, Körbchen, Lichtschirme. Auch gehörte es zu ihren Angelegenheiten, den Saal und die Loggia mit Blumen zu versorgen. Nicht Blumen in Töpfen, denn Franco besaß nur wenige, und er mochte sie nicht in die Zimmer einschließen. Auch keine Blumen aus dem Gärtchen, denn dort eine zu pflücken, wäre dasselbe gewesen, wie sie ihm aus dem Herzen reißen. Indessen die Dahlien, die Rosen, die Gladiolen, die Astern aus dem Gemüsegarten standen zu Luisas Verfügung. Da diese ihr aber nicht genügten und das Dorf nächst Gott, der heiligen Margareta und dem heiligen Sebastian die »Sora Luisa« anbetete, so brachten auf einen Wink die Kinder ihr wilde Blumen und Farnkräuter, sie brachten ihr Efeu, um die großen Sträuße mittels Gewinden in Metallringen an den Wänden zu befestigen. Selbst um die Flügel der Harfe, die von der Decke des Saales hing, rankten sich immer lange Gehänge von Efeu und Passionsblumen.

Als sie dem Oheim Piero von diesen Neuerungen schrieben, antwortete er wenig oder nichts. Höchstens empfahl er, den Gärtner, der auch für seine eignen Angelegenheiten sorgen müsse, nicht allzusehr in Anspruch zu nehmen. Das erstemal, als er nach der Umwandlung des Gärtchens Oria aufsuchte, blieb er stehen, wie er es bei den sechs Maispflanzen getan hatte, und murmelte leise: »O, ich Ärmster!« Er trat auf die Terrasse hinaus, betrachtete die kleine Kuppel, betastete prüfend die Eisenstäbchen und äußerte ein resigniertes, aber durchaus mißbilligendes »Genug!« über so viel Eleganz, die seine und seiner Anverwandten Verhältnisse überstieg. Als er aber schweigend all die Sträuße, Sträußchen, Vasen und Gehänge in Saal und Loggia gemustert hatte, sagte er mit gutmütigem Lächeln: »Höre mal, Luisa, mit all dem Graszeug tätet ihr nicht besser, euch ein paar Ziegen zu halten?«

Die Wirtschafterin indessen war glücklich, daß sie sich nicht mehr wegen des Staubes und der Spinnweben totzuarbeiten brauchte, und der Gärtner rühmte unablässig die Wunderwerke des Herrn Don Franco, und bald fing er selbst an, sich an das neue Aussehen des Hauses zu gewöhnen, die Kuppel über der Terrasse, die ihm angenehmen Schatten gewährte, ohne Mißfallen zu betrachten. Nach drei oder vier Tagen fragte er, wer sie ausgeführt habe, und es kam vor, daß er im Gärtchen stehen blieb, um die Blumen anzusehen und nach dem Namen der einen oder der andern zu fragen. Nach acht oder zehn Tagen, als er mit der kleinen Maria in der Tür, die von dem Saal in das Gärtchen führte, stand, fragte er sie: »Wer hat all diese schönen Blumen gepflanzt?« Und er lehrte sie antworten: »Papa«. Einem seiner Angestellten, der ihn besuchte, zeigte er die Werke seines Neffen und nahm dessen Lobsprüche mit maßvoller, aber sehr befriedigter Zustimmung entgegen: »Ja, ja, was das anbelangt, jawohl.« Kurzum, er wurde schließlich ein Bewunderer Francos und nahm sogar im Laufe der Unterhaltung Anteil an seinen neuen Veränderungsplänen. Und in Franco wuchsen die Bewunderung und die Dankbarkeit für diese große und edelmütige Güte, die die konservative Natur besiegt hatte, die alte Abneigung gegen jede Art von Eleganz. Diese Güte, die bei jedem ähnlichen Kontrast stillschweigend wuchs und wuchs, bis sie seinen inneren Widerstand überwucherte, verdeckte der Onkel unter einer weiten Woge der Zustimmung oder wenigstens mit dem sakramentalen Satz: »Übrigens, tut, was ihr wollt.« Nur an eine einzige Neuerung hatte der Oheim sich nicht gewöhnen wollen: an das Verschwinden seines alten Kissens. »Luisa,« sagte er, das neue gestickte Kissen mit zwei Fingern von dem Armstuhl nehmend, »trag es fort.« Und es war keine Möglichkeit, ihn zu überzeugen. »Hast du verstanden, daß du's fortnehmen sollst?« Als Luisa ihm lächelnd die alte Polstermißgeburt gab, setzte er sich mit einem tönenden »So!« darauf, als nähme er feierlich wieder Besitz von seinem Thron.

Während jetzt der bläuliche Schatten das Grün der Wellen aufsog und längs des Ufers von Ortschaft zu Ortschaft eilte, die leuchtenden, weißen Häuser eins nach dem andern auslöschte, saß er gerade auf seinem Thron und hielt die kleine Maria auf den Knien, indessen Franco auf der Terrasse die Pelargonientöpfe begoß, liebevolle Zufriedenheit im Herzen und auf dem Gesicht, als tränkte er Ismael in der Wüste, und Luisa geduldig ein Angelgerät ihres Gatten entwirrte, eine schreckliche Wirrnis von Bindfaden, Blei, Schnüren und Haken. Sie plauderte gleichzeitig mit dem Professor Gilardoni, der immer irgendein philosophisches Rätsel zu lösen hatte und sich lieber an sie als an Franco hielt, der ihm immer widersprach, mit Recht oder Unrecht, da er ihn nun mal für ein vortreffliches Herz und einen konfusen Kopf hielt. Der Oheim, der sein rechtes Bein über das linke geschlagen hatte und das kleine Mädchen auf diesem Gebirge hielt, wiederholte ihm zum hundertsten Male mit absichtlicher Langsamkeit und den ausländischen Namen ein wenig verstümmelnd, das Liedchen:

»Ombretta, du spröde vom Missipipi.«

Bis zu dem vierten Worte lauschte das Kind andächtig, unbeweglich, mit großen Augen; aber sobald der »Missipipi« drankam, brach es in helles Lachen aus, strampelte mit den Beinchen und hielt seine Händchen vor des Oheims Mund, der ebenso herzlich lachte wie sie und nach einer kurzen Pause leise dieselbe Melodie wieder begann:

»Ombretta, du spröde ...«

Das Kind glich weder dem Vater noch der Mutter; es hatte die Augen, die feinen Züge der Großmutter Teresa. An dem alten Onkel, den es doch nur selten sah, hing es mit seltsamer, leidenschaftlicher Zärtlichkeit. Der Oheim sagte ihr keine zärtlichen Koseworte, erteilte ihr wohl gelegentlich einen kleinen Verweis, aber immer brachte er ihr Spielzeug mit, ging oft mit ihr spazieren, ließ sie auf seinen Knien tanzen, lachte mit ihr, sang ihr drollige Liedchen vor, wie das, das mit dem »Missipipi« anfing, und ein andres, das endete:

»Gleich gab zur Antwort Barucaba.«

Wer Barucaba war? Und was hatte man ihn gefragt? »Toa Ba, toa Ba,« sagte Maria, »noch mal Barucaba, noch mal Barucaba.« Der Oheim wiederholte dann noch einmal die poetische Geschichte, aber niemand kann sie mir heute mehr erzählen.

