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7.
Der Scheck über 10 000 Pfund

Die Haustür stand offen, und so sah ich sofort, wie Percy Neamore es fertiggebracht hatte, zu so früher Morgenstunde in Schloß Renardsmere zu erscheinen: Vor der Freitreppe stand ein Wagen. Ich kannte ihn gut, denn es war der einzige, den man an der uns nächstliegenden Bahnstation mieten konnte. Also mußte unser Besucher den ersten Frühzug von London genommen haben, und dies ließ darauf schließen, daß der Grund seines Besuchs wirklich dringend war. Ich sah ihn mir genau an, als ich durch die Halle auf ihn zuging. Er war, wie ich schon gesagt hatte, tadellos angezogen – vielleicht ein bißchen zu modisch – und trug eine selbstsichere Miene zur Schau. Ich hatte das Gefühl, er habe mit Geld oder Diamanten zu tun. Er verbeugte sich und lächelte höflich, als ich näherkam.

»Sie wünschten Lady Renardsmere persönlich zu sprechen?« fragte ich und warf einen Blick auf die Visitenkarte. Er verbeugte sich wiederum und lächelte gewinnend.

»In einer geschäftlichen Angelegenheit«, gab er zur Antwort.

»Lady Renardsmere beabsichtigt, in einer halben Stunde nach London zu fahren«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob sie heute morgen jemanden empfangen wird. Gewöhnlich empfängt sie in geschäftlicher Angelegenheit niemand ohne vorherige Anmeldung. Ich bin ihr Privatsekretär. Können Sie mir nicht sagen, um was es sich handelt?«

Er lächelte wiederum und schüttelte den Kopf.

»Es tut mir leid«, antwortete er, »aber die Angelegenheit betrifft nur Lady Renardsmere.«

»Kennt sie Sie?« fragte ich.

»Nein«, sagte er nach kurzem Nachdenken. »Aber würden Sie mir, bitte, meine Visitenkarte einen Augenblick geben?«

Ich gab sie ihm, und er zog einen goldenen Bleistift heraus und schrieb etwas unter seinen Namen.

»Wenn Lady Renardsmere das sieht«, sagte er bestimmt, »wird sie schon wissen, um was sich's handelt.«

Daraufhin öffnete ich die Tür eines Wohnzimmers und bat ihn, Platz zu nehmen. Ich suchte Lady Renardsmere auf. Sie beendete grade ihr Frühstück und war bereits reisefertig angezogen. Ich gab ihr die Karte und erklärte, der Betreffende hoffte, empfangen zu werden. Ich fügte noch hinzu, daß er mir nicht sagen wollte, um was es sich handle.

»Neamore?« sagte sie, nachdem sie einen Blick auf die Karte geworfen hatte, »kenne ihn nicht.«

Dann sah sie die in Bleistift geschriebenen Worte, die ich gar nicht beachtet hatte.

»Oh!« sagte sie mit veränderter Stimme. »Führen Sie ihn in mein Büro, Cranage.«

Das Zimmer, das Lady Renardsmere ihr Büro nannte, war ein kleines Zimmer, das an die Halle angrenzte. Es wirkte nicht wie das Boudoir einer Dame, sondern glich viel eher einer Gerätekammer. Denn hier bewahrte sie ihre Gartengeräte, ihre Gartenkleider und Schuhe, und auch ihre Jagdflinten und Angelruten auf. In den Bücherschränken standen nur Werke über Pferderennen und Pferdezucht. Der große Schreibtisch war mit Briefen und Dokumenten vollgepfropft, die sich hauptsächlich auf ihren Rennstall bezogen. In diesem Zimmer, wo ich mich jeden Morgen zu melden hatte, erledigte sie alle ihre geschäftlichen Angelegenheiten. Ich führte nun Percy Neamore hier herein, suchte aus dem ganzen Wirrwarr einen Stuhl für ihn heraus und bat ihn zu warten. Einige Minuten später konnte ich durch die offene Tür meines Arbeitszimmers sehen, wie Lady Renardsmere eintrat. Was sich nun in der nächsten halben Stunde zutrug, war wirklich für Schloß Renardsmere ungewöhnlich. Die Unterredung dauerte etwa zehn Minuten, dann erschien Neamore und sah äußerst zufrieden mit sich aus. Er ging zu seinem Wagen und bezahlte den Kutscher, der nun sofort abfuhr, dann ging Neamore wieder zu Lady Renardsmere zurück, und beide schlossen sich für die nächste Viertelstunde ein, dann öffnete sich die Tür, und Lady Renardsmere kam in mein Büro.

»Cranage«, sagte sie, »geben Sie mir mein Scheckbuch Konto A. Ich brauche es vielleicht in London.«

Ich hatte ihre sämtlichen Scheckbücher in Verwahrung. Sie besaß mehrere, je eins für ihre verschiedenen Konten. Sie verlangte jetzt das Scheckbuch für ihr Privatkonto. Ich nahm es aus dem Safe und gab es ihr; sie steckte es in ihre Handtasche und sagte nichts weiter als: »Ich werde wohl im Laufe des Abends zurück sein.« Hierauf ging sie wieder zu Neamore zurück. Zehn Minuten später fuhr ihr Wagen vor, und gleich darauf erschien sie mit Percy Neamore, und beide gingen die Freitreppe hinunter. Da ich sie noch etwas zu fragen hatte, bevor sie abfuhr, ging ich auch hinaus. Zu meiner größten Überraschung sah ich, daß Neamore bereits im Wagen saß und es sich in einer der gutgepolsterten Ecken bequem gemacht hatte. Lady Renardsmere stand noch auf der Freitreppe und gab dem Chauffeur ihre Befehle.

»Sie fahren gleich beim ›Ritz‹ vor, Walker. Dieser Herr und ich werden dort zu Mittag essen. Ich will Punkt ein Uhr da sein. Dann bringen Sie den Wagen nach Park Lane; ich werde Sie später anrufen, wenn ich Sie haben will.«

Einen Augenblick später fuhr der Wagen ab, und ich ging vollkommen verwundert ins Haus zurück. Wer in aller Welt war nur dieser Percy Neamore, daß Lady Renardsmere mit ihm nach London fuhr und sogar mit ihm im ›Ritz‹ zu Mittag essen wollte? Noch vor dreiviertel Stunden kannte sie ihn überhaupt nicht. Woher diese plötzliche Intimität? War das irgendeine geschäftliche Angelegenheit, und wenn so, um was handelte es sich da? Mir fiel Neamores Visitenkarte wieder ein, und ich erinnerte mich auch, daß er etwas in Bleistift daraufgekritzelt hatte. Ich ging in Lady Renardsmeres Zimmer, um die Karte zu suchen. Sie lag auf ihrem Schreibtisch. Er schien nur den Namen einer Firma unter seinen eigenen geschrieben zu haben: Gildenbaum & Roskin. Das sagte mir gar nichts.

Lady Renardsmere war noch nicht zurückgekommen, als ich an dem Abend – ziemlich spät übrigens – zu Bett ging. Aber sie mußte in den frühen Morgenstunden zurückgekehrt sein, denn ich traf sie zur gewöhnlichen Stunde in ihrem Büro an. Wir gingen zusammen die Korrespondenz durch, und sie gab mir ihre Anordnungen darüber; dann, als ich grade das Zimmer verlassen wollte, überreichte sie mir das Scheckbuch, das ich ihr gestern gegeben hatte. Sie erwähnte nicht, daß sie es benutzt hätte, aber später, als ich es in den Safe zurücklegen wollte, sah ich nach, ob sie vielleicht einen Scheck ausgeschrieben hatte. Sie hatte einen ausgestellt! Nach dem Kontrollblatt hatte sie an Percy Neamore zehntausend Pfund gezahlt!

Ich muß hier noch etwas einfügen. Lady Renardsmere hatte genaue Regeln, die strikt einzuhalten waren, über die Führung ihrer Scheckbücher und Konten aufgestellt. Jede Summe – die Höhe des Betrages spielte keine Rolle – mußte nebst allen Einzelheiten auf dem Kontrollblatt verbucht werden. So zum Beispiel mußte ich, wenn ich Holroyds wöchentliche Rechnungen für Heu, Stroh oder Hafer bezahlt hatte, alle Einzelheiten genau anführen. Selbst bei dem Scheckbuch ihres Privatkontos beachtete sie diese Regel aufs peinlichste. Es war eine Regel, die sie selbst nie verletzte, sie war sogar direkt pedantisch darin. Aber diesmal hatte sie dagegen verstoßen; auf dem Kontrollblatt stand gar nichts, nicht die geringste Einzelheit, warum und wofür Lady Renardsmere zehntausend Pfund an Percy Neamore gezahlt hatte.

Ich bin nicht neugieriger als jeder andere auch, aber diese Neamore-Geschichte reizte mich, ich hätte gern etwas darüber erfahren. Da ich nun ihr Privatsekretär war und auch wußte, wie sie alles verbucht haben wollte, nutzte ich diesen Vorteil aus. Ich brachte ihr das Scheckbuch zurück und zeigte auf das letzte Kontrollblatt.

»Es sind keine Einzelheiten angeführt«, sagte ich und versuchte möglichst gleichgültig auszusehen, »nur Name und Betrag sind angeführt.«

Solange ich bei ihr angestellt war, war dies das einzige Mal, daß Lady Renardsmere ihre Fassung etwas verlor.

»Ja, Cranage, kümmern Sie sich diesmal nicht darum«, sagte sie fast abbittend. »Es ist eine kleine private Transaktion.«

»Ich machte Sie deswegen nur darauf aufmerksam«, sagte ich, »da Sie sonst immer alle Einzelheiten genau angeführt wünschen.«

»Ja, ich weiß«, sagte sie schnell. »Es ist ganz richtig, daß Sie mich darauf aufmerksam machen, aber diesmal ist es, wie ich Ihnen schon sagte, eine private Angelegenheit. Ich weiß ja auch, wofür der Scheck ausgestellt wurde. Schon gut, Cranage, es war ganz richtig, daß Sie mich darauf aufmerksam machten.«

So hatte ich auf diese Weise nichts herauskriegen können, und ich war genau so klug wie vorher. Vielleicht, dachte ich, hängt es irgendwie mit Wetten zusammen. Lady Renardsmere setzte, wie ich wußte, ab und zu nicht nur auf ihre eigenen Pferde, sondern auch auf andere. Ich wußte auch, daß sie auf Rippling Ruby sehr hoch gesetzt hatte, da sie darauf rechnete, daß die Stute das Derby gewinnen würde. Vielleicht hatte sie diese zehntausend Pfund Neamore anvertraut, damit dieser für sie bei verschiedenen Buchmachern wetten würde. Aber dies war Vermutung; nur eins stand fest, die Summe war gezahlt worden, und nur Lady Renardsmere und Neamore wußten warum. Aber die ganze Angelegenheit war merkwürdig; Neamores ganzer Besuch war merkwürdig, es war auch merkwürdig, daß er mit Lady Renardsmere nach London gefahren war, und seltsam war es, daß sie keine Einzelheiten eintragen konnte oder wollte.

Das sollte aber nicht das einzig Merkwürdige des heutigen Tages bleiben. Gewöhnlich aß ich in meinem eigenen Wohnzimmer. Grade als ich mein Mittagessen beendet hatte und es mir in einem Klubsessel mit einer Zeitung und einer Pfeife bequem machen wollte, ließ mich Lady Renardsmere zu sich in ihr Büro kommen. Sie hatte auf dem Schreibtisch ein kleines Paket vor sich liegen, das sorgfältig in Briefpapier eingepackt und versiegelt war. Daneben lag ein Briefumschlag, auf dem Lady Renardsmere in ihrer großen Handschrift einen Namen und Adresse geschrieben hatte.

»Cranage«, sagte sie, »Sie haben wohl schon zu Mittag gegessen? Gut, dann möchte ich, daß Sie etwas für mich erledigten. Sie sehen diesen Brief und das Paket. Bitte überbringen Sie beides meinem Rechtsanwalt, Pennithwaite, in Lincolns Inn Fields.«

»Heute nachmittag?« fragte ich.

»Ja, sofort«, antwortete sie. »Sie können mit dem Rolls-Royce fahren. Walker hat schon gegessen. Pennithwaite verläßt nie vor fünf Uhr sein Büro, so werden Sie noch bequem zur Zeit hinkommen, und, Cranage«, hier machte sie eine Pause, und wie ich sehen konnte, war sie sehr besorgt, denn sie legte ihre Hand auf meinen Arm, »Cranage, versprechen Sie mir, daß Sie unterwegs nirgends anhalten werden. Nirgends!«

»Selbstverständlich, Lady Renardsmere«, antwortete ich. »Warum sollte ich auch anhaltend«

»Ach«, sagte sie. »Sie möchten vielleicht unterwegs aussteigen, um ein Glas Bier oder so etwas zu trinken. Das tun junge Leute doch manchmal ganz gern. Aber das werden Sie nicht tun, nicht wahr, Cranage? Sie gehen von hier direkt zu Pennithwaite? Sie nehmen dieses Paket und diesen Brief und lassen sich durch nichts ablenken oder aufhalten, bis Sie es ihm persönlich überreicht haben?«

»Selbstverständlