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6.
Die drei Unbekannten

Die Stellung, die ich so unvermittelt durch eine Laune des Schicksals erhalten hatte, schien auf den ersten Blick beneidenswert zu sein. Es sah aus, als ob ich von nun an wie der Herrgott in Frankreich leben sollte. Nachdem mich Lady Renardsmere mit einem Gehalt, dessen Höhe sie selbst bestimmt hatte, und der das weit übertraf, was ich eigentlich von ihr hatte fordern wollen, engagiert hatte, wies sie mir zwei Zimmer zu und stellte einen ihrer zahlreichen Dienstboten in meinen persönlichen Dienst. Außerdem gab sie mir zu verstehen, daß, sobald meine Tagesarbeit beendet sei, ich tun und lassen könnte, was ich wollte.

Ich holte meine Sachen von London und richtete mich ein. Das Nächste war nun, herauszubekommen, was Lady Renardsmere von ihrem Privatsekretär verlangte. Das war schnell herausgefunden. Lady Renardsmere hatte zwei ausgesprochene Abneigungen. Sie haßte, Briefe zu schreiben und Bücher zu führen. Aber merkwürdigerweise war sie eine äußerst gewissenhafte Korrespondentin, jeder Brief mußte am selben Tag beantwortet werden, und außerdem sah sie peinlich darauf, daß jeder ausgegebene Pfennig eingetragen wurde.

Ich hatte also jeden Brief, auch die wenigen persönlichen, zu beantworten, und außerdem Buch zu führen. Während der ganzen Zeit, die ich bei ihr war, habe ich nie gesehn, daß sie eine Feder in die Hand nahm – außer, wenn sie einen Scheck unterschreiben mußte. Es war gut, daß sie selber nie einen Brief schrieb, denn eine schlimmere Handschrift habe ich nie in meinem Leben gesehen. Sie benutzte immer einen fein gespitzten Gänsekiel, wenn sie einen Scheck unterschrieb. Ihre Unterschrift nahm die ganze untere Hälfte ein und sah aus, als sei sie mit irgendeinem Holzstück geschrieben worden.

Sie war eine merkwürdige Frau! Verschwenderisch und sorglos, wenn es sich um Tausende von Pfund handelte, genau und geizig im höchsten Grade, wenn es sich darum handelte, einen Penny auszugeben. Ich bemerkte bei manchen Gelegenheiten, wie sie mit dem Gelde um sich warf; aber es verging keine Woche ohne einen fürchterlichen Auftritt, wenn das Fleisch fünf Pfennige im Preis gestiegen war, oder wenn das Pfund Lachs von 2,50 auf 3 Schilling erhöht wurde. Bärbeißig, mehr männlich als weiblich, zog diese einst so große Schauspielerin die schwere körperliche Arbeit in ihren Gärten Büchern oder Musik vor. Sie war ein ausgemachter Sonderling, aber, wie schon Peggy Manson sagte, sehr gütig, und es gab wohl keinen Menschen im Dorf, dem sie nicht schon aus der Not geholfen hatte.

Ihre Dienstboten – meiner Meinung nach hatte sie viel zu viele – fürchteten und vergötterten sie. Auch hatte ich sehr bald heraus, daß man nie sicher sein konnte, was Lady Renardsmere im nächsten Augenblick tun würde. Es war durchaus möglich, daß sie ganz unvermittelt in einem ihrer wundervollen Automobile – in der Garage standen mindestens sechs – nach London fuhr, und ebensogut konnte sie zu irgendeiner Nachtstunde wiederkommen, und wehe dem Koch – er war ein Franzose und sah ewig ängstlich und besorgt aus – wenn er ihr nicht um zwei Uhr nachts ein Abendessen servieren konnte. Unbedingt eine merkwürdige Frau! Man konnte sehr gut mit ihr auskommen, wenn man es verstand, ihre Wünsche ihr von den Augen abzulesen, und ihre Befehle prompt und ohne viel zu fragen ausführte.

Dieses hatte ich schon alles in den ersten vierzehn Tagen meines Aufenthalts in Schloß Renardsmere heraus. Und während dieser Zeit hörte ich auch nichts von der Geschichte in Portsmouth. Ich las auch nichts darüber in den Portsmouther Tageszeitungen, die ich mir eigens deswegen kommen ließ. Selbstverständlich hörte ich auch nichts über Holliment oder Quartervayne, und niemand in Renardsmere, nicht einmal der weise Dorfpolizist, hörte oder entdeckte etwas, das irgendwie mit dem zertrümmerten Automobil zusammenhängen konnte. Der Tischler im Dorf sagte, es wäre eine Schande, wertvolles Material so herumliegen zu sehen, und nahm sich alles, was nur einigermaßen von Wert war. Er bewahrte es in einem Schuppen auf und sagte, er würde es, falls niemand es beanspruchen würde, später irgendwie verwerten. Meiner Meinung nach hätte er es ruhig gleich verwerten können; Holliment wollte sicherlich mit dem fingierten Autounfall jede Spur der Portsmouther Affäre für immer verwischen. Ich dachte mir, er hätte sich auf- und davongemacht, und nie wieder würde ich etwas von ihm hören.

Aber am Ende der zweiten Woche hob sich der Vorhang über den zweiten Akt dieses Dramas.

Der Wirt vom Gasthof Renardsmere hieß Holroyd – Ben Holroyd. Er stammte aus Yorkshire, war als junger Bursche als Stallknecht oder Kutscher im Süden Englands in Stellung gewesen und hatte sich in seinen verschiedenen Stellungen ein kleines Vermögen erspart. Nachdem er einige Jahre bei Sir William Renardsmere in Dienst gewesen war, gab er diese Stellung auf und übernahm das Dorfwirtshaus. Er war ein kluger, gerissener Mann, der von seiner Frau im Geschäft gut unterstützt wurde. Diese war einige Zeitlang Köchin in einem der benachbarten Landsitze gewesen. Er war nicht nur Wirt, sondern handelte auch mit Stroh, Heu und Hafer. Lady Renardsmere bezog von ihm größere Mengen, und es gehörte zu meinen Obliegenheiten, jeden Sonnabend zu ihm zu gehen und die wöchentliche Rechnung zu bezahlen. Am dritten Sonnabend, nachdem ich nach Renardsmere gekommen war und mich gerade wegen der wöchentlichen Abrechnung im Gasthof aufhielt, gab mir Holroyd, nachdem ich das Geschäftliche mit ihm erledigt hatte, durch einen Wink zu verstehen, er hätte mir etwas Persönliches mitzuteilen.

»Mr. Cranage!« sagte er und beugte sich über den Schanktisch. »Ich wollte Ihnen gern etwas sagen, das aber unter uns bleiben muß.«

»Ja?« gab ich zurück. »Was denn?«

Es war niemand außer uns in dem Schankraum, da es noch früh am Morgen war, aber trotzdem sprach er leiser, er flüsterte fast. Zur selben Zeit sah er zur Tür, genau wie jemand, der befürchtet, belauscht zu werden.

»Gestern war hier ein Mann«, begann er, »der Sie kannte.«

Beim letzten Wort stockte er plötzlich und sah mich geheimnisvoll an. Ich tat so, als ob mich die ganze Sache nicht interessierte, obwohl ich genau wußte, daß irgend etwas Ungewöhnliches jetzt folgen würde.

»Viele Leute kennen mich, Holroyd«, antwortete ich, »und ich kenne auch viele. Wer war dieser Mann?«

»Es war ein Mann, den sie Jim nennen«, antwortete er und sah mich noch schärfer an. »Er ist Kellner im Gasthof ›Admiral Hawke‹, irgendwo in Portsmouth.«

»So?« sagte ich. »So, er kennt mich?«

»Ich werde Ihnen alles sagen«, antwortete er. »Die Sache kam so. Dieser Jim hat einen Verwandten hier im Dorf, mit dem er, wie ich erfuhr, den Tag verbringen wollte. Er kam so um die Mittagszeit hier herein, um einen Schoppen zu trinken, und wir kamen miteinander ins Gespräch. Wir standen da am Fenster und sahen grade auf die Straße, als Sie vorbeigingen. Er sah Sie und fuhr etwas zurück. ›Hallo!« sagte er, ›wer ist der junge Herr, der da vorbeigeht?‹ ›Na‹, sagte ich, ›kennen Sie ihn etwa?‹ ›Ich kenne ihn von Ansehen gut genug‹, sagte er, ›hab' ihn in Portsmouth gesehn. Aber ich weiß nicht, wie er heißt, noch wer er ist? ›Nun,‹ sagte ich, ›das ist Mr. Cranage, der Privatsekretär von Lady Renardsmere, die in dem Schloß wohnt.‹ ›Oh!‹ sagte er, ›tatsächlich? Er lebt hier?‹ ›Er ist noch nicht lange hier‹, sagte ich. Dann schien er in Gedanken versunken zu sein. Schließlich sagte er: ›Das ist aber komisch!‹ ›Was ist komisch?‹ fragte ich. ›Ihn hier zu sehn‹, sagte er. ›Haben Sie etwas dagegen, daß er hier ist‹, sagte ich. ›I bewahre‹, sagte er, ›geht mich auch gar nichts an. Aber eins will ich Ihnen ganz unter uns sagen, ich kenne Leute in Portsmouth, die was drum geben würden, zu wissen, wo er steckt.‹ ›Oh‹, sagte ich, ›warum?‹ ›Ihn was zu fragen‹, sagte er. ›Können Sie ihn nicht fragen?‹ sagte ich. ›Nein‹, antwortete er. Und hierauf trank er seinen Schoppen aus und ging weg. Er ist nicht wiedergekommen, Mr. Cranage, und ich dachte mir, ich erzähl's dem Herrn mal.«

»Wirklich sehr nett von Ihnen, Holroyd«, antwortete ich, »und zweifellos dachten Sie, als der Kellner Jim gestern abend nach Portsmouth zurückkehrte, daß er schnurstracks zu den Leuten gehen würde, die mich so gern ausfragen würden, nicht wahr?«

»Ja, so hab' ich's mir gedacht«, gab er zur Antwort. »Und ich dachte mir, ich erzähl' es Ihnen mal. Es können Leute sein, die Sie nicht zu sehen wünschen – auf jeden Fall nicht oben im Schloß.«

»Das ist mir vollkommen gleichgültig, Holroyd, ob ich die Leute – ich habe keinen blassen Schimmer, wer sie sein mögen – in Schloß Renardsmere oder in Ihrem Gastzimmer oder auf der Straße begegne«, antwortete ich. »Sollten sich irgendwelche Fremde nach mir erkundigen, schicken Sie sie ruhig zu mir.«

»So, dann kennen Sie diesen Jim?« fragte er neugierig.

»Er brachte mir mal mein Mittagessen – in einem Geschäft in Portsmouth«, antwortete ich ihm, da ich es für besser hielt, mit dem Mann offen zu reden. »Ich kann mir schon denken, was er will, aber warum er sich mit Ihnen darüber unterhalten hat, ist mir unverständlich. Aber wie ich Ihnen schon sagte, sollte jemand nach mir fragen, so schicken Sie ihn zu mir.«

Daraufhin ließ ich ihn stehen und ging nachdenklich fort. Ich überlegte mir alles und kam zu dieser Schlußfolgerung: Ohne Zweifel war Holliment nicht in seinen Laden zurückgekehrt. Die Polizei mußte den Einbruch in seinen Laden entdeckt haben; die zertrümmerte Tür und die zusammengestürzte Treppe ließen ja gar keinen Zweifel darüber, daß etwas vorgefallen war. Sie hatte wahrscheinlich Nachforschungen angestellt, und zweifellos hatte der Kellner Jim von dem Fremden berichtet, den er in dem Laden angetroffen hatte. Diesen wollte sie nun ausfindig machen und ihn über seine Beziehungen zu Holliment ausfragen. Nun hatte Jim ganz durch Zufall meinen Aufenthaltsort entdeckt, selbstverständlich würde er das nun weitermelden. Nachdem ich alles in Betracht gezogen hatte, kam ich zu dem Schluß, daß ich nun jeden Moment die Polizei erwarten könnte.

Das Wochenende ging vorüber, und nichts geschah. Dann, am Montag morgen, fiel es Lady Renardsmere ganz plötzlich ein, nach London zu fahren.

Bevor sie abfuhr, entsann sie sich einer Anordnung, die sie Peggy Manson wegen Rippling Ruby hatte geben wollen, und bat mich, diese für sie auszurichten. Um die Mittagszeit, als ich die Korrespondenz erledigt hatte, ging ich durch das Tal nach Manson Lodge. Ich traf Peggy bei den Ställen, wo gerade einige der Pferde im Schritt bewegt wurden. Wir sahen einige Zeit zu, und als Bradgett sie wieder in die Ställe zurückführte, lud mich Peggy zum Mittagessen ein. Als wir langsam auf ihr Haus zugingen und uns über Lady Renardsmere und ihre Eigentümlichkeiten unterhielten, bogen plötzlich um die Ecke einer Baumgruppe, die zwischen uns und dem Dorf lag, drei uns unbekannte Männer, die, nachdem sie mich gesehen hatten, sofort auf mich zukamen.

Ich hatte Peggy gestern nach der Kirche gesprochen und ihr von meinem Gespräch mit Holroyd erzählt, und sie war auch der Meinung gewesen, daß ich über kurz oder lang einen Besuch der Polizei erwarten könnte. Und da war sie! Peggy wandte sich mir schnell zu und sagte ganz kurz: »Kriminalpolizei!«

Zwei von den drei Männern mußten Kriminalpolizisten sein, aber nur weil wir auf sie vorbereitet waren, erkannten wir sie als solche. Lediglich nach ihrem Äußeren beurteilt, hätten sie ebensogut alles andere sein können, z. B. Handlungsreisende, höchst ehrenwerte Kaufleute, Soldaten oder Matrosen in Zivil, sie stellten keinen ausgesprochenen Typus dar. Einer von ihnen, ein junger Mensch in einen grauen Tweed-Anzug gekleidet, der einen Spazierstock schwang, sah mehr nach einem professionellen Kricketspieler aus. Der andere, ein Mann im mittleren Lebensalter, der einen dunklen Mantel und einen Zylinder trug, sah schon mehr nach einem Detektiv aus, aber man hätte beide für Müßiggänger halten können, die in der Gegend spazieren gingen. Sie sahen harmlos genug aus, als sie auf uns zukamen, aber – – –

»Todsicher Kriminalpolizei!« wiederholte Peggy. »Seien Sie vorsichtig! Nanu, der Dritte!«

Jetzt, da sie schon näher waren, sah ich mir den Dritten an. Der Erste und der Zweite waren unverkennbar Engländer, aber dieser war ein Chinese. Er schien den besseren Kreisen anzugehören, denn er war sorgfältig nach der letzten Mode gekleidet; sein Anzug mußte bei einem erstklassigen Schneider gemacht worden sein. Alles an ihm, vom Zylinder bis zu den Schuhen, war von gediegener Vornehmheit, sogar der Regenschirm und auch seine Handschuhe machten denselben Eindruck. Er trug eine Brille, und als die drei näher herankamen, sah ich ihn mir genauer an. Eins war ganz sicher, das war nicht das Gesicht, das ich durch Holliments Ladenfenster gesehen hatte. Die drei nahmen ihren Hut ab und machten eine höfliche Verbeugung, und der Jüngste, der mich fragend ansah, lächelte.

»Habe ich das Vergnügen, mit Mr. Cranage zu sprechen?« fragte er. »Schön – könnten wir von Ihnen einige Auskünfte erhalten? Wir sind deswegen eigens von Portsmouth hergekommen.«

»Wenn Sie mir sagen wollen, wer Sie sind, und warum Sie mit mir sprechen wollen, selbstverständlich«, antwortete ich.

»Ich heiße Spiller, Detektiv Spiller von der Portsmouther Polizei. Dies ist Inspektor Jifferdene von Scotland Yard. Ich darf annehmen, Sie haben von ihm gehört, Mr. Cranage. Und dieser Herr ist Mr. Shen, Attaché der chinesischen Gesandtschaft in London.«

»Nun, meine Herren«, sagte ich, »wünschen Sie mich privat zu sprechen, oder – – –«

»Die Dame kann ruhig mitanhören, was wir zu fragen haben, Mr. Cranage«, antwortete Spiller, und verbeugte sich höflich vor Peggy. »Sie kann alles mitanhören – wenn sie Lust dazu hat.«

»Mr. Cranage«, fügte Jifferdene hinzu und sah uns beide an, »wir wünschen nur eine Auskunft über eine gewisse Angelegenheit an einem gewissen Tag in Portsmouth.«

»Ja?« sagte ich. »Nun?«

Die beiden Detektive sahen sich an, und Jifferdene nickte Spiller zu.

»Es handelt sich um folgendes, Mr. Cranage«, begann Spiller. »Sie brauchen sich nicht im geringsten über unser Hierherkommen zu beunruhigen, auch nicht über die Fragen, die wir an Sie zu stellen wünschen, wir sind nicht hinter Ihnen her, außerdem wissen wir nichts Nachteiliges über Sie. Wir möchten nur eine Auskunft von Ihnen haben, und ich an Ihrer Stelle würde sie geben. Vor etwa vierzehn Tagen verbrachten Sie den größten Teil des Tages in dem Laden von Holliment, einem Altwaren- und Kohlenhändler in Portsmouth?«

»Ja, das tat ich«, sagte ich.

»Der Kellner des Gasthofes ›Admiral Hawke‹ brachte Ihnen Ihr Essen?« sagte er.

»Ja, das tat er«, antwortete ich.

»Und auch Ihren Tee, nicht wahr? Nun, Mr. Cranage, würden Sie uns bitte erzählen, wie Sie überhaupt dazu kamen, dort zu sein und dann, was sich alles zugetragen hat, während Sie dort waren?«

Ich sah Peggy an. Sie verstand meinen Blick und antwortete:

»Ich würde ihnen alles sagen.«

»Das Beste, was Sie ihm raten konnten, gnädiges Fräulein!« rief Spiller aus. »Mr. Cranage könnte nichts Vernünftigeres tun.«

»Es nimmt immerhin einige Zeit«, bemerkte ich. »Ziemlich viel passierte. Immerhin – – –«

Wir standen alle auf dem Rasen vor den Ställen, und weit hinten hob sich Portsmouth durch einen Nebelschleier ab. Ich erzählte den dreien alles, was vorgefallen war, von dem Augenblick an, da ich Quartervayne auf dem Pier traf, bis zu dem Moment, wo mich Miß Manson mit ihrer Reitgerte aufweckte. Die beiden Detektive machten sich ab und zu Notizen, Mr. Shen hörte mit wahrhaft undurchdringlichem Gesichtsausdruck zu. Ab und zu sah ich zu ihm hinüber, sein Gesicht blieb ernst und höflich, und man konnte seinen Gedanken nicht erraten. Endlich hatte ich alles erzählt, und die beiden Detektive steckten ihre Notizbücher wieder ein.

»Und Sie haben von Holliment niemals eine Erklärung für all diese Begebenheiten bekommen, Mr. Cranage?« fragte Spiller.

»Eine Erklärung, nein«, entgegnete ich.

»Aber er schien doch zu Tode erschrocken zu sein?«

»Ja, er schlotterte vor Furcht.«

»Er schien sich zu fürchten, daß der Chinese, dessen Gesicht Sie am Fenster sahen, hereinkäme?«

»Ja, das nehme ich an. Aber er hatte schon vorher Angst. Er war schon zu Tode erschrocken, als er Quartervaynes Zettel bekam.«

»Nun, Mr. Cranage, Sie sind mit ihm ziemlich lange zusammengewesen, hat er denn nie eine Bemerkung fallen lassen, aus der Sie entnehmen konnten, warum er solche Angst hatte?«

»Nein, niemals. Ich dachte mir, daß der Chinese, der durchs Fenster geblickt hatte, aus irgendeinem Grunde hinter ihm und Quartervayne her sei. Aber warum, hat er mir nicht erzählt.«

Die zwei Detektive flüsterten etwas miteinander, und dann sprach Jifferdene mit Shen. Daraufhin wandte sich dieser an mich.

»Sie sind ganz sicher, daß das Gesicht, das Sie durch das Fenster sahen, das eines Chinesen war?« fragte er mit leiser Stimme in tadellosem Englisch.

»Ja, ganz bestimmt«, entgegnete ich.

»Die Merkmale der chinesischen Rasse sind Ihnen bekannt?« fragte er lächelnd.

»Ja«, antwortete ich. »Ich habe viele Ihrer Landsleute in London – im Westend- und im Limehousebezirk – gesehen. Sicherlich war er ein Chinese. Außerdem bezeichnete ihn Holliment in unserem Gespräch immer als Chinesen.«

»Glauben Sie, daß Sie ihn wiedererkennen könnten?« fragte er.

»Das möchte ich nicht behaupten, möchte es sogar bezweifeln. Sie dürfen nicht vergessen, daß ich ihn nur einen Augenblick durchs Fenster sah.«

»Und dann doch noch, als er und die anderen in den Laden einbrachen«, bemerkte er.

»Ja«, gab ich zu. »Aber das Licht, das von der Straßenlaterne hereinfiel, war sehr schwach. Ich sah nur, daß es ein Chinese war, der mit anderen, die aber keine Chinesen waren, eingedrungen war.«

»Holliment«, fuhr er fort, »hat nie den Chinesen beim Namen genannt?«

»Nein, das tat er nicht. Ich habe nie einen Namen gehört.«

Mr. Shen verbeugte sich dankend, und ich wandte mich an die beiden anderen. Sie stellten noch ein paar Fragen wegen des zertrümmerten Automobils, dann wollten sie noch wissen, ob vielleicht Holliment und Quartervayne in der Umgebung an dem Morgen gesehen worden wären. Nachdem ich ihnen geantwortet hatte, verabschiedeten sie sich.

»Das macht die ganze Sache nur noch geheimnisvoller«, sagte Peggy, als wir ihrem Haus zugingen.

»Sicherlich steckt etwas ganz Wichtiges dahinter. Chinesische Gesandtschaft! Warum sollte einer ihrer Beamten hierher kommen? Sieht doch nach einem Staatsgeheimnis aus.«

»Wir werden noch mehr zu hören bekommen«, sagte ich.

Aber ich hörte tagelang nichts mehr darüber; alles im Schloß Renardsmere ging ruhig seinen gewöhnlichen Gang. Dann, eines Morgens, als ich grabe die Korrespondenz erledigte, brachte mir ein Diener die Visitenkarte eines Mr. Percy Neamore.

»Der Herr wartet in der Halle und möchte gern Ihre Ladyschaft in einer höchst wichtigen Angelegenheit sprechen.«

Es gehörte zu meinen Pflichten, Besucher dieser Art zuerst zu empfangen. Ich nahm die Karte und ging in die Halle. Dort stand ein tadellos angezogener, sehr selbstsicher auftretender junger Mann, der sich neugierig umsah.


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