Mit seiner schüchternen und angenehmen Stimme unterhielt sich der Professor Gilardoni, der ein wenig älter, ein wenig kahler und ein wenig gelber geworden war, mit Luisa. »Wer weiß,« hatte Luisa gesagt, »ob Maria der Großmutter wie im Gesicht, so auch im Charakter gleichen wird?« Der Professor hatte erwidert, daß es ein Wunder sein würde, wenn in einer und derselben Familie so kurz nacheinander zwei solche Seelen existierten. Und um zu erläutern, welcher seltenen Spezies seiner Meinung nach der Geist der Großmutter angehört habe, kam er mit folgendem Wirrsal heraus: »Es gibt Seelen,« sagte er, »die offen das zukünftige Leben leugnen, und die nur ihrer Meinung entsprechend für das gegenwärtige Leben leben. Es gibt deren nicht Viele. Dann gibt es Seelen, die tun, als glaubten sie an ein zukünftiges Leben, und ganz und gar für das diesseitige leben. Davon gibt es schon mehr. Dann gibt es Seelen, die an das zukünftige Leben nicht denken und dennoch so leben, daß sie nicht allzuviel aufs Spiel setzen, um es zu verlieren, wenn es eins gibt. Die sind noch häufiger. Dann gibt es Seelen, die wirklich an ein zukünftiges Leben glauben und Gedanken und Werke in zwei Kategorien einteilen, die untereinander fast immer im Widerspruch stehen, die eine für den Himmel, die andre für die Erde. Davon gibt es sehr viele. Dann gibt es Seelen, die leben nur für das zukünftige Leben, an das sie glauben. Ihrer sind wenige, und zu diesen wenigen zählte Frau Teresa.«

Franco, der ein Feind psychologischer Haarspaltereien war, kam mürrisch blickend mit seiner Gießkanne an ihnen vorbei, um in das Gärtchen zu gehen, und dachte bei sich: ›Dann gibt es Seelen, die einen um den Verstand bringen können.‹ Der Oheim, der etwas schwerhörig war, lachte mit Maria. Als ihr Gatte außer Sicht war, sagte Luisa leise: »Dann gibt es Seelen, die leben, als gäbe es nur ein zukünftiges Leben, an das sie nicht glauben; und von denen gibt es eine.« Der Professor erbebte und sah sie an, ohne etwas zu sagen. Sie war gerade dabei, eine Strähne an dem Angelgerät mit Doppelfaden durch die Öse zu ziehen. Sie sah den Blick nicht, aber sie fühlte ihn, und sie beeilte sich, mit dem Kopf nach dem Onkel zu deuten. Hatte sie wirklich bei dem Gesagten an ihn gedacht? Oder war etwas andres hinter ihren Gedanken verborgen gewesen? Hatte sie ohne wirkliche Überzeugung an den Oheim gedacht, nur weil sie nicht wagte, auch nur in Gedanken, eine andre Person zu nennen, auf die sich ihre Worte mit mehr Berechtigung beziehen konnten? Das Schweigen des Professors, sein forschender, von ihr nur gefühlter Blick offenbarten ihr, daß er sie selbst in Verdacht hatte: und so deutete sie hastig auf den Oheim.

»Glaubt er nicht an ein zukünftiges Leben?« flüsterte der Professor.

»Ich würde denken nein,« entgegnete Luisa, die gleich darauf Gewissensbisse fühlte, fühlte, daß sie keine genügenden Gründe, kein Recht hatte, so zu antworten. In der Tat hatte der Oheim Piero sich nie mit Grübeleien über Religion abgegeben: in seinem Begriff von Ehrenhaftigkeit betrieb er die Fortsetzung der alten Familiengebräuche, die Ausübung des ererbten Glaubens obenhin, er nahm sie hin, wie sie waren. Sein Gott war vertrauensselig wie er, gab nicht viel auf die Stoßgebete und Rosenkränze wie er; ein Gott, der zufrieden war, Ehrenmänner mit Herzen auf dem rechten Fleck zu Dienern zu haben, wie er es zufrieden war, solche zu Freunden zu haben, mochten sie auch im Leben vergnügte Esser und Trinker, Tarockspieler sein oder freimütige Erzähler harmloser Unanständigkeiten, wie sie als Ausfluß des in jedem Menschen lebenden Vergnügens am Schmutzigen wohl gestattet sind. Gewisse scherzhafte Reden, gewisse, ohne Nachdenken hingeworfene Aphorismen des Onkels über die nur relative Bedeutung der religiösen Übungen und über die absolute Wichtigkeit, ein ehrenhaftes Leben zu führen, hatten ihr schon als Kind Eindruck gemacht, auch weil die Mutter sich so sehr darüber beunruhigte und ihren Bruder anflehte, nicht so unbesonnen zu sprechen. Es war in ihr der Verdacht aufgestiegen, daß der Oheim nur der Form wegen in die Kirche ginge. Das war nicht der Fall. Auf die Aphorismen eines Menschen, dessen Leben in Aufopferung und Uneigennützigkeit aufgegangen war, der zu sagen pflegte: » Caritas incipit ab ego,« durfte man nichts geben. Und selbst wenn der Oheim wenig Gewicht auf die religiösen Übungen gelegt hätte, so blieb doch noch ein großer Schritt bis zur Verneinung eines künftigen Lebens. In der Tat, sobald Luisa ihre Meinung ausgesprochen hatte, ihr der Klang ihrer Worte noch im Ohre tönte, fühlte sie, daß sie irrig war, sah sie klarer in ihrem eignen Innern und erkannte, daß sie unbewußt in dem Beispiel des Oheims eine Stütze und einen Trost für sich selbst gesucht hatte.

Der Professor war von dieser so unerwarteten Enthüllung ganz bewegt. »Diese einzige Seele,« sagte er, »die lebt, als dächte sie nur an ein zukünftiges Leben, an das sie doch nicht glaubt, irrt, aber man muß sie bewundern als die edelste, die größte. Es ist ein erhabenes Ding um sie!«

»Sie sind aber sicher, daß diese Seele irrt?«

»O ja, ja!«

»Aber Sie, welcher der beiden Kategorien gehören Sie an?«

Der Professor war überzeugt, zu den sehr wenigen zu gehören, deren ganzes Trachten nur auf das zukünftige Leben gerichtet war; obwohl er in Verlegenheit gewesen wäre zu beweisen, daß seine gründlichen Studien über Raspail, sein Eifer in der Bereitung von Borwasser und Kampferzigaretten, seine Furcht vor Feuchtigkeit und Zugluft wenig Vorliebe für das gegenwärtige Leben bedeuteten. Er wich jedoch einer Antwort aus, sagte, daß er, obwohl keiner Kirche angehörend, fest an Gott und ein zukünftiges Leben glaube, und daß er seine eigne Art zu leben nicht beurteilen könne.

Inzwischen hatte Franco beim Begießen des Gärtchens eine neu aufgeblühte Verbene entdeckt; er stellte die Gießkanne beiseite, erschien auf der Schwelle zur Loggia und rief Maria, um sie ihr zu zeigen. Maria ließ ihn rufen, sie wollte noch weiter »Missipipi« hören, aber der Oheim ließ sie von seinem Schoß und führte sie selbst zum Papa.

»Aber Professor, man kann doch,« sagte Luisa, ihrem inneren Gedankengang folgend, plötzlich laut, »nicht wahr, man kann doch an Gott glauben und unser zukünftiges Leben bezweifeln?« Sie hatte bei diesen Worten das verwirrte Gebinde des Angelgeräts aus der Hand gelegt und blickte Gilardoni mit lebhaftem Interesse voll ins Gesicht, mit dem offenkundigen Verlangen, daß er ihre Frage bejahen möchte. Und da Gilardoni schwieg, fuhr sie fort:

»Mir scheint, jemand könnte sagen: Welche Verpflichtung hat Gott, uns die Unsterblichkeit zu schenken? Die Unsterblichkeit der Seele ist eine Erfindung des menschlichen Egoismus, der, alles in allem betrachtet, Gott seiner eignen Bequemlichkeit nutzbar macht. Wir verlangen einen Lohn für das Gute, das wir andern getan haben, und eine Strafe für das Böse, das die andern uns getan haben. Begnügen wir uns damit, endgültig zu sterben wie jedes andre Lebewesen, und üben wir, solange wir leben, Gerechtigkeit gegen uns und gegen die andern, ohne Hoffnung auf zukünftigen Lohn, nur weil Gott es von uns so will, gleich wie er will, daß jeder Stern leuchtet und jeder Baum Schatten gibt. Was denken Sie davon?«

»Was soll ich Ihnen sagen?« entgegnete Gilardoni. »Mir klingt es wunderschön! Ich kann nicht sagen, wie eine große Wahrheit. Ich weiß es nicht, ich habe nie darüber nachgedacht; aber wunderschön! Ich bin der Meinung, daß das Christentum weder so erhabene Heilige gehabt hat, noch sie sich hat vorstellen können wie dieser Jemand! Es ist eine große Schönheit darum, eine große Schönheit!«

»Vielleicht könnte man auch behaupten,« fuhr Luisa nach einem kurzen Schweigen fort, »daß dieses zukünftige Leben nicht ein durchaus glückliches sein würde. Gibt es ein Glück, wenn man nicht den Grund der Dinge erkennt, wenn man nicht dahin gelangt, alle Geheimnisse erklären zu können? Und wird das Verlangen, alles zu wissen, in dem zukünftigen Leben befriedigt werden? Wird nicht ein undurchdringliches Geheimnis übrigbleiben? Heißt es nicht, daß man Gott nie vollkommen erkennen werde? Und also werden wir nicht in dem Verlangen nach Wissen leiden wie jetzt? Vielleicht sogar stärker, denn muß in einem höheren Leben dieser Wunsch nicht auch stärker sein? Ich sehe nur einen Weg, der zur Allwissenheit führen würde, und das wäre Gott zu werden ...«

»Ah, Sie sind Pantheistin,« rief der Professor, sie unterbrechend.

»Pst!« machte Luisa. »Nein, nein, nein! Ich bin katholische Christin. Ich sage nur, was andre meinen könnten.«

»Aber, verzeihen Sie, das ist Pantheismus.«

»Noch immer Philosophie?« rief Franco, mit der Kleinen auf dem Arm eintretend.

»O Jammer!« brummelte der Oheim hinter ihm.

Maria hielt eine schöne weiße Rose in der Hand. »Sieh diese Rose, Luisa,« sagte Franco. »Maria, gib der Mutter die Blume. Sieh dir die Gestalt dieser Rose an, sieh, wie schlank sie am Stengel sitzt, sieh den Farbenschmelz, die Äderung dieser Blätter, sieh diesen roten Streifen und rieche jetzt den Duft! Und laß die Philosophie in Ruhe.«

»Sie sind ein Feind der Philosophie?« bemerkte lächelnd der Professor.

»Ich bin,« antwortete Franco, »ein Freund leichter Philosophie und bin sicher, daß auch die Rosen sie mich lehren.«

»Die Philosophie, mein lieber Professor,« mischte sich der Oheim feierlich in die Unterhaltung, »die Philosophie ist alle im Aristoteles: nimm dir, was du kriegen kannst!«

»Sie scherzen,« entgegnete der Professor, »aber Sie sind auch ein Philosoph.«

Der Ingenieur legte eine Hand auf seine Schulter.

»Hören Sie, lieber Freund, meine Philosophie, die geht in acht oder zehn Glas ganz und gar hinein.«

»Oho, acht oder zehn Glas!« murmelte die Wirtschafterin, die beim Eintreten diese prahlerische Übertreibung ihres so mäßigen Herrn hörte. »Acht oder zehn Lügen.«

Sie kam, um Don Giuseppe Costabarbieri anzumelden, der gleichzeitig aus dem Saale ein tiefes, aber fröhliches Deo gratias vernehmen ließ. Und da war er schon selbst, der sanfte Priester mit dem roten, runzligen Gesicht, den heiteren Augen und den weißen Haaren.

»Hier wird philosophiert, Don Giuseppe,« sagte Luisa nach den ersten Begrüßungen. »Kommen Sie und lassen Sie uns auch Ihre schönen Gedanken hören!«

Don Giuseppe kratzte sich im Nacken, und den Kopf dem Ingenieur zuwendend mit dem Blick eines Menschen, der etwas möchte, aber nicht darum zu bitten wagt, äußerte er die Blüte seiner philosophischen Gedanken in folgenden Worten:

»Wäre es nicht besser, eine Primiera zu machen?«

Franco und der Oheim Piero, glücklich, sich vor Gilardonis Philosophie zu retten, setzten sich vergnügt mit dem Priester an ein Tischchen.

Kaum mit Luisa allein zurückgeblieben, sagte der Professor leise: »Gestern ist die Frau Marchesa abgereist.«

Luisa, die Maria auf den Schoß genommen hatte, drückte ihre Lippen leidenschaftlich auf des Kindes Hals.

»Vielleicht,« fuhr der Professor fort, der niemals verstanden hatte, in menschlichen Herzen zu lesen, noch die richtigen Saiten anzuschlagen, »vielleicht, mit der Zeit ... es sind erst drei Jahre ... vielleicht wird der Tag kommen, da sie nachgibt.«

Luisa hob das Gesicht von Marias Halse: »Sie vielleicht, ja,« sagte sie.

Der Professor verstand nicht, er folgte seinem bösen Geist, der ihm das ungeeignetste Wort im ungeeignetsten Moment eingab, und anstatt aufzuhören, beharrte er weiter bei dem Gegenstand.

»Vielleicht, wenn sie Maria sehen könnte!«

Luisa preßte das Kind an ihre Brust und warf ihm einen so niederschmetternden Blick zu, daß er verlegen sagte: »Verzeihen Sie!«

Maria hob ihre Augen bei der heftigen Umarmung, und als sie den seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter sah, wurde sie dunkelrot, preßte ihre Lippen zusammen, weinte zwei große, runde Tränen, brach in Schluchzen aus.

»Nein, nein, Liebste,« flüsterte Luisa zärtlich, »sei gut, sei gut, du wirst sie nie sehen, nie!«

Als das Kind beruhigt war, wollte der Professor, bestürzt bei dem Gedanken, einen Taktfehler begangen, Luisa, ein Wesen, das er für übermenschlich hielt, gekränkt zu haben, sich aussprechen, sich rechtfertigen, aber Luisa ließ ihn nicht zu Worte kommen. »Genug, verzeihen Sie,« sagte sie, aufstehend. »Wir wollen dem Spiel zusehen.«

In Wirklichkeit ging sie nicht zu den Spielern. Sie schickte Maria mit ihrem kleinen Kindermädchen Veronika auf den Kirchplatz und trug selbst den Rest einer süßen Mehlspeise zu einem alten Männchen im Dorfe, das einen gefräßigen Magen und eine leise Stimme hatte, mit der es jeden Tag seiner Wohltäterin denselben köstlichen Lohn in Aussicht stellte: »Ehe ich sterbe, gebe ich Ihnen noch einen Kuß.«

Der Professor indessen, voller Skrupel und Gewissensbisse über sein wenig glückliches Vorgehen, nicht wissend, ob er gehen sollte oder bleiben, ob die Hausfrau zurückkommen würde oder nicht, ob ihr nachgehen indiskret wäre oder nicht, nachdem er zum See geblickt hatte, als wollte er die Fische um Rat fragen, und das Haus gemustert, um zu sehen, ob Luisa sich an einem der Fenster zeigen würde oder jemand anders, den er nach ihr hätte fragen können, entschloß sich endlich, dem Spiel zuzusehen. Jeder der Spieler sah auf die eignen vier Karten, die er in der Linken hielt, eine über der andern, und zwar derart, daß die zweite und dritte so weit überstanden, daß man sie erkennen konnte; und jeder von ihnen zog, die obere Ecke der beiden genannten Karten vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger haltend, mit einer Doppelbewegung der Finger und des Handgelenks die unbekannte Karte unter der dritten sachte, sachte vor, als ob es sich um Tod und Leben handelte, dazu mit großer Andacht geeignete Stoßseufzer wiederholend, so Don Giuseppe, der Pique brauchte: »Rot sticht und schwarz wirft aus,« die andern beiden, die Karo und Coeur wollten, »schwarz sticht, rot wirft aus«. Der Professor dachte, daß auch er eine versteckte Karte in der Hand hielte, ein Trumpfas, und daß er noch nicht wußte, ob er es ausspielen würde. Er hatte das Testament des alten Maironi. Wenige Tage nach dem Tode der Frau Teresa hatte Franco ihm gesagt, er solle es vernichten und nie seiner Gattin gegenüber erwähnen. Er hatte nur in bezug auf das Stillschweigen gehorcht. Das Schriftstück existierte noch, ohne Francos Wissen, weil sein Lehrer sich in den Kopf gesetzt hatte, die Ereignisse abzuwarten, zu sehen, ob Cressogno und Oria Frieden schließen, ob bei Andauer der Feindseligkeiten Franco und seine Familie in Not geraten würden; in diesem letzten Falle würde er selbst eingreifen. Was er tun würde, wußte er nicht recht; aber er wälzte in seinem Kopf verschiedene wunderliche Pläne und wartete, daß der eine oder der andre zur geeigneten Zeit und am richtigen Orte reifen würde. Jetzt, während er Franco beim Spielen zusah, bewunderte er, wie dieser selbe Mensch, der so eifrig erpicht war, einen Karokönig zu erlangen, jene andre wertvolle Karte zurückgewiesen hatte und nicht einmal wollte, daß seine Gattin etwas davon wüßte. Er hielt dieses Schweigen für Bescheidenheit, dem Wunsch entspringend, eine großmütige Handlung zu verbergen; und obwohl er von Franco schon manch harten Vorwurf hingenommen hatte und er recht wohl fühlte, daß dieser nicht allzu große Stücke auf ihn hielt, betrachtete er ihn mit einer Hochachtung, die voll demütiger Ergebenheit war. Franco deckte als erster die vierte Karte auf und warf ärgerlich alle weg, während Don Giuseppe rief: »O je! Es ist schwarz!« Und er hielt inne, um Atem zu schöpfen, bevor er weiter aufdeckte, um sich zu überzeugen, ob es Piques oder Treffs wären. Aber der Ingenieur, der mit seinem friedlichen und lächelnden Gesicht von den Karten aufblickte, klopfte geheimnisvoll mit dem Finger unter der Tischplatte, was so viel bedeuten sollte: es ist die gute Karte; da stieß Don Giuseppe, der gesehen hatte, daß sein Schwarz nicht Pique war, ein »Verwünscht!« aus und warf ebenfalls die Karten fort.

»Was für ein Grund, Wut zu schnauben!« sagte der Ingenieur. »Treff ist doch auch schwarz.«

Der Priester, der seine Revanche haben wollte, begnügte sich damit, ihn ärgerlich zu ersuchen: »Mischen Sie die Karten, mischen Sie die Karten!«

Und die Partie, Symbol des ewigen Urkampfes zwischen den Schwarzen und den Roten, begann von neuem.

Der See schlief jetzt, von Schatten bedeckt und eingehüllt. Nur auf den großen fernen Bergen des Lario im Osten lag ein rötlich-violetter Goldglanz. Die ersten abendlichen Nordwinde bewegten das Laub der Passionsblume, kräuselten nach dem offenen See zu das eintönig graue Wasser und trugen einen frischen Waldduft herüber. Der Professor war schon seit einer Weile fortgegangen, als Luisa zurückkam. Sie hatte auf dem Stufenweg des Pomodoro ein weinendes Mädchen getroffen, das schrie: »Mein Vater will meine Mutter umbringen!«

Sie war dem Mädchen in sein Haus bei der Madonna del Romit gefolgt und hatte den Mann beschwichtigt, der mit dem Messer in der Hand auf seine Frau losgehen wollte, nicht sowohl einer schlechten Suppe, als einer schlechten Antwort halber. Luisa führte ihrem Gatten und Don Giuseppe den letzten Akt des Dramas vor, ihre Unterredung mit der Frau, die in den Stall gelaufen war, um sich zu verstecken.

»Ah, Regina, wo bist du denn?«

»Hier bin ich.«

»Wo hier?«

»Hier.«

Die zitternde Stimme kam unter der Kuh vor. Die Frau saß wirklich zusammengekauert darunter.

»Komm vor, also.«

»Nein, Sora.«

»Warum nicht?«

»Ich fürcht' mich.«

»Komm vor, dein Mann will dir einen Kuß geben.«

»Ich nicht.«

Darauf hatte Luisa den Mann hereingerufen.

»Geh und gib ihr einen Kuß unter der Kuh.«

Und der Mann hatte ihr den Kuß gegeben, während die Frau, die Furcht hatte, daß er beißen würde, stöhnte:

»Beißen wird er doch nicht!«

»Was für eine kleine, verteufelte Sora Luisa!« sagte Don Giuseppe. Und sich die bescheidenen Rundungen seiner Hüften und seines Bauches leise klopfend, höchlichst befriedigt von dem Genuß des Primspiels, erinnerte sich diese kleine Persönlichkeit aus der guten alten Zeit an den zweiten Zweck seines Besuches. Er hatte Frau Luisa etwas zu sagen. Der Ingenieur war hinausgegangen, um seinen gewohnten kurzen Spaziergang nach der kleinen Anhöhe des Tavorell, den er scherzend den St. Bernhard nannte, zu machen; und Franco, der einen Blick auf den Mond geworfen hatte, der jetzt über dem schwarzen Gipfel des Bisgnago und dem kräuselnden Wasser leuchtete, setzte sich an das Klavier und strömte einen nur in der Vorstellung vorhandenen Schmerz in Improvisationen aus, die sich durch die geöffneten Fenster über die klingende Tiefe des Sees ergossen. Die musikalischen Improvisationen gelangen ihm besser als die sorgfältig ausgefeilten Gedichte, denn sein leidenschaftliches Empfinden fand in der Musik ein leichteres und völligeres Ausdrucksmittel, und die Zweifel der Unsicherheit, das mangelnde Selbstvertrauen, die ihm die Wortarbeit so mühsam und zeitraubend machten, quälten seine Phantasie am Klavier nicht. Dann gab er sich völlig, Seele und Leib, dem Feuer der Begeisterung hin, er vibrierte ganz und gar, bis an die Haarwurzeln, seine klaren, sprechenden Augen gaben jede Nuance des musikalischen Ausdrucks wieder, unter seinen Wangen sah man die unaufhörliche Bewegung unausgesprochener Worte, und seine Hände, obschon nicht allzu leicht, nicht allzu gelenkig, ließen das Instrument in unbeschreiblich schöner Weise singen.

Jetzt ging er in eine andre Tonart über. Er legte die intensivste intellektuelle Kraft in diese Passagen, er ließ das Klavier mit seinen zehn Fingern und beinahe auch mit seinen glühenden Augen keuchen, er holte sozusagen das Innerste heraus.

Er hatte unter dem Eindruck des Mondscheins angefangen zu spielen, dann aber waren während des Spielens trübe Wolken aus dem Grunde seines Herzens aufgestiegen.

Sich bewußt, als Jüngling von Ruhm geträumt und dann bescheiden die Hoffnung aufgegeben zu haben, sprach er fast zu sich selbst durch diese traurige, leidenschaftliche Musik, daß auch in ihm ein Funken des Genies war, ein schöpferisches Feuer, das nur Gott sah; denn selbst Luisa schien das Verständnis für die richtige Schätzung, die ihm selbst fehlte, die er in ihr aber gewünscht hätte, zu mangeln; selbst Luisa, die Seele seiner Seele! Luisa lobte in maßvoller Weise seine Musik und seine Verse, aber sie hatte nie zu ihm gesagt: »Gehe weiter auf diesem Wege, wage, schreibe, veröffentliche!« Das waren seine Gedanken, und er spielte in dem dunkeln Saal, und er legte das Weh seiner Liebe, die schüchterne, geheime Klage, die er nie gewagt hätte in Worte zu kleiden, in eine weiche Melodie.

Auf der Terrasse in dem beweglichen Helldunkel, das von dem leichten Windhauch und der Passionsblume, dem Mond und seinem Widerschein auf dem See herrührte, erzählte Don Giuseppe Luisa, daß Herr Giacomo Puttini mit ihm erzürnt sei durch Schuld der Frau Pasotti, die fälschlicherweise berichtet habe, daß er, Don Giuseppe, eine Heirat des Herrn Giacomo mit Marianne für das einzig Richtige erklärt hätte. »Ich will auf der Stelle tot sein,« protestierte der arme Priester, »wenn ich nur ein einziges Wort gesagt habe! Nichts! Grobe Lügen!« Luisa wollte nicht an die Schuld der armen Barborin glauben, und Don Giuseppe erklärte ihr, daß er die Sache von dem Herrn Kontrolleur selbst erfahren habe. Sie begriff nun sofort, daß Pasotti sich in boshafter Weise über seine Frau, Herrn Zacomo und den Priester hatte lustig machen wollen, und verwahrte sich dagegen, sich in die Angelegenheit einzumischen, wie letzterer es gewünscht hätte. Sie riet ihm, mit der Pasotti zu sprechen. »Sie ist so taub!« entgegnete Don Giuseppe, sich den Nacken kratzend. Und unzufrieden ging er fort, ohne sich von Franco, den er nicht stören wollte, zu verabschieden. Luisa kam auf den Zehenspitzen zum Klavier, um ihrem Gatten zuzuhören, die Schönheit, den Reichtum, das Feuer dieser Seele in sich aufzunehmen, die ihr gehörte, der sie auf ewig angehörte. Luisa hatte nie zu Franco gesagt: »Gehe weiter auf diesem Wege, schreibe, veröffentliche,« vielleicht auch, weil sie in ihrer ausgeglichenen Liebe folgerichtig urteilte, daß er keine Werke, die die Mittelmäßigkeit übersteigen würden, schaffen könnte, vor allem aber, weil sie, obschon sie ein feines Gefühl für Dichtkunst und Musik besaß, im Grunde weder auf die eine noch die andre großes Gewicht legte, es ihr nicht gefiel, daß sich ein Mann ihnen völlig widme; sie erstrebte für ihren Gatten eine männlichere intellektuelle und materielle Tätigkeit. Sie bewunderte jedoch Franco in seiner Musik mehr, als wenn er ein großer Meister gewesen wäre; sie fand in dieser fast geheimen Sprache seiner Seele etwas Jungfräuliches, Aufrichtiges, den Strahl eines liebenden Geistes, der würdiger als jeder andre war, geliebt zu werden.

Er bemerkte sie erst, als er die leichte Berührung ihrer beiden Arme auf seinen Schultern fühlte, die beiden kleinen Hände auf seiner Brust sah. »Nein, nein, spiele weiter,« flüsterte Luisa, da Franco sie festhielt; nun er aber mit zurückgelehntem Gesicht, ohne zu antworten, ihre Augen und ihren Mund suchte, gab sie ihm einen Kuß und hob den Kopf, indem sie wiederholte: »Spiele!« Er zog stärker als vorher die gefangenen Handgelenke zu sich herab und suchte von neuem schweigend den süßen, süßen Mund. Jetzt ergab sie sich, drückte ihre Lippen auf seinen Mund in einem langen, gewährenden Kusse, viel köstlicher und wohltuender als der erste. Dann flüsterte sie noch einmal: »Spiele!«

Und er spielte, glückselig, eine rauschende, triumphierende Musik, voller Jubel und Freudenschreie. Denn in diesem Augenblick glaubte er, die Seele seines Weibes ganz und gar zu besitzen, während es ihm oft schien, obwohl er sich geliebt wußte, als ob über ihrer Liebe eine stolze, ruhige und kühle Vernunft throne, bis zu der das Feuer seiner Begeisterung nicht dringe. Oft hielt Luisa seinen Kopf in ihren Händen, dann und wann einen leichten Kuß auf seine Haare drückend. Sie kannte den Zweifel ihres Gatten und behauptete immer, ihm völlig anzugehören, aber in ihrem Innersten fühlte sie, daß er recht hatte. Ein zähes, kühnes, intellektuelles Unabhängigkeitsgefühl hielt in ihrem Innern der Liebe die Wage. Sie vermochte ihren Gatten ruhig zu beurteilen, seine Unvollkommenheiten zu erkennen, und sie empfand, daß er das gleiche nicht vermochte. Sie empfand, daß seine Liebe demütig war, ihr bedingungslos, endlos ergeben. Sie glaubte nicht, daß sie ihm unrecht tat, sie fühlte keine Reue, aber wenn sie daran dachte, zerschmolz ihr Herz in liebevollem Mitleid. Sie erriet die Bedeutung dieses musikalischen Freudenrausches, und gerührt umarmte sie Franco und brachte das Klavier mit jähem Ruck zum Schweigen.

*

Von der Treppe hörte man den langsamen und schweren Tritt des Oheims, der von seinem Sankt Bernhard heimkehrte.

Es war acht Uhr, und die üblichen Tarockisten, die Herren Giacomo und Pasotti, waren noch nicht erschienen. Denn auch Pasotti gehörte im September und Oktober zu den häufigen Besuchern des Hauses Ribera, wo er mit dem Ingenieur, mit Luisa und selbst Franco den Liebenswürdigen spielte. Franco und Luisa hatten ihn im Verdacht, ein doppeltes Spiel zu spielen, aber Pasotti war ein alter Freund des Oheims, und so mußte man ihn, aus Rücksicht für den Oheim, freundlich empfangen. Da die Tarockspieler auf sich warten ließen, schlug Franco seiner Frau vor, im Boot zu fahren, um den Mondschein zu genießen. Vorher traten sie noch zu Maria hinein, die in ihrem Bettchen im Alkoven schlief, das Gesicht zur rechten Schulter geneigt, ein Arm unter dem Kopf und der andre auf der Brust ruhend. Sie betrachteten sie, küßten sie lächelnd, und schweigend begegneten sich ihre Gedanken bei der Großmutter Teresa, die das Kind so geliebt haben würde, und ernsten Gesichts küßten sie sie noch einmal.

»Meine arme Kleine!« sagte Franco. »Arme, pfenniglose Donna Maria Maironi!«

Luisa legte ihm eine Hand auf den Mund. »Still!« sagte sie. »Gott sei Dank, daß wir die pfenniglosen Maironi sind.«

Franco verstand sie und antwortete nicht gleich. Dann aber, als sie das Zimmer verließen, um zur Barke zu gehen, sagte er, die Drohung der Großmutter vergessend, zu seiner Gattin: »Es wird nicht immer so sein.«

Diese Anspielung auf die Reichtümer der alten Marchesa mißfiel Luisa. »Laß uns davon nicht sprechen,« sagte sie. »Ich möchte dieses Geld mit keinem Finger anrühren.«

»Ich meine für Maria,« wandte Franco ein.

»Maria hat uns, die wir arbeiten können.«

Franco schwieg. Arbeiten! Auch das war ein Wort, das ihm ins Herz schnitt. Er wußte wohl, daß er ein müßiges Leben führte. Denn die Musik, Lektüre, die Blumen, ab und zu ein paar Verse, was bedeuteten sie anders als Nichtigkeiten und Spielereien? Und dieses Leben führte er zum großen Teil auf Kosten andrer, denn mit seinen tausend Lire österreichischen Geldes, wie hätte er da leben, wie seine Familie erhalten sollen? Er hatte den Doktortitel erworben, aber ohne irgendwelchen Nutzen daraus zu ziehen. Er mißtraute seinen eignen Fähigkeiten, er fühlte sich zu sehr Künstler, allzu abgeneigt den juristischen Spitzfindigkeiten, er wußte, daß in seinen Adern nicht das Blut des starken Arbeiters floß. Er sah nur Rettung in einem Krieg, in der Befreiung des Vaterlandes. ›Ah, wenn Italien frei wäre, wie würde er ihm dienen, mit welcher Kraft, mit welcher Freude!‹ Im Herzen trug er wohl diese kühnen Gedanken, aber der Vorsatz und die Beständigkeit, durch Arbeit eine solche Zukunft vorzubereiten, nein, die fehlten ihm.

Während er schweigend ruderte und sich vom Ufer entfernte, grübelte Luisa darüber nach, wie nur ihr Gatte das Kind bedauern konnte, weil es kein Geld hatte. War da nicht ein Widerspruch zwischen Francos Glauben, seiner christlichen Gottesfurcht und diesem Gefühl? Sie mußte an die Kategorien des Professors Gilardoni denken. Franco glaubte mit Inbrunst an das zukünftige Leben, aber tatsächlich klammerte er sich leidenschaftlich an alles, was das irdische Leben an Schönem, Gutem und ehrbarem Vergnügen bot, einschließlich des Tarocks, des Primspiels und guter kleiner Mittagessen. Einer, der mit so peinlicher Gewissenhaftigkeit die Vorschriften der Kirche beobachtete, der so viel darauf gab, am Freitag und Sonnabend nur Fastenspeise zu sich zu nehmen und jeden Sonntag die Erklärung des Evangeliums zu hören, hätte sein eignes Leben viel strenger mit dem christlichen Ideal in Einklang bringen müssen. Er hätte das Geld fürchten und nicht erwünschen müssen.

»Gute Fahrt!« rief der Oheim von der Terrasse, als er das Boot sah und Luisa im Mondschein am Bug sitzen. Vor dem düstern Bisgnago breitete sich das ganze Valsolda, von Niscioree bis Caravina, im Glanz des Mondlichts aus. Alle Fenster von Oria und von Albogasio, die Arkaden der Villa Pasotti und die weißen Häuschen der entfernteren Ortschaften Castello, Casarico, S. Mamette, Drano schienen wie hypnotisiert nach dem großen, starren Auge der toten Himmelsbraut zu blicken.

Franco zog die Ruder ins Boot. »Singe,« sagte er.

Luisa hatte nie Gesangunterricht gehabt, aber sie besaß eine süße Mezzosopranstimme, ein vollkommenes Gehör und sang viele Opernarien, die sie von ihrer Mutter gelernt, die die Grisi, die Pasta, die Malibran während der Blütezeit der italienischen Oper gehört hatte.

Sie sang die Arie aus »Anna Boleyn«:

»Führ' in die Heimat mich,
Die traute, wieder ...«

den Gesang der Seele, die erst hinabsteigt und allmählich, immer weicher werdend, sich der Liebe hingibt und dann in enger Umarmung mit ihr sich aufschwingt in leidenschaftlichem Verlangen zu einem hohen Licht in der Ferne, das ihrem vollen Glück noch fehlt. Sie sang, und Franco, entrückt, träumte, daß sie sich sehnte, sich ihm auch mit diesem erhabenen Teil ihrer Seele, den sie ihm bisher entzogen hatte, zu eigen zu geben, daß sie sich sehnte, in dieser vollkommenen Verbindung, von ihm geleitet, dem Endziel seines Ideals zuzustreben. Tränen stiegen ihm auf und preßten ihm die Kehle zusammen, und das kräuselnde Wasser und die großen tragischen Berge und alle die in den Mond starrenden Dinge und das Mondlicht selbst, alles ringsum füllte sich ihm mit diesem seinem unbeschreiblichen Gefühl, so daß, als von jenseits des zerrissenen Sternbilds einen Augenblick silberne Lichter bis unter den Bisgnago, bis in die schattige Bucht des Doi funkelten, er davon bewegt war, wie von geheimnisvollen, auf ihn sich beziehende Zeichen, die Mond und See miteinander wechselten, während Luisa ihr Lied zu Ende sang:

»Zu den Platanen hin,
Zum Flusse nieder,
Der uns're Seufzer noch
Murmelt wie einst.

*

»Bravo!« rief Pasottis Stimme von der Terrasse.

Und des Oheims Stimme:

»Tarock!«

Gleichzeitig hörte man die Ruderschläge einer Barke, die von Porlezza kam, man hörte ein Fagott die Arie aus der »Anna Boleyn« nachäffen. Franco, der am Hinterteil des Bootes saß, sprang auf und rief erfreut:

»Holla!«

Eine schöne, volle Baßstimme antwortete ihm:

»Guten Abend,
Meine Herren,
Guten Abend,
Guten Abend.«

Es waren seine Freunde vom Comersee, der Advokat V. aus Varenna und ein gewisser Pedraglio aus Loveno, die zu kommen pflegten, um offiziell Musik, im geheimen Politik zu treiben; ein Geheimnis, in das nur Luisa eingeweiht war.

Auch von der Terrasse rief man:

»Nun, Don Basilio?« »Bravo das Fagott!« Und in der Zwischenpause hörte man die Stimme eines Herrn, der eine Einladung zum Tarockspiel abwehrte: »Nein, nein, wertester Kontrolleur, 's ist spät, wir können nicht länger bleiben, wir können wirklich nicht mehr bleiben. O Gott, o Gott, erlassen Sie's mir, ich kann nicht, ich kann nicht; verehrtester Herr Ingenieur, ich begeb' mich in Ihren Schutz.«

Sie ließen aber nicht nach, der kleine Mann mußte spielen mit dem Versprechen, daß man es bei zwei Partien bewenden lassen wollte. Er schniefte sehr und setzte sich mit dem Ingenieur, Pasotti und Pedraglio an den Tisch. Franco setzte sich ans Klavier, und der Advokat nahm mit dem Fagott an seiner Seite Platz.

Zwischen Pasotti und Pedraglio, zwei gefährlichen Spottvögeln, verbrachte der arme Giacomo eine bittere halbe Stunde, in der er Höllenpein litt. Sie gaben ihm keinen Augenblick Ruhe.

»Wie geht's, Herr Zacomo?«

»Schlecht, schlecht.«

»Herr Zacomo, gehen keine Mönche in Pantoffeln bei Ihnen spazieren?«

»Auch nicht einer.«

»Und der Stier? Wie geht's dem Stier, Herr Zacomo?«

»Seien Sie still, seien Sie still.«

»Verwünscht dieser Stier, was, Herr Zacomo?«

»Verwünscht, ja, mein Herr.«

»Und die Magd, Herr Zacomo?«

»Still!« rief Pasotti bei dieser dreisten Frage Pedraglios. »Seien Sie vorsichtig. Was das anbetrifft, hat Herr Giacomo von seiten gewisser Indiskreter Unannehmlichkeiten gehabt.«

»Lassen wir das, bester Kontrolleur, lassen wir das,« unterbrach ihn Herr Giacomo, sich hin und her windend, und der Ingenieur forderte ihn auf, die beiden Quälgeister zum Teufel zu schicken.

»Wie, Herr Zacomo,« fuhr Pasotti uneingeschüchtert fort, »ist dieser kleine Priester etwa kein Indiskreter?«

»Ich nenn' ihn einen Esel,« schnaubte der Herr Giacomo.

Darauf gab Pasotti lachend und triumphierend, weil es sich um einen seiner Späße handelte, Pedraglio, der vor Neugier, die Geschichte zu erfahren, platzte, einen Wink, daß er schweigen solle, und nahm das Tarockspiel wieder auf.

Franco und der Advokat übten ein neues Stück für Klavier und Fagott, verhedderten sich und fingen alle Augenblick von vorn an; da trat, vorsichtig auf den Zehenspitzen, um ihre Melodien nicht zu stören, Frau Peppina Bianconi ein. Niemand bemerkte sie, außer Luisa, die ihr auf dem kleinen Kanapee nahe dem Klavier einen Platz neben sich anbot.

Frau Peppina mit ihrer Herzensgüte, ihrer Geschwätzigkeit und Dummheit ging Franco auf die Nerven. Nicht so Luisa. Luisa hatte sie gern, war aber wegen Carlascia auf ihrer Hut. Peppina hatte von ihrem Garten das Lied »Ach, so wunderschön,« gehört und dann das Fagott und die Begrüßungen; sie hatte angenommen, daß man musizieren würde, und sie war »ach, ganz wild« war sie auf Musik!

Und dann der Herr Advokat, der immer so schön das Ding bläst. Und dann der Herr Don Franco, »der braucht gar nicht zu sprechen mit den Teufelshänden, die er hat«. Ihn Klavier spielen zu hören, das sei gerade, als hörte man eine Drehorgel, und Drehorgeln hörte sie »für ihr Leben gern«! Sie fügte hinzu, daß sie fürchte zu stören, aber ihr Mann habe sie zu dem Besuch ermutigt. Und sie fragte, ob der andre Herr aus Loveno nicht auch spielte, und ob sie lange bleiben würden; sie bemerkte, daß beide eine große Leidenschaft für die Musik haben müßten.

›O, du Schuft von einem Einnehmer, du kannst lange warten,‹ dachte Luisa, und sie band seiner Frau die komischsten Märchen über die Musikwütigkeit Pedraglios und des Advokaten auf, immer dicker auftragend, je erzürnter sie auf die verhaßten Menschen war, die sie zwangen, sich vor ihnen durch Lügen zu schützen. Die Frau Peppina nahm alles vom Anfang bis zum Ende für bare Münze, die Erzählungen mit Tönen heiterer Verwunderung begleitend: »Das ist gut! – Ist es die Möglichkeit! – Nu sieh einer an!« Dann sprach sie, statt dem diabolischen Streit des Klaviers mit dem Fagott zuzuhören, von dem Kommissär von Porlezza und erzählte, daß er die Absicht habe, einmal zu kommen, um sich Don Francos Blumen anzusehen.

»Er soll nur kommen,« entgegnete Luisa kühl.

Nun riskierte Frau Peppina, die Gelegenheit eines wahren Sturmes benutzend, den Franco und sein Freund zusammen an dem Klavier verübten, eine intimere kleine Aussprache, und wehe, wenn ihr Carlascia sie gehört hätte! Glücklicherweise schlief der gute Kerl in seinem Bett, die Nachtmütze über die Ohren gezogen.

»Mir haben diese teuern Blumen nie so gefallen!« sagte sie. Ihrer Meinung nach hätten die Maironi gut getan, dem Herrn Kommissär etwas um den Bart zu gehen. Er war sehr intim bei der Marchesa, und wehe ihnen, wenn ihm der Einfall kommen sollte, sie zu schikanieren! Er war ein furchtbarer Mensch, der Kommissär. »Mein Carlo bellt ein bißchen, aber er ist 'n guter Kerl; der andre da, der bellt zwar nicht, aber na ...!« Wenn zum Beispiel – sie wußte nichts davon und hatte nichts gehört –, wenn der Herr Advokat und der andre Herr nicht der Musik, sondern eines andern Zweckes halber hierhergekommen wären, und der Kommissär würde es erfahren, dann Gnade Gott.

Mondglanz lag auf dem See nach den westlichen Ufern zu; das Spiel war zu Ende, und Herr Giacomo war dabei, seine kleine Laterne anzuzünden, trotz Pasottis Zwischenrufen. »Licht, Herr Zacomo? Sind Sie toll? Licht bei diesem Mondschein?«

»Ihnen zu dienen,« antwortete Herr Giacomo. »Erstens muß man diesen verwünschten Pomodoro passieren; und dann, was wollen Sie jetzt mit dem Mond! Sagen Sie meinetwegen auch, 's wär' der Augustmond; denn sind wir auch im September, der Mond scheint wie im August. Ja, früher, mein Herr, da waren die Augustmonde Riesenmonde, wie die Böden von Weinfässern so groß; jetzt sind's Möndchen, nicht der Rede wert ... nein, nein, nein.« Damit hatte er sein Laternchen angezündet und entfernte sich mit Pasotti, bis zu dem Gitter des Gärtchens von dem impertinenten Pedraglio begleitet, der seine gewohnten Anspielungen auf den Stier und die Magd wiederholte, und schlug die Richtung nach den Grotten von Oria ein mit dem Trost von Pasottis bösen Nachreden: »Schlecht erzogene Leute, Herr Zacomo, Flegel!« Schmähungen, die recht laut ausgestoßen wurden, damit die andern sie hören und belachen konnten.

*

Ein lautes Gähnen des Ingenieurs trieb Frau Peppina in die Flucht. Kurz darauf, nachdem er das gewohnte Glas Milch getrunken hatte, verabschiedete er sich poetisch:

»Der Parnaß steht in Myrten- und Lorbeerpracht,
Wünsche den Herrn eine glückselige Nacht.«

Auch die beiden Gäste baten um etwas Milch; und Franco, der ihr Latein verstand, holte eine alte Flasche des kleinen vortrefflichen Weinbergs von Mainè.

Als er zurückkam, war der Oheim nicht mehr da. Der dunkle, bärtige Advokat, eine Quadratur von Kraft und Ruhe, hob beide Hände und winkte schweigend Franco auf seine eine, Luisa auf die andre Seite und sagte leise mit seiner Stimme, die einen warmen und tiefen Klang wie ein Violoncell hatte:

»Große Neuigkeiten.«

»Ah!« sagte Franco, seine glühenden Augen weit aufmachend. Luisa wurde blaß und faltete die Hände, ohne ein Wort zu sagen. »Wir sind soweit,« sagte Pedraglio ruhig und ernst. »Sprechen Sie, sprechen Sie, sprechen Sie,« rief Franco, zitternd vor Erregung.

»Wir haben das Bündnis Piemonts mit Frankreich und England. Heute den Krieg mit Rußland, morgen den Krieg mit Österreich. Wollen Sie noch mehr?«

Franco warf sich schluchzend seinen Freunden in die Arme.

Schweigend, mit klopfendem Herzen hielten sich die drei fest umschlungen in der Trunkenheit des magischen Wortes: Krieg. Franco merkte nicht, daß er die Flasche noch in der Hand hielt. Luisa nahm sie ihm ab; nun löste er sich energisch aus der Umarmung, und sich mit offenen Armen zwischen beide schiebend, wirbelte er sie, um die Taille gefaßt, wie eine Lawine hinaus auf die Loggia, immer wiederholend: »Erzählen Sie, erzählen Sie, erzählen Sie.«

Draußen, nachdem man aus Vorsicht die Glastür, die zur Terrasse führte, geschlossen hatte, rückten der Advokat und Pedraglio mit ihrem köstlichen Geheimnis heraus. Auf ihrem Landsitz in Bellagio hatte eine englische Dame, eine glühende Freundin Italiens, von einer andern Dame, Cousine des Sir James Hudson, des englischen Gesandten in Turin, einen Brief erhalten, dessen Übersetzung sich in den Händen des Advokaten befand. Der Brief sagte, daß in Turin, Paris und London ganz geheime Verbindungen im Gange wären, um sich der bewaffneten Beihilfe Piemonts im Orient zu versichern, daß in der Hauptsache die drei Kabinette schon unter sich einig seien und nur einige formale Schwierigkeiten zu erledigen blieben, da der Graf Cavour die größte Rücksicht auf die Würde seines Landes verlange; daß man in Turin sicher sei, spätestens im Dezember die offizielle Aufforderung der Westmächte zu erhalten, dem Vertrag vom 10. April 1854 offen und rückhaltslos beizutreten. Man behauptete sogar, daß das Expeditionskorps von Seiner Königlichen Hoheit dem Herzog von Genua kommandiert werden würde.

V. las, und Franco hielt die Hand seiner Gattin fest in der seinen. Dann wollte er selbst lesen, und nach ihm las Luisa. »Aber!« sagte sie, »Krieg mit Österreich? Wieso?«

»Aber zweifellos!« entgegnete der Advokat. »Glauben Sie, daß Cavour den Herzog von Genua und fünfzehn- oder zwanzigtausend Mann sich mit den Türken schlagen läßt, wenn er nicht den Krieg mit Österreich in der Tasche hat? Die Dame glaubt, daß kein Jahr vergehen wird.«

Franco schüttelte die Fäuste. Sein ganzer Körper erbebte.

»Es lebe Cavour!« flüsterte Luisa.

»Ah!« antwortete der Advokat, »Demosthenes hätte den Grafen nicht beredter preisen können.«

Francos Augen füllten sich mit Tränen. »Ich bin ein Dummkopf,« sagte er. »Was soll ich euch wohl sagen?«

Pedraglio fragte Luisa, wo zum Teufel sie die Flasche versteckt habe. Luisa lächelte, ging hinaus und kam sofort mit dem Wein und den Gläsern zurück.

»Auf den Grafen Cavour!« sagte Pedraglio leise. Alle hoben ihre Gläser und wiederholten: »Auf den Grafen Cavour!« und tranken, auch Luisa, die sonst nie trank.

Pedraglio schenkte sich von neuem ein und stand auf. »Auf den Krieg!« sagte er.

Die andern drei sprangen von ihren Sitzen, ergriffen stumm die Gläser, zu bewegt, um sprechen zu können.

»Wir alle müssen mitgehen!« sagte Pedraglio.

»Alle!« erwiderte Franco. Luisa küßte ihn begeistert auf die Schulter. Ihr Gatte nahm ihren Kopf zwischen beide Hände und drückte einen Kuß auf ihre Haare.

Eines der Fenster nach dem See stand weit offen. Man hörte in der Stille, die dem Kuß folgte, den gleichmäßigen Schlag von Rudern.

»Zollwache,« flüsterte Franco. Während die Jolle der Zollwächter unter dem Fenster vorübersegelte, sagte Pedraglio: »Verfluchte Schweine!« so laut, daß die andern »Pst« machten.

Die Barkasse war vorbei. Franco steckte den Kopf zum Fenster hinaus.

Es war frisch, der Mond ging nach den Bergen von Carona zu unter, einen langen, vergoldeten Streifen über den See ziehend. Seltsame Empfindung, diese stille Einsamkeit zu betrachten mit dem Gedanken eines großen nahen Krieges! Die düsteren, melancholischen Berge schienen an die furchtbare Zukunft zu denken. Franco schloß das Fenster, und um den Tisch wurde mit leiser Stimme die Unterhaltung wieder aufgenommen. Jeder gab seine eignen Vermutungen über die bevorstehenden Ereignisse zum besten, und alle sprachen wie von einem Schauspiel, dessen Manuskript schon fix und fertig bis auf die letzte Zeile, mit allen Punkten und Kommas, im Schreibtisch des Grafen Cavour läge.

V., der Bonapartist, war fest überzeugt, daß Napoleon den Oheim zu rächen beabsichtigte, indem er die Mitglieder der heiligen Allianz, eines nach dem andern, stürzte; heute Rußland, morgen Österreich.

Franco indessen, der sehr mißtrauisch gegen den Kaiser war, schob das sardische Bündnis auf Englands guten Willen, gab aber zu, daß, sobald dieses Bündnis proklamiert würde, Österreich, indem es seine Interessen seinen Prinzipien und Haßgefühlen opferte, sich an Rußland schließen und Napoleon so gezwungen sein würde, gegen es zu kämpfen.

»Hört,« sagte Luisa, »meine Furcht ist vielmehr, daß Österreich sich auf die Seite Piemonts stellen werde.«

»Unmöglich,« entgegnete der Advokat.

Franco erschrak und bewunderte die Feinheit der Bemerkung; aber Pedraglio rief:

»Ha, sie werden's bleiben lassen, sie sind zu große Esel, um einen so schurkischen Feldzug zu machen!« Und das Argument schien überzeugend, niemand dachte weiter daran, außer Luisa.

Sie fingen nun an, die Feldzugspläne und die Insurrektionspläne zu besprechen; aber hier waren sie nicht einig. V. kannte die Bevölkerung und die Berge des Comersees wie vielleicht kein andrer, von Colico bis Como und bis Lecco. Und überall längs des Sees in der Val Menaggo, Vall' Intelvi, in der Valsassina, in Tre Pievi hatte er ergebene Leute, bereit, zu kämpfen auf ein Zeichen des »Sor Avocat«. Er und Franco hielten jede aufständische Bewegung für nützlich, die imstande wäre, auch nur einen ganz geringen Teil der österreichischen Kräfte abzulenken, während Luisa und Pedraglio der Meinung waren, daß alle tauglichen Männer die piemontesischen Bataillone vergrößern müßten.

»Die Revolution werden wir Frauen besorgen,« sagte Luisa mit ihrem spöttischen Ernst. »Ich für mein Teil werde Carlascia in den See werfen.«

Sie sprachen immer noch gedämpft, mit einer Elektrizität im Körper, die aus ihren Augen Funken sprühte und ihren Nerven Stöße gab; sie empfanden es als einen Genuß, dieses unterdrückte Sprechen bei geschlossenen Türen und Fenstern, die Gefahr, diesen Brief zu besitzen, das glühende Leben, das sie im Blute fühlten, die trunkenen Worte, die wieder und immer wieder von ihren Lippen tönten: Piemont, Krieg, Cavour, Herzog von Genua, Viktor Emanuel, Kanonen, Bersaglieri.

»Wißt ihr, wie spät es ist?« sagte Pedraglio, nach der Uhr sehend. »Halb eins. Laßt uns zu Bett gehen.«

Luisa ging hinaus, um die Kerzen zu holen, zündete sie an und blieb stehen; da keiner Miene machte aufzustehen, setzte sie sich auch wieder. Selbst Pedraglio verging die Lust zum Schlafengehen beim Anblick der angezündeten Kerzen.

»Ein schönes Königreich!« sagte er.

»Piemont,« sagte Franco, »Lombardo-Venetien, Parma und Modena ...«

»Und die Legationen,« Die vier Legationen waren die Städte Bologna, Ferrara, Imola und Ravenna mit ihren Gebieten. meinte V.

Neue Diskussion. Alle hätten die Legationen gern gehabt, besonders der Advokat und Luisa; aber Franco und Pedraglio fürchteten daran zu rühren, sie befürchteten, daß sich Schwierigkeiten ergeben würden.

Sie ereiferten sich so, daß der allzeit lustige Pedraglio seine Gefährten aufforderte, »leise zu schreien«.

Jetzt war es V., der vorschlug, zu Bett zu gehen. Er nahm die Kerze in die Hand, aber ohne aufzustehen.

»Donner und Doria!« sagte er, ohne recht zu wissen, ob als Schluß oder Eingang einer neuen Rede. Er hatte in der Tat große Lust, zu sprechen und sprechen zu hören, und wußte nichts Neues mehr zu sagen.

»Wahrhaftig, Donner und Doria!« rief Franco, der sich in derselben Lage befand.

Es folgte eine etwas ausgedehnte Pause. Endlich sagte Pedraglio »Also?« und erhob sich.

»Gehen wir?« sagte Luisa, als erste aufbrechend.

»Und der Name?« fragte der Advokat.

Alle blieben stehen.

»Welcher Name?«

»Der Name des neuen Königreichs?«

Franco stellte sofort die Kerze nieder.

»Bravo!« sagte er, »der Name!« als sei es eine Sache, die vor dem Zubettgehen entschieden werden müßte.

Erneute Diskussion. Piemont? Cisalpinien? Oberitalien? Italien?

Auch Luisa stellte das Licht hin, und Pedraglio, weil die andern sein »Italien« nicht durchgehen lassen wollten, tat desgleichen. Da die Debatte sich jedoch allzusehr in die Länge zog, griff er wieder zu seiner Kerze und lief mit dem Ruf: »Italien, Italien, Italien, Italien!« davon, ohne auf das »Pst!« und die Zurufe der andern zu hören, die ihm auf den Fußspitzen folgten.

Noch einmal blieben sie alle am Fuße der Treppe stehen, die Pedraglio und der Advokat hinaufgehen mußten, um zu ihren Schlafstätten zu gelangen, und wünschten einander gute Nacht.

Luisa trat in das danebenliegende Schlafzimmer; Franco blieb noch, um die Freunde hinaufgehen zu sehen.

»Holla!« sagte er plötzlich. Er wollte von unten zu ihnen sprechen, hielt es aber dann für geratener, ihnen nachzueilen. »Und wenn wir verlieren?« flüsterte er.

Der Advokat begnügte sich mit einem verächtlichen »Pff!«, aber Pedraglio wandte sich um und sprang wie eine Hyäne Franco an den Hals. Unter Lachen kämpften sie auf dem Treppenabsatz, und dann »Adieu!«

Pedraglio lief hinauf. Franco sprang mit großen Sätzen hinunter.

Seine Frau erwartete ihn in der Mitte des Zimmers stehend und nach der Tür blickend. Sobald sie ihn eintreten sah, ging sie ihm ernst entgegen und umschloß ihn in fester, inniger Umarmung, und als er nach einigen Augenblicken sich sanft aus dieser Schlinge lösen wollte, umschlang sie ihn nur noch fester, in stummem Schweigen. Nun verstand Franco sie. Sie umarmte ihn jetzt, wie sie ihn vorher stürmisch geküßt hatte, als sie davon gesprochen hatten, alle in den Krieg zu ziehen. Er preßte ihre Schläfen zwischen den Händen, küßte wieder und wieder ihre Haare und sagte mit sanfter Stimme: »Denke, Geliebte, welch große Sache darnach, dieses Italien!«

»O ja!« sagte sie. Sie erhob ihr Gesicht zum Gesicht des Mannes und bot ihm die Lippen.

Sie weinte nicht, aber ihre Augen glänzten feucht. So angeblickt, so geküßt zu werden von diesem leidenschaftlichen und stolzen Geschöpf, wog gut einige Jahre Lebens auf, denn nie, nie war sie gegen ihn in der Zärtlichkeit so demütig gewesen!

»Dann,« sagte sie, »werden wir nicht länger in Valsolda bleiben. Du wirst als Staatsbürger arbeiten müssen, nicht wahr?«

»Ja, ja, gewiß!«

Mit großem Eifer besprachen sie jetzt, sowohl sie wie er, was er nach dem Kriege tun würde, wie um den Gedanken an eine furchtbare Möglichkeit fortzuschieben.

Luisa löste ihre Haare und trat an Marias Bettchen, um das Kind im Schlafe zu betrachten. Die Kleine war kurz zuvor vielleicht aufgewacht und hatte ein Fingerchen in den Mund gesteckt, das beim Wiedereinschlafen ganz allmählich hinausgeglitten war. Jetzt schlief sie mit offenem Mund und das Fingerchen auf dem Kinn.

»Komm, Franco,« sagte ihre Mutter. Beide neigten sich über das Bettchen. Marias Gesichtchen war von paradiesischer Lieblichkeit.

Mann und Frau betrachteten sie schweigend eine Weile und richteten sich dann gerührt wieder auf. Die unterbrochene Unterhaltung setzten sie nicht fort.

Aber als sie im Bett lagen und das Licht gelöscht hatten, flüsterte Luisa auf dem Munde ihres Gatten:

»Wenn dieser Tag kommt, so gehst du; aber ich gehe auch.«

Und sie erlaubte ihm nicht zu antworten.


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