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25.
Der Chinese

Wir vier standen auf dem Sattelplatz und sahen sehnsüchtig zu Rippling Ruby hinüber. Wie gern wären wir zu der Stute, an der wir alle, und besonders Peggy, so hingen, gegangen. Aber Lady Renardsmeres Verrücktheit hielt uns fern. Ihre neuen Pfleger, die Detektive, Lady Renardsmere und Medderfield umstanden sie. Lady Renardsmere sprach auf Medderfield ein und behielt dabei ihre Hand auf Rippling Rubys Hals. Ringsherum drängten sich Zuschauer, und viele in Rennkreisen wohlbekannte Persönlichkeiten, die den Favoriten gern in der Nähe gesehen hätten, was ihnen aber durch die Wärter, die einen Kreis um Rippling Ruby bildeten, verwehrt wurde. Gerüchte liefen bereits umher, und ich bemerkte manchen neugierigen Blick, der von Lady Renardsmere zu Peggy flog. Ein älterer Herr wandte sich plötzlich an Peggy.

»Dachte, Sie wären Lady Renardsmeres Trainer, Miß Manson?« sagte er. »Sind Sie nicht der Trainer dieser vollendeten Stute?«

»Ich war es bis gestern abend, Kapitän Marsham«, antwortete Peggy ruhig. »Lady Renardsmere hat sie jemand anders anvertraut.«

»Mein Gott! Das ist ja unerhört!« rief Marsham aus. »Habe so etwas in meinem ganzen Leben noch nicht gehört! Unbegreiflich!«

»Allerdings«, erwiderte Peggy lakonisch.

»Weiberlaune!« fuhr der alte Herr fort. »Sie soll überhaupt eine wunderliche Frau sein, nicht wahr? Aber jeder Eingeweihte weiß, daß alles Ihr Verdienst ist. Sie rechnen mit ihrem Sieg, nicht wahr?«

Peggy sah sich auf dem Sattelplatz um. Andere Pferde wurden herumgeführt – Jack Cade, Hedgesparrow, Flotsam, Roneo und einige Außenseiter. Menschen drängten sich um sie, Lauschten ihre Meinungen über sie aus und sprachen über die Chancen jedes einzelnen.

»Keins von den Pferden hier kann sie schlagen«, antwortete Peggy ruhig. »Noch nie ist ein Pferd mit so sicherer Aussicht auf Sieg im Derby gestartet, Kapitän Marsham. Ich würde jede Summe auf sie setzen.«

Sie wandte sich jetzt wieder an uns.

»Wir wollen uns so nahe wie nur irgend möglich am Ziel aufstellen«, sagte sie. »Ich kann das hier jetzt nicht mehr lange aushalten, ich will nur noch sehen, wie sie siegt, und dann gehe ich nach Hause.«

Peyton ging. mit Miß Hepple voraus, Peggy und ich folgten; als wir uns durch die Menge drängten, gab sie mir ihren Arm und flüsterte:

»Jim, ich bin fertig, das ist das Ende. Ich gebe meine Trainerlaufbahn auf, trainiere nie wieder ein Pferd. Schließlich, wie Mr. Marsham sagte, weiß jeder, daß Rippling Rubys Sieg mein Verdienst ist. Wenn … wenn sie siegt.«

»Sie wissen doch, Peggy, daß sie siegen wird«, sagte ich. »Jeder weiß es doch. Mein Gott! Das ist doch –«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte sie schnell. »Ich bin ganz niedergeschlagen. Ich habe das scheußliche Gefühl, daß etwas passieren wird.

»Nerven«, sagte ich. »Kein Wunder, der Auftritt gestern abend und heute früh, das hat Sie mitgenommen. Aber –«

»Sie trägt dies ekelhafte Ding«, unterbrach Peggy. »Jim, wenn – wenn der unheimliche Chinese hier ist und den Rubin sieht!«

In meiner Aufregung hatte ich den Chinesen vollkommen vergessen. Unwillkürlich sah ich mich um. Man konnte sich kaum denken, daß irgendein Orientale unter dieser vornehmen Gesellschaft unbemerkt bleiben konnte.

»Ich weiß nicht, was der Chinese hier tun könnte«, sagte ich. »Sie sahen doch, wie sorgfältig auf Rippling Ruby aufgepaßt wird. Und haben Sie denn nicht bemerkt, daß Jifferdene und seine Leute sich immer in der Nähe von Rippling Ruby und Lady Renardsmere aufhalten? Ich weiß gar nicht, wie der Chinese oder seine Helfershelfer – wenn er welche haben sollte – dem Pferd oder Lady Renardsmere was antun könnten.«

»Mir ist es vollkommen gleichgültig, ob Lady Renardsmere etwas zustößt«, sagte sie. »Warum hat sie nur diesen ekelhaften Stein gekauft! Irgendein Unglück hat sie sich selbst zuzuschreiben. Aber die Stute …«

»Was kann denn der geschehen?« unterbrach ich. »Nicht mal eine Fliege kann sich unbemerkt auf sie setzen, so scharf wird sie bewacht. In einigen Minuten wird sie schon am Start stehen. Wenn erst Medderfield im Sattel sitzt und losreitet, dann –«

»Ich wünschte nur, es wäre glücklich vorüber!« rief sie aus. »Ich bin besorgt, furchtbar besorgt.«

»Na, Peggy, alle die andern, die auf Rippling Ruby gesetzt haben, sind durchaus nicht besorgt«, sagte ich, um sie aufzumuntern. »Hören Sie mal hin.«

Wir konnten hier und da Bruchteile der Unterhaltungen auffangen. Der Ausgang des Derbys stand für jeden von vornherein fest, und jeder hatte seit Monaten schon hohe Summen auf Rippling Ruby gesetzt. Peyton verschaffte Peggy einen Platz neben Miß Hepple, gleich am Zaun, und wandte sich dann an mich.

»Jeder hier scheint zu denken, Rippling Ruby würde von Anfang an die Führung haben, und die anderen könnten überhaupt gar nicht mitkommen«, bemerkte er trocken. »Ich hörte sechs verschiedene Leute sagen, es gäbe nur ein Pferd, das in Betracht käme, und die anderen könnten ebensogut in den Ställen bleiben.«

»Ja«, sagte ich. »Aber ich wünschte, es wäre vorbei.«

»Nun«, bemerkte er, »ich sehe keine Gefahr mehr. Man braucht sie nur noch auf die Bahn zu führen und sie laufen zu lassen. Angenommen, Rippling Ruby siegt, was schreibt da die Sitte vor? Geht da der Besitzer auf die Bahn hinaus und führt sie herein?«

»Ja, er tut es«, sagte ich. »Es ist ein stolzer Augenblick für ihn.«

»Wird Lady Renardsmere das tun?« fragte er.

»So wie ich sie kenne, wird sie das auf jeden Fall tun.«

Er warf mir einen Blick zu und nahm mich etwas zur Seite.

»Das ist der gefährliche Augenblick!« sagte er. »Ich nehme an, alles wird sich um das Pferd und Lady Renardsmere drängen, und damit ist die Gelegenheit für den Chinesen gekommen.«

»Sie denken, er ist hier, Peggy?« sagte ich und sah mich um.

»Selbstverständlich«, sagte er bestimmt. »Er treibt sich hier irgendwo herum. Und sieht er den Rubin, dann wird er irgendwie etwas unternehmen.«

»Er kann machen, was er will, wenn das Rennen vorbei ist«, sagte ich. »Ich kann mir gar nicht denken, daß er vorher etwas beginnen kann.«

»Wie ich schon sagte, wird er dann erst handeln, wenn Lady Renardsmere Rippling Ruby hereinführt«, erklärte Peyton. »Ich sehe nicht ein, warum wir sie warnen sollten. Aber – die Pferde kommen!«

Die Pferde erschienen in der im Programm angegebenen Reihenfolge. Jack Cade, ein hoher, brauner Hengst, und Hedgesparrow, eine etwas leicht gebaute, zierliche Fuchsstute, sah ich mir flüchtig an, den anderen schenkte ich überhaupt keine Beachtung; das tat auch sonst niemand. Alle hatten nur Augen für Rippling Ruby, die grade im Schritt an der Tribüne vorbeiging. Sie wurde mit lautem Beifall von der Menschenmenge empfangen.

Wir vernahmen ringsherum Rufe der Bewunderung. Plötzlich hörte ich neben mir einen Mann ganz laut sagen:

»Was hat denn die Stute für ein grünes Band um den Hals, und was bedeutet das glitzernde Ding da in der Mitte? Was ist denn das für ein hirnverbrannter Unsinn?«

Ein anderer drehte sich etwas zu ihm und sah ihn ruhig an.

»Talisman«, sagte er trocken. »Haben Sie nie von Lady Renardsmeres abergläubischer Vorliebe für Edelsteine gehört? So will sie sich scheinbar das Glück sichern.«

»Wahrscheinlicher wird es ihr Unglück bringen«, erklärte der andere ungehalten. »Lächerlich, ein Pferd so zu behängen. Alberner Blödsinn, so ein Talisman! Hab' noch nie in all den Jahren ein Rennpferd mit so einem Ding gesehen. Bin jahrelang immer hier gewesen!«

»Ach, das wird weder so noch so etwas ausmachen!« sagte der zweite kurz. »Sie siegt ja todsicher.«

Die Pferde gingen einzeln an den Tribünen vorbei und standen endlich am Startpfosten. Wir konnten die bunten Kappen der Jockeys sehen. Peyton, der einen Kopf größer als ich war, drehte sich um und fragte mich:

»Wie können wir nur unsere Stute erkennen, wenn die hier vorbeigaloppieren? Selbst durch den Feldstecher ist es schwer, die einzelnen Pferde zu unterscheiden.«

»Passen Sie nur auf die hellgrüne Kappe auf«, sagte ich, »Lady Renardsmeres Farben sind hellgrüne Kappe und Rock mit einem orangefarbenen Band von der rechten Schulter bis zur linken Hüfte. Passen Sie nur immer auf die Kappe auf, ich sehe keine andere von so heller Farbe. Verfolgen Sie –«

»Start! Start!«

Bei diesem plötzlichen, mächtigen Aufschrei der Menge fuhr Peyton zusammen, und sein Gesicht rötete sich vor Eifer und Aufregung. Die Pferde stürmten vorwärts, und Peyton verfolgte mit dem Feldstecher immer an den Augen die bunten Kappen, und rief uns dann und wann ganz aufgeregt etwas zu.

»Ich sehe die helle Kappe – sie ist ganz in der Mitte! – Eine dunkle Kappe ist voraus – weit voraus. Wer ist das?« fragte er.

»Keine Ahnung!« sagte ich. »Ganz egal, wer jetzt führt. Es kommt nur darauf an, wer nachher die Führung hat! Sehen Sie genau hin, wenn sie dort einbiegen!«

Dann sah ich Peggy an. Sie stand fest an den Zaun gepreßt, fast genau dem Ziel gegenüber, und starrte gradeaus. Ich schob meine Hand durch ihren Arm – die Pferde interessierten mich im Augenblick nicht. Einige Minuten vergingen –

»Kann sie jetzt kaum sehen«, murmelte Peyton. »Die helle Kappe ist noch nicht vorgerückt –«

Die Menge links von uns rief und schrie, als die Pferde im geschlossenen Feld am Tettenham Corner einbogen und in volle Sicht kamen. Das Rufen pflanzte sich fort und wurde immer stärker, und für einen Augenblick vergaß ich Peggy, ihr blasses Gesicht und die starrenden Augen.

»Passen Sie auf, Peyton! Sehen Sie genau hin!« rief ich.

»Sie sind nur eine Masse – ganz eng zusammen! Die helle Kappe stürmt vor – sie stürmt vor – sie ist jetzt vorn!«

Rippling Ruby führte, die Menge sah es, und das Rufen wurde lauter und lauter. Jemand neben Peyton ließ den Feldstecher fallen und lachte.

»Sie ist Längen voraus! Sie können sie nicht mehr einholen! Sie macht das Rennen – sie macht es!«

Die Menge schrie, brüllte und lachte vor Begeisterung. Die Logen, die Tribünen, die Stehplätze, alle jubelten. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen. Rippling Ruby war, soweit ich es beurteilen konnte, sechs Längen vor Jack Cade voraus und schoß wie der Blitz auf das Ziel zu. Das Rufen und Schreien wurde mit jeder Sekunde lauter – die Menge raste.

»Peggy!« rief ich, »Peggy! – sie hat's geschafft!«

Da, grade als ich das letzte Wort frohlockend rief, geschah das Entsetzliche. Rippling Ruby war dreißig Meter vom Ziel und Längen vor Jack Cade voraus. Dieser konnte sie nicht mehr einholen, ihm folgten in kurzem Abstand Hedgesparrow, Flotsam und einige Außenseiter, die anderen Pferde waren weit zurückgeblieben.

Wie das Unglaubliche geschah, hat man nie genau erfahren können, jedenfalls wurde plötzlich, aus der dichten Menschenmenge ein ballähnlicher Gegenstand Rippling Ruby vor die Beine geschleudert. Etwas blitzte auf, dann hörte man eine Explosion, und Rippling Ruby brach zusammen, zuckte noch etwas und lag dann regungslos da. Medderfield wurde aus dem Sattel geworfen, versuchte sich aufzurichten, und fiel ohnmächtig hin. Jack Cade stürzte über Rippling Ruby, und über ihn Hedgesparrow; Flotsam konnte ausweichen und ging durchs Ziel.

Das Nächste, an das ich mich erinnern kann, ist, daß Peyton und ich uns durch die brüllende Menge einen Weg zur Stute bahnten. Die Menge stürmte auf die Bahn, die Zuschauer, wir und die Polizei wurden durcheinander gewirbelt. Einige Minuten lang herrschte die entsetzlichste Verwirrung. Ich sah Jifferdene, Camperdale, Bradgett, die Stallburschen und die Privatdetektive verzweifelt kämpfen, um zu Rippling Ruby zu gelangen, oder um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Um uns herum fluchten einige, andere waren vor Wut und Entsetzen sprachlos, andere hielten sich blutige Taschentücher ans Gesicht, hier und da lag einer wie tot, und an einigen Stellen liefen verschiedene mit vorgestreckten Armen herum, als ob sie den Missetäter fressen wollten. Endlich hatten wir uns bis zu Rippling Ruby durchgekämpft. Sie war tot. Der hellgrüne Gürtel mit dem in Gold eingefaßten Rubin war verschwunden. Peyton legte seine zitternde Hand auf meinen Arm.

»Der Chinese hat gewonnen, Cranage«, flüsterte er.

Ich verstand und nickte ihm zu. Ich dachte an eine heilige Buddhastatue irgendwo in einem Tempel in Birma, und an diesen rotfunkelnden Rubin, der einst das Auge des Buddha gewesen und durch Verbrecher geraubt worden war. Ja, der Chinese hatte gesiegt – und der Rubin, um den soviel Blut geflossen war, kehrte wieder in das ferne Heiligtum im Osten zurück.

Langsam, Schritt für Schritt, kämpfte ich mich zu Peggy zurück. Sie hatte bereits gehört, was geschehen war, und ohne ein Wort zu sagen, nahm ich sie am Arm und führte sie über die Rennbahn nach einer ruhigen Stelle der nahegelegenen Anlagen und einen schattigen, unbegangenen Weg entlang. Dann legte ich meinen Arm um ihre Schulter. Bei dieser Berührung brach sie in Tränen aus – wir küßten uns zum erstenmal.

Ende.

 


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