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Elftes Kapitel.
Nacht und Morgenrot

Sofort nach Eintreffen des Telegramms stürzte Franco in die Redaktion der »Opinione«, Via della Rocca. Dina, als er ihn so verstört sah, rief:

»Ach, Sie haben also schon erfahren?«

Franco fühlte sein Blut erstarren, aber Dina machte, als er von dem Telegramm hörte, eine überraschte Gebärde. Nein, nein, davon wußte er nichts. Er war von seiten des Ministerpräsidenten informiert worden, daß die österreichische Polizei in Vall' Intelvi Haussuchungen und Verhaftungen vorgenommen habe, und daß sich unter den Papieren eines Arztes auch der Name Don Franco Maironis mit ziemlich kompromittierenden Angaben befunden hätte. Dina fügte hinzu, daß er in diesem für einen Vater so schmerzlichen Augenblick es kaum wage, ihm mitzuteilen, daß Graf Cavour sich für ihn interessiere. Er selbst, Dina, habe mit dem Grafen über ihn gesprochen, und dieser habe sich sehr abfällig darüber geäußert, daß ein lombardischer Edelmann von so gutem Namen sich in Turin in drückenden und ärmlichen Verhältnissen befinde. Dina glaubte, daß er die Absicht habe, ihm eine Anstellung im Ministerium des Äußeren anzubieten. Jetzt müßte Franco abreisen, selbstverständlich. Aber das Kind würde gesund werden, und er würde in möglichst kurzer Zeit zurückkehren. Inzwischen würde er in der Erwartung weiterer Nachrichten in Lugano bleiben, nicht wahr, und die Lombardei würde er gar nicht betreten, wenn es die Umstände nicht absolut erforderten. Denn nach dieser Affaire in Vall' Intelvi würde das eine riesige Unvorsichtigkeit sein. Franco schwieg, und im Verabschieden wiederholte sein Direktor nochmals: »Seien Sie vorsichtig! Lassen Sie sich nicht erwischen!« Aber er bekam keine Antwort.

Seit dem Augenblick, in dem Franco das Telegramm erhalten hatte, war er wie im Traum durch Turin auf und ab gelaufen, ohne den Klang seiner eignen Schritte zu hören, ohne Bewußtsein dessen, was er sah, dessen, was er hörte, maschinenmäßig dahin gehend, wohin es notwendig war, in dem dumpfen Drange, dahin zu gelangen, wohin ein untergeordnetes und knechtisches Vermögen seiner Seele ihn trieb, jene Mischung von Vernunft und Instinkt, die uns auch durch das Labyrinth städtischen Straßengewirres sicher leitet, während unser Geist, durch irgendein Problem oder irgendeine Leidenschaft absorbiert, auf nichts achtet. Er verkaufte seine Uhr mit Kette für hundertundfünfunddreißig Lire an einen Uhrmacher von Doragrossa, kaufte eine Puppe für Maria, ging beim Café Alfieri und beim Café Florio vorüber, um die Freunde benachrichtigen zu lassen, und war, da er den Zug nach Novara um halb zwölf benutzen wollte, um elf Uhr am Bahnhof. Um ein Viertel nach elf kamen der Paduaner und der Udinese noch dorthin. Sie versuchten, ihn mit allen nur möglichen rosigen Vorspiegelungen und leeren Trostgründen zu erheitern, aber er antwortete keine Silbe und erwartete mit unaussprechlicher Sehnsucht den Moment der Abreise, des Alleinseins, den Moment, wo er nach Oria kommen würde; denn er war fest entschlossen, nach Oria zu gehen, wie groß die Gefahr auch wäre. Er setzte sich in einen Wagen dritter Klasse, und als endlich die Lokomotive pfiff und der Zug in Bewegung kam, stieß er einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus und gab sich ganz dem Gedanken an seine Maria hin. Aber es waren zu viel Menschen um ihn herum, zu viel rohe, lärmende Menschen. Er konnte diese Gespräche, dies Gelächter nicht länger ertragen und stieg in Chivasso in ein leeres Coupé zweiter Klasse, wo er ein Selbstgespräch begann, während er auf den Sitz gegenüber starrte.

Gott, warum haben sie auf das Telegramm nicht ein Wort mehr gesetzt? O mein Herrgott, ein einziges Wort! Den Namen der Krankheit wenigstens!

Ein fürchterlicher Name durchzuckte sein Hirn: Croup! Er streckte seine Arme gegen dies Schreckgespenst aus, und während er mit aller Kraft nach Atem rang, verzerrte er sich krampfhaft; dann ließ er sie wieder sinken mit einem Seufzer, der seine Brust der Luft und des Lebens zu berauben schien. Denn es mußte sich ja um eine plötzliche Erkrankung handeln, andernfalls hätte Luisa geschrieben! Ein andrer Blitz durchzuckte seinen Kopf: Gehirnentzündung? Er selbst war als Kind an einer Gehirnentzündung dem Tode nahe gewesen. Herr! Herr! Das war die richtige Eingebung. Gott selbst hatte sie ihm gesandt! Er wurde von nervösem Schluchzen gepackt, ohne Tränen. Maria! Mein Schatz, meine Liebe, meine Freude! Das mußte so sein, ja. Er sah sie keuchend, fieberglühend, vom Arzt und von der Mutter bewacht; in einem Augenblick machte er lange, lange Stunden der zitternden Angst an ihrem Krankenbett durch, er sah das Aufflackern der Hoffnung, hörte das erste Flüstern der süßen Stimme: »Lieber Papa.«

Er sprang auf, faltete die Hände krampfhaft zu einem stummen Gebet. Dann fiel er erschöpft auf seinen Sitz zurück und wendete die blicklosen Augen auf die vorüberfliehende Landschaft, während er fast einen Zusammenhang zwischen der großen, verschleierten Alpenkette, die so fest am nördlichen Horizont stand, und dem allbeherrschenden, fixen und unklaren Gedanken in seiner Seele empfand. Von Zeit zu Zeit weckte ihn das Rasseln des Zuges aus seiner Erstarrung und flößte ihm die Vision eines qualvollen Laufes ein und machte sein Herz wieder erbeben und unruhig klopfen. Dann schloß er die Augen wieder, um seine Ankunft deutlicher zu sehen. Plötzlich stiegen ihm Bilder aus dem Herzen auf vor die Augen, aber sie flackerten, flackerten unaufhörlich, und er konnte sie keinen Moment festhalten. Es war Luisa, die ihm auf der Treppe entgegenlief, es war der Onkel, der am Eingang zum Saal die Arme nach ihm ausbreitete, es war Doktor Aliprandi, der ihm die Tür des Alkovens öffnete und dabei »gut, gut« sagte, es war in der dunklen Kammer ein Gleiten schweigender Schatten, es war Maria, die ihn mit fieberglänzenden Augen ansah.

In Vercelli, wo es ihm vorkam, als sei er schon tausend Meilen von Turin entfernt, gewann die Wirklichkeit wieder Herrschaft über ihn. In Lugano angelangt, wie und auf welchem Wege würde er nach Oria kommen? Offen, über den See, wo er vom Zollamt aus gesehen werden mußte? Und wenn sie ihn nun nicht passieren ließen, weil auf seinem Paß sein Ausgang nicht vermerkt war, oder, schlimmer noch, wenn wegen der Affaire des Doktors aus Pellio ein Verhaftsbefehl lauerte? Besser übers Gebirge gehen. Mochte er später verhaftet werden, aber mit der Ortskenntnis ausgerüstet, die er sich vor 1848 durch die Jagd erworben, war er fast sicher, ungefährdet zu Haus anzugelangen. Diese mühsame Arbeit, Pläne zu schmieden und sie wieder zu verwerfen, zerstreute ihn etwas und hielt seinen Geist beschäftigt bis über Arona hinaus, bis auf das Schiff über den Lago Maggiore. Nach seiner Berechnung kam er mitten in der Nacht in Lugano an. Ob jemand dort war, um ihn zu erwarten? Und wenn niemand dort wäre, konnte es ganz gut sein, daß sie in der Apotheke Fontana, wo viele aus Valsolda verkehrten, etwas wüßten. Wenn es Gottes Wille wäre, ihn in Lugano beruhigende Nachrichten finden zu lassen, so könnte er seine Entschlüsse wegen Oria auf morgen verschieben. Er beschloß also, vor Lugano keine Pläne mehr zu machen, und bat Gott inständig, ihn gute Nachrichten finden zu lassen. Der Himmel war bedeckt, die Berge hatten schon eine traurig-herbstliche Färbung, über dem See lag ein leichter Nebel, die Glocken von Meina läuteten, auf dem Schiff war fast niemand, und Franco erstarb das Gebet im Herzen unter einer bleischweren Traurigkeit, und seine Augen irrten hinter einem Schwarm weißer Möwen her, die weithin nach den Wassern von Laveno flogen, nach dem verborgenen Land, wo seine Seele weilte.

Er kam nach sieben in Magadoni an, ging zu Fuß über den Monte Ceneri, den Steig benutzend, der über die Cantoniera führt, nahm dann in Bironico einen Wagen und gelangte nach Mitternacht nach Lugano. Auf dem Platze dicht beim Café Terreni stieg er ab. Das Café war geschlossen, der Platz verödet und dunkel; alles lag in Schweigen, selbst der See, dessen langsames Pulsieren man im Schatten ahnte. Franco blieb einen Augenblick am Ufer stehen, in der Hoffnung, es könnte jemand auf ihn warten und von irgendwoher plötzlich auftauchen. Valsolda, das hinter dem Monte Brè versteckt lag, konnte er nicht sehen; aber das war ja dasselbe Wasser, in dem Oria sich spiegelte, das in dem kleinen Hafen seines Hauses schlief. Sein Herz weitete sich ein wenig in einem Gefühl von Frieden, er hatte die Empfindung, als sei er zu den Seinen zurückgekehrt. Da jede menschliche Stimme schwieg, schien es ihm, als ob die großen dunkeln Berge zu ihm sprächen, vor allen der Monte Caprino und der Zocca d'i Ment, die auf Oria blickten. Sie sprachen sanft und friedlich zu ihm, sie flößten ihm ein gutes Vorgefühl ein. Neunzehn Stunden waren seit der Aufgabe des Telegramms verflossen: das Übel konnte besiegt sein.

Da niemand zu sehen war, ging er nach der Apotheke Fontana und zog die Glocke. Er kannte seit Jahren diesen vortrefflichen, herzensguten Ehrenmann Carlo Fontana, der ebenfalls mit der alten Welt dahingegangen ist. Herr Carlo erschien am Fenster und war nicht wenig erstaunt, Don Franco zu sehen. Er wußte gar nichts aus Valsolda, da er zwei Tage in Tesserete gewesen und erst vor wenigen Stunden zurückgekehrt war; er hatte keine Nachrichten. Sein Gehilfe, Herr Benedetto, war ebenfalls vor einigen Stunden nach Bellinzona gereist. Franco dankte und machte sich auf den Weg nach Villa Ciani, fest entschlossen, sofort nach Oria zu gehen.

Er hatte die Wahl zwischen zwei Wegen: entweder von Pregassona aus den Schweizer Hang des Boglia hinaufsteigen, die Alpe della Bolla berühren, den Pian Biscagno und den großen Buchenwald durchschreiten, auf der Höhe des lombardischen Hanges heraustreten, gerade bei der Buche der Madonna, und nach Albogasio und Oria heruntersteigen; oder den bequemen Weg über Gandria nehmen, immer am See entlang, und dann den abscheulichen, gefährlichen Fußsteig, der von Gandria, dem letzten Schweizerdorf, den furchtbar steilen Felshang durchschneidet, die Grenze ungefähr hundert Meter oberhalb des Sees überschreitet, zur Sennhütte von Origa führt, in die enge Schlucht der Val Malghera abstürzt, zur Sennerei von Rooch wieder emporklimmt, dort auf das steinige Sträßchen stößt, das über den Niscioree hinüber und schließlich nach Oria hinunter führt. Der erste Weg war bei weitem länger und mühsamer, aber dafür geeigneter, an der Grenze der Wachsamkeit der Zollwächter zu entgehen. Franco beschloß, als er aus der Apotheke Fontana fortging, diesen zu wählen. Als er aber in Cassaroga war, wo die Straßen von Gandria und die von Pregassona sich treffen, als er die Spitze von Castagnola so nahe vor sich sah und bedachte, daß man von Castagnola Gandria in weniger als einer halben Stunde erreichen kann, daß man von Gandria nach Oria anderthalb Stunden braucht, wurde ihm die Vorstellung, den Boglia zu erklimmen und sieben oder acht Stunden gehen zu müssen, völlig unerträglich. Wenn er über den Boglia ging, kam er ferner bei hellem Tageslichte an; das war für seine Sicherheit äußerst gewagt. Entschlossen nahm er den Weg über Castagnola und Gandria. Der Himmel war mit schweren Wolken bedeckt. Unter den hohen Kastanienbäumen, unter denen der Fußweg nach Castagnola führte, wußte man nicht, wohin den Fuß setzen; aber wie wäre es erst in dem dichten Wald des Boglia gewesen, wenn Franco diesen gewählt hätte? Undurchdringlich war's in Castagnola, schlimmer noch in dem Labyrinth von schmalen Gassen in Gandria. Nachdem er immer wieder sich dort verirrt und wieder herausgefunden hatte, gelangte Franco endlich auf den Grenzsteig, und dort hielt er an, um auszuruhen. Im Begriff, sein Leben aufs Spiel zu setzen im tiefen Dickicht dieses gefahrvollen, schwierigen Weges, sich einer gefährlichen Begegnung mit den österreichischen Grenzwächtern auszusetzen, um dann zu jenem andern qualvollen Moment zu gelangen: in sein Haus zu treten, die erste Frage zu stellen, die erste Antwort zu hören, – in diesem Augenblicke erhob er seinen Geist zu Gott und sammelte alle seine Gedanken zu einem Aufgebot von Kraft und von Ruhe.

Er setzte seinen Weg fort. Jetzt war es notwendig, seine ganze Aufmerksamkeit auf den Weg zu richten, um sich nicht zu verirren, um nicht abzustürzen. Die Felder von Gandria sind bald zu Ende. Dann kommen dichte Dornengestrüppe, die über den See hängen, zerklüftete, durch Bäume maskierte Schluchten, die direkt in die Tiefe stürzen. In dieser pechschwarzen Finsternis war Franco gezwungen, mit den Armen blindlings zu tasten, um einen Zweig zu packen, dann den nächsten, das Gesicht durch das Laubwerk zu zwängen, das wenigstens den Duft von Valsolda hatte, sich von Pflanze zu Pflanze zu schleifen, mit den Füßen den Boden zu sondieren, nicht ohne die Gefahr, plötzlich in die Tiefe zu versinken, und so die Spuren des Fußsteiges zu suchen. Sein Bündel war nur klein, und doch behinderte es ihn. Und das Rauschen der Blätter bei seinem Vorübergehen erregte ihn; er hatte die Empfindung, als müsse man es in der religiösen Stille der Nacht weithin hören, über die Berge und über den See. Nun blieb er stehen und horchte. Er vernahm nichts als das ferne Brausen des Wasserfalls von Rescia, das langgezogene Heulen der Nachteulen in den Wäldern jenseits des Sees und ab und zu in der Tiefe, auf dem Wasser, ein trockenes Anschlagen von Gott weiß was. Er brauchte nicht weniger als eine Stunde, um bis an die Grenze zu gelangen. Dort, zwischen dem Grenztale und der Val Malghera war der Wald erst kürzlich abgeholzt worden, der steinige Abhang war nackt und hierdurch sowohl die Gefahr eines Absturzes wie die Gefahr der Entdeckung erheblich vergrößert. Diesen Teil durchschritt er mit der äußersten Vorsicht, häufig stehen bleibend, zuweilen auf allen vieren kriechend. Bevor er nach Origa kam, hörte er in der Tiefe ein leises Geräusch von Rudern. Er wußte, daß die Barke der Wächter ab und zu des Nachts am Ufer von Val Malghera vorbeistrich. Es waren die Wächter, sicherlich. Unter den Kastanienbäumen von Origa atmete er auf. Dort war er gedeckt und ging geräuschlos über Gras. Er stieg den Westhang nach Val Malghera herunter und ohne weiteres Hindernis auf der andern Seite wieder hinauf. Als er sich Rooch näherte, hämmerte sein Herz zum Zerspringen. Denn Rooch ist gewissermaßen ein Vorposten von Oria. Hier mündete das Sträßchen, das er so oft an lauen Winternachmittagen mit Luisa hinaufgestiegen war, Veilchen pflückend und Lorbeerblätter und dabei über die Zukunft plaudernd. Er erinnerte sich, daß sie das letztemal einen kleinen Streit gehabt hatten über den wünschenswertesten Gatten für Maria und über die Eigenschaften, die er haben müßte. Franco hätte einen Landwirt vorgezogen und Luisa einen Maschinenbaumeister.

Rooch ist eine Sennerei, die dicht an ein paar spärliche Felder gerückt ist, welche sich terrassenförmig den Berg hinaufziehen und einen kleinen lichten Fleck in dem waldigen Gelände bilden. Ein Zimmer oben, unten der Stall, ein kleiner Vorbau vor dem Stall, eine Zisterne in dem Vorbau; das ist alles. Der Vorbau sieht auf das gepflasterte Sträßchen, das zwei oder drei Meter weiter unten vorbeiführt. Von der Höhe der Felsschlucht von Val Malghera nach Rooch sind es nur wenige Schritte. Als Franco die Höhe erreicht hatte, hörte er jemand in der Sennhütte gedämpft sprechen.

Er blieb stehen, trat zur Seite und verbarg sich liegend unter dem Grase, vom Wege abseits, längs eines Kastaniengebüschs. Er hörte nicht mehr sprechen, sondern vernahm den raschen Schritt eines herannahenden Mannes und blieb, den Atem anhaltend, regungslos liegen. Der Mann blieb beinahe unmittelbar neben ihm stehen, wartete ein Weilchen, dann ging er langsam wieder zurück und sagte laut, mit fremdem Akzent: »Es ist nichts. Es wird ein Fuchs gewesen sein.«

Die Wächter. Es folgte ein langes Schweigen, währenddessen Franco sich nicht zu rühren wagte. Die Wächter nahmen ihr Gespräch wieder auf, und er faßte den Entschluß, sich geräuschlos zurückzuziehen und wieder ins Val Malghera zurückzugehen, um sich hinter der Sennhütte in die Höhe zu schlängeln. Ganz leise und langsam zog er die Schuhe aus. Er war im Begriff fortzukriechen, als er die Wächter, drei oder vier, aus der Hütte treten und schwatzend auf sich zukommen hörte. Einer von ihnen sagte: »Bleibt keiner hier?« und ein andrer erwiderte: »Es ist nutzlos.«

Vier Wächter gingen unmittelbar an ihm vorüber, ohne ihn zu sehen. Sie hatten keinen Verdacht, denn sie plauderten von gleichgültigen Dingen. Einer sagte, daß man zehn Minuten unter Wasser bleiben könnte, ohne zu ertrinken, ein andrer behauptete dagegen, daß fünf Minuten genügten, um den Tod herbeizuführen. Der vierte ging schweigend vorbei, aber kaum vorüber, blieb er stehen; Franco überlief ein Schauder, als er das Reiben eines Zündholzes vernahm. Der zündete seine Pfeife an, tat zwei oder drei kräftige Züge und fragte dann die Gefährten, die schon ziemlich weit nach der Seite von Val Malghera vorausgegangen waren, mit erhobener Stimme:

»Wie alt war sie?«

Und einer von jenen erwiderte, ebenfalls sehr laut:

»Drei Jahre und einen Monat.«

Darauf tat der vierte Wächter abermals zwei Züge und machte sich auch auf den Weg. Franco, der noch auf dem Boden lag, erhob sich, als er das »drei Jahre und einen Monat«, Marias Alter, hörte, auf seine Arme, das Gras krampfhaft packend. Das Geräusch der Schritte verlor sich unten im Val Malghera.

»Gott, Gott, Gott!« rief er. Er erhob sich auf die Knie und wiederholte in seinem Innern langsam, wie vor den Kopf geschlagen, das fürchterliche Wort »war«. Er rang die Hände und stöhnte von neuem: »Gott, Gott, Gott!«

Von dem, was nun folgte, hatte er kein rechtes Bewußtsein. Er stieg nach Oria hinunter, mit der unbestimmten Empfindung, taub geworden zu sein, mit einem heftigen Zittern des Armes, in dem er die Puppe trug. Er gelangte zur Madonna del Romit, ging quer über Land, und anstatt über den Stufenweg des Pomodoro herunterzusteigen, verfolgte er geradeswegs den Fußpfad, der auf den Abkürzungsweg von Albogasio Superiore stößt, und ging dann dieselben Stufen herab, die die Pasotti den Tag vor der Katastrophe benutzt hatte. Auf der Fassade der Kirche bemerkte er einen schwachen Lichtschimmer, der von dem Alkovenfenster ausging, hielt sich unter dem erleuchteten Fenster nicht auf, rief nicht, trat unter die Vorhalle und drückte gegen die Tür. Sie war offen.

Aus der Frische der Nacht trat er in eine drückende Schwüle, in einen seltsamen Duft von heißem Essig und Weihrauch. Mühselig schleppte er sich die Treppe hinauf. Vor ihm, auf dem Treppenabsatz, fiel ein Licht von oben. Dort angelangt, sah er, daß das Licht aus dem Alkovenzimmer kam. Er stieg weiter hinauf, setzte den Fuß auf den Korridor. Die Tür des Zimmers stand offen, viele Lichter mußten da drinnen brennen. Er bemerkte neben dem Dufte des Weihrauchs Blumenduft; ein heftiges Zittern packte ihn, er konnte nicht weiter. Vom Alkoven her war nichts zu hören. Plötzlich sprach Luisas Stimme, zärtlich und ruhig:

»Willst du, Maria, daß ich dich morgen dahin begleite, wohin du gehst? Willst du deine Mama unter der Erde bei dir haben, Maria?«

»Luisa, Luisa!« schluchzte Franco. Sie lagen sich in den Armen, auf der Schwelle ihres Brautgemachs, in dem das Gedächtnis ihrer Liebe noch lebte, und die Frucht dieser Liebe tot dalag.

»Komm, Lieber, komm, komm!« sagte sie und zog ihn hinein.

In der Mitte des Zimmers lag zwischen vier angezündeten Kerzen auf einer offenen Bahre unter einem Berge abgeschnittener und wie sie selbst dahinwelkender Blumen die arme Maria. Es waren Rosen, Heliotrop, Nelken, Begonien, Geranien, Verbenen, blühendes Laub der olea fragrans und andres Laub ohne Blüten, aber ebenso dunkel und ebenso glänzend: das Laub des Johannisbrotbaums, den sie schon deshalb so geliebt hatte, weil ihr Papa ihn liebte. Blumen und Blätter waren auch über ihr Gesicht gestreut.

Schluchzend kniete Franco nieder: »Gott, Gott, Gott!« während Luisa zwei Rosen nahm, sie in eines von Marias Händchen legte und ihr dann die Stirn küßte.

»Du kannst sie auf das Haar küssen,« sagte sie. »Aufs Gesicht nicht. Der Doktor will es nicht.«

»Aber du? Aber du?«

»O, für mich ist's etwas andres.«

Er drückte trotzdem seine Lippen auf die eisigen Lippen, die zwischen den Blättern des Johannisbrotbaumes und den Geranien hindurchschimmerten. Er drückte sie leicht, wie zu einem zärtlichen Lebewohl, ohne Verzweiflung auf die leere, abgefallene Hülle seines heißgeliebten Kindes, das in eine andre Wohnung eingegangen war.

»Maria, meine Maria,« flüsterte er schluchzend, »was ist geschehen, was ist geschehen?«

Er hatte es nicht aufgefaßt, daß die erste Unterhaltung der Wächter über Ertrunkene einen Zusammenhang mit der darauffolgenden haben könnte.

»Du weißt es nicht?« fragte ihn ruhig, ohne Überraschung zu zeigen, seine Frau. Man hatte ihr gesagt, in welcher Weise telegraphiert worden sei; aber sie wußte auch, daß Ismaele nach Lugano gehen sollte, um Franco zu treffen, und ahnte nicht, daß Ismaele, als die Post von Ceneri ohne Passagiere angekommen war, sich schlafen gelegt hatte.

»Armer Franco!« sagte sie, ihn mütterlich auf die Stirn küssend. »Und so ohne vorhergehende Krankheit.«

Leu trat in diesem Augenblick ein, um zu räuchern, und blieb bei Francos Anblick wie erstarrt stehen.

»Geh,« sagte Luisa zu ihr, »stelle die Pfanne draußen hin, lege darauf, was dir gut scheint, und dann geh in die Küche schlafen, arme Leu.« Leu gehorchte.

»Ohne vorhergehende Krankheit?« wiederholte Franco.

»Komm,« erwiderte sein Weib, »ich will dir alles erzählen.«

Sie setzte ihn auf den Lehnstuhl zu Füßen des Ehebettes. Er wollte sie an seiner Seite haben. Sie machte ihm ein verneinendes Zeichen, ein Zeichen, nicht darauf zu bestehen, zu schweigen, abzuwarten, und dann setzte sie sich auf den Boden, dicht bei ihrem Kinde, nieder, und begann mit leiser, gleichmäßiger Stimme die schmerzliche Erzählung, fast als ob die Tragödie, die sie erzählte, sie nichts anginge, mit einer Stimme, die der der tauben Pasotti glich, die aus einer fernen Welt zu kommen schien. Sie schilderte ihre Aufregung nach der Begegnung mit der Bianconi und sagte ihm all die Gedanken und all die Empfindungen, die sie dazu gebracht hatten, der Großmutter entgegenzutreten; sie schilderte die Ereignisse bis zu dem Augenblick, wo sie sich überzeugt hatte, daß in Maria kein Funken Leben mehr war. Als sie fertig war, kniete sie nieder, um ihre Tote zu küssen, und flüsterte ihr zu: »Jetzt glaubt dein Papa, daß ich dich getötet habe, aber es ist nicht wahr, weißt du, es ist nicht wahr.«

Er stand auf, bebend von einer Empfindung ohne Namen, beugte sich über sie, hob sie vom Boden auf mit starken und sorgsamen Armen, sie, die sich weder sträubte, noch sich ihm überließ, setzte sie neben sich auf den Lehnstuhl, schlang seine Arme um sie, preßte sie an sich, sprach in ihre Haare hinein und badete sie mit vereinzelten heißen Tränen, die dann und wann seine Stimme brachen. »Meine arme, arme Luisa, nein, du hast sie nicht getötet, du nicht. Wie sollte ich wohl so etwas glauben? Ach nein, Liebste, nein. Ich segne dich im Gegenteil für alles, was du für sie getan hast seit ihrer Geburt. Ich, der ich nichts für sie getan habe, segne dich, die du so unendlich viel getan hast. Sage das nicht mehr, sage das nicht mehr! Unsre Maria ...«

Ein heftiges Schluchzen unterbrach seine Worte, aber mit starkem Willen überwand er sich sogleich und fuhr fort:

»Weißt du nicht, was unsre Maria in diesem Augenblick sagt? Sie sagt: ›Liebe Mama, lieber Papa, jetzt seid ihr allein, jeder von euch hat nur den andern, ihr seid mehr denn je vereinigt, gebt mich dem Herrn, damit er mich euch zurückschenke, damit ich euer Schutzengel sei und euch eines Tages zu ihm führe und wir auf ewig vereint seien.‹ Hörst du es nicht, Luisa, daß sie so spricht?«

Sie bebte in seinen Armen, von heftigen Zuckungen erschüttert, das Gesicht nach unten gewendet, und Franco, der es nach oben richten wollte, stummen Widerstand entgegensetzend. Endlich ergriff sie schweigend eine seiner Hände und küßte sie. Da küßte auch er sie auf das Haar. Dann flüsterte er:

»Antworte mir.«

»Du bist gut,« erwiderte Luisa mit tief trauriger, leiser Stimme, »du hast Mitleid mit mir, aber du meinst nicht das, was du sagst. Du mußt denken, daß ich die Ursache ihres Todes bin, daß, wenn ich deinen Empfindungen und deinen Ideen gefolgt hätte, so wäre ich nicht aus dem Hause gegangen, und wenn ich nicht ausgegangen wäre, so wäre nichts geschehen, und Maria lebte.«

»Laß dies Grübeln, laß es gehen. Du konntest glauben, Maria wäre im Zimmer oder bei Veronika, du konntest im Saal beim Brautpaar bleiben, und das Unglück wäre ebenso geschehen. Daran denke nicht mehr, Luisa. Höre lieber auf das, was Maria zu dir spricht.«

»Armer Franco! Du Ärmster, Ärmster!« rief Luisa mit einer solchen Bitterkeit, schrecklicher Hintergedanken voll, daß Franco das Blut erstarrte. Er schwieg zitternd, wagte nicht, sich auszudenken, was sie meinte, und wartete voll Angst doch, es zu vernehmen. Langsam lösten sie sich aus ihrer Umklammerung, Luisa zuerst. Sie ergriff von neuem die Hand ihres Gatten und wollte ihre Lippen wieder darauf pressen. Franco zog die ihre zärtlich an sich und versuchte ein letztes Wort:

»Warum willst du mir nicht antworten?«

»Weil ich dir zu wehe tun würde,« sagte sie leise.

Er hatte die Empfindung einer unheilbaren Verstörung ihrer Seele und schwieg. Er zog seine Hand nicht zurück, aber er fühlte seine Kräfte schwinden, er fühlte das Eindringen eines Dunkels und einer Eiseskälte, als ob die nutzlos angerufene Maria ein zweites Mal gestorben wäre. Die Seelenqual, die Müdigkeit, die drückende Schwüle, die verschiedenartigen Düfte in dem Zimmer überwältigten ihn derart, daß er hinausgehen mußte, um nicht ohnmächtig zu werden.

Er ging in die Loggia. Die Fenster waren geöffnet, die reine, frische Luft belebte ihn wieder. Im Dunkeln weinte er um sein Töchterchen ohne Rückhalt, ohne selbst den Rückhalt, den uns die Tageshelle auferlegt. Er kniete an einem Fenster nieder, kreuzte die Arme über die Brust, und mit gen Himmel gewandtem Gesicht weinte er Tränen und Worte in Strömen, unzusammenhängende Worte herzzerreißenden Kummers und glühenden Glaubens, Gott zu Hilfe rufend, Gott, Gott, der ihn geschlagen hatte. Und er bat ihn, seinen Gott, mit der Flut seiner Tränen, er möge ihm erlauben zu weinen, obgleich er wohl wisse, warum das Kind gestorben sei. Denn habe er nicht heiß zum Herrn gebetet, daß er sie erretten möge aus der Gefahr, ihren Glauben zu verlieren, wenn sie bei ihrer Mutter weile? Ach, an jenem Abend, jenem letzten Abend, als Maria »Liebster Papa, einen Kuß« und noch so viele andre Zärtlichkeiten gesagt hatte und seine Hand nicht loslassen wollte, wie hatte er da gebetet! Es war ein Entsetzen, eine Freude, eine Ekstase für ihn, sich daran zu erinnern. »Herr, Herr,« rief er zum Himmel, »du hast geschwiegen und hast mich vernommen, du hast mich erhört nach deinem geheimnisvollen Rate, du hast meinen Schatz zu dir genommen, sie ist sicher, sie freut sich, sie erwartet mich, du wirst mich wieder mit ihr vereinigen!« Der Strom von Tränen, in dem seine Worte erstarben, war ohne Bitterkeit. Aber als er dann wieder an seinen letzten Abend dachte, empfand er es sehr bitter, daß er abgereist war, ohne es Maria zu sagen, daß er sie getäuscht hatte. »Maria, meine Maria,« flehte er weinend, »verzeih mir!« Gott, wie unmöglich es ihm erschien, daß all das wahr wäre, wie natürlich es ihm vorkam, in den Alkoven zu gehen, sie dort in ihrem Bettchen schlafend zu finden, den Kopf auf die Schulter geneigt und die offenen Händchen, mit den Flächen nach oben, auf das Bettuch gestreckt! Und nun war sie dort, ja, aber ...! O diese Wirklichkeit! Er konnte, konnte des Weinens kein Ende finden.

Leu kam mit Licht und brachte ihm Kaffee. Die Frau habe sie geschickt. Er hatte eine Regung zärtlicher Dankbarkeit für sein Weib. Gott, arme Luisa, welche schwarze Verzweiflung war die ihre! Und dieser fürchterliche Anschein von Strafe, der für sie in dem Schlage lag, der sie in diesem Augenblick, gerade in diesem Augenblick wie ein Blitzstrahl getroffen! Sie hatte es wohl verstanden, daß er so denken mußte, und er dachte es wirklich und hatte es nur aus Mitleid geleugnet, ja aus Mitleid, wie sie es ja auch verstanden hatte. Und dieser drohende Anschein von Strafe hatte also keine Frucht getragen? Sie trennte sich von Gott mehr als je, wer weiß, bis zu welchem Punkte. Arme, arme Luisa! Nicht für Maria mußte man beten, Maria brauchte das nicht mehr. Für Luisa mußte man beten, beten Tag und Nacht; auf die Fürbitten des geliebten Seelchens, das zu Gott eingegangen, mußte man hoffen.

Ziemlich ruhig sprach er mit Leu und ließ sich von ihr alles, was sie von dem schrecklichen Vorfall gesehen, alles, was sie darüber gehört hatte, erzählen. »Der Herr hat Ihr Kleinchen bei sich haben wollen,« sagte Leu zum Schluß. »Sie hätten's nur in der Kirch' sehen sollen, mit den gefalteten Händchen und so ernst im Gesichtchen. Akkurat wie 'n Engel hat's ausgesehen, akkurat so.« Dann fragte sie, ob Franco das Licht zu behalten wünsche. Nein, er zog es vor, im Dunkeln zu bleiben. Und um wieviel Uhr sollte das Begräbnis stattfinden? Leu glaubte um acht Uhr. Wenn Leu einmal angefangen hatte zu reden, fand sie nicht leicht ein Ende, und vielleicht fürchtete sie sich auch davor, allein in der Küche zu bleiben. »Und ihr Papa!« sagte sie noch, ehe sie sich entfernte. »Ihr lieber Papa! Wohl an die hundertmal, seitdem ich hergekommen bin und der Frau und dem lieben Kleinchen Kastanien gebracht habe, hat sie zu mir gesprochen, so höflich und so freundlich, kein Advokat kann's besser: ›Leu‹ hat sie gesagt, ›weißt du, mein Papa kommt jetzt bald nach Lugano, und dann gehe ich, um ihn dort zu sehen.‹ – O Gott, o Gott, es ist eine schlimme Geschichte!«

Tränen und wieder Tränen. Ja, Gott hatte das Kind zu sich genommen, um es vor den Irrungen der Welt zu schützen, Gott hatte Luisa für ihre Irrtümer gestraft, aber hatte die fürchterliche Strafe nicht auch ihn betroffen? Hatte er keine Schuld? O ja, wie große, wie viele! Er hatte die deutliche Vision seines eignen Lebens, so jammervoll leer an Werken, so voll von Eitelkeit, das so wenig dem Glauben, den er bekannte, entsprochen hatte, daß es die Verantwortlichkeit für Luisas Irreligiosität auf ihn wälzte. Die Welt hielt ihn für gut wegen Eigenschaften, an denen er kein Verdienst trug, da er ja mit ihnen geboren war; um so schwerer fühlte er über sich Gottes Urteil, der ihm viel gegeben und keine Frucht von ihm geerntet hatte. Er kniete von neuem nieder und demütigte sich unter der Züchtigung in der verzweifelten Zerknirschung seines Herzens, in dem glühenden Wunsch, zu sühnen, sich zu reinigen, würdig zu werden, daß Gott ihn wieder mit Maria vereinige.

Er betete und weinte lange, lange, dann ging er auf die Terrasse hinaus. Über dem Galbiga und den Bergen am Comersee begann der Himmel hell zu werden. Der Tag kam herauf. Von dem dräuenden schwarzen Boglia wehte ein eisiger Nordostwind. Von nah und von fern, vom Ufer des Sees und aus dem höher gelegenen Tal begannen die Glocken zu läuten. Die Vorstellung, daß Maria und die Großmutter Teresa glücklich vereint wären, stieg unvermittelt hell und lieblich in Francos Herzen auf. Es schien ihm, als ob der Herr zu ihm spräche: Ich bereite dir Schmerzen, aber ich liebe dich; warte, vertraue, und du wirst wissen. Die Glocken läuteten von nah und von fern, vom Ufer des Sees und aus dem höher gelegenen Tal; heller und heller wurde der Himmel über dem Galbiga, nach dem Comersee zu, über dem steilen, schwarzen Profil des Pik di Cressogno; und die weite, ruhige Wasserfläche nahm nach Osten zu, zwischen den großen Schatten der Berge, die lichte Färbung einer Perle an. Die Blätter der Passionsblumen, vom Winde gestreift, bewegten sich leise über Francos Kopf, zitternd in der Erwartung des Lichtes, der unermeßlichen Glorie, die da im Osten heraufstieg, vom Klange der Glocken begrüßt, Wolken und Luft mit ihrer Herrlichkeit färbend.

Leben, leben, schaffen, leiden, anbeten, hinaufsteigen! So wollte es das Licht. Die Lebenden in seinen Armen mit sich forttragen, die Toten im Herzen mit sich forttragen, nach Turin zurückkehren, Italien dienen, für Italien sterben! Der neue Tag stieg schnell herauf. Italien, Italien, teure Mutter! Franco faltete die Hände in einem Überschwang von sehnender Begeisterung.

Auch Luisa hörte die Glocken. Sie hätte gewünscht, sie nicht zu hören, sie hätte gewünscht, daß es nie wieder Tag würde, daß nie die Stunde käme, in der sie Maria der Erde lassen mußte. Auf den Knien vor dem Körperchen ihres Kindes versprach sie ihm, jeden Tag, solange noch Leben in ihr sei, zu kommen, mit ihm zu sprechen, ihm Blumen zu bringen, ihm Gesellschaft zu leisten, morgens und abends. Dann setzte sie sich und gab sich den düsteren Gedanken hin, die sie dem Gatten nicht hatte gestehen wollen, und die im Laufe von vierundzwanzig Stunden in ihr gewachsen und gereift waren wie eine bösartige Ansteckung, die seit langer Zeit von ihr aufgenommen und lange Zeit untätig geblieben, in einem gegebenen Augenblick in den Blutlauf übergegangen war und mit blitzartiger Heftigkeit nun alles verheerte.

Alle ihre religiösen Ideen, ihr Glaube an den persönlichen Gott, ihre Zweifel an der Unsterblichkeit der Seele waren im Begriff, sich umzukehren. Sie war davon überzeugt, daß sie keine Schuld an Marias Tode habe. Wenn wirklich eine Vorsehung existierte, ein Wille, eine Macht, die Herrin über Menschen und Dinge war, so traf sie die ungeheuerliche Schuld. Diese Vorsehung hatte kalt den Besuch der Pasotti und ihr Geschenk bestimmt, hatte die Personen, die Maria in Abwesenheit der Mutter behüten konnten, von ihr entfernt, hatte sie ohne Verteidigung in ihren grausamen Hinterhalt gelockt und hatte sie getötet. Diese Macht hatte sie, die Mutter, gerade in dem Augenblick angehalten, als sie im Begriff stand, einen Akt der Gerechtigkeit zu vollziehen. Wie töricht war sie gewesen, an die göttliche Gerechtigkeit zu glauben! Es gab keine göttliche Gerechtigkeit, es gab nur den Altar im Bündnis mit dem Thron, den österreichischen Gott, den Bundesgenossen jeder Ungerechtigkeit und jeder Vergewaltigung, den Urheber von Schmerz und Leid, den Mörder der Unschuldigen und den Beschützer der Schlechten. Ach, wenn er existierte, so war es besser, daß Maria ganz hier in diesem Körper vor ihr war, daß kein Teil ihrer selbst überlebend in die Hände dieser ruchlosen Allmacht fiel!

Aber es blieb eine Möglichkeit, an der Existenz dieses schrecklichen Gottes zu zweifeln. Und wenn er nicht existierte, so könnte man wünschen, daß ein Teil des menschlichen Seins über das Grab hinaus fortlebe, nicht in wunderbarer, sondern in natürlicher Weise. Das war vielleicht leichter zu fassen als das Dasein eines unsichtbaren Tyrannen, eines Schöpfers, der gegen die eignen Geschöpfe wütete. Besser die Herrschaft der Natur ohne Gott, besser ein blind waltender Herr als ein feindlicher, absichtsvoll böser. Sicherlich brauchte man in keiner Weise weder in diesem Leben noch in einem zukünftigen, wenn es eines gab, an das leere Gespenst Gerechtigkeit mehr zu denken.

Das schwache Licht der Morgendämmerung mischte sich in ihre Gedanken wie in die Francos: feierlich und tröstend für ihn, haßerweckend für sie. Er, der Christ, dachte an eine Empörung des Zornes und an Waffen gegen seine Brüder in Christo, aus Liebe zu einem kleinen Punkt auf einem winzig kleinen Gestirn am Himmel; sie träumte eine ungeheure Auflehnung, eine Befreiung des Universums. Ihr Gedanke konnte großartiger erscheinen, ihr Intellekt stärker; aber er, der um so besser erkannt wird, je mehr menschliche Generationen zu Kultur und Wissenschaft hinaufsteigen, er, der er geschehen läßt, daß jede Generation ihn nach ihrem Ermessen ehrt, und der nach und nach die Ideale der Völker umwandelt und sie erhöht und sich dabei zur gegebenen Zeit, um die Erde zu gewinnen, auch vergänglicher und falscher Ideale bedient, er, der der Friede und das Leben ist und es duldet, der Gott der Heere genannt zu werden, er hatte das Zeichen seines Gerichts auf das Antlitz der Frau und auf das Antlitz des Mannes geprägt. Während die Morgendämmerung sich zu glühendem Morgenrot entzündete, begann Francos Stirn von einem inneren Licht zu strahlen, seine Augen brannten, während sie voll Tränen standen, von Lebenskraft; Luisas Stirn wurde immer dunkler, tiefe Nacht stieg auf im Blick ihrer erloschenen Augen.

*

Bei Sonnenaufgang wurde ein Boot an der Spitze der Caravina sichtbar. Es war der Advokat V., der auf Luisas Ruf aus Varenna kam.


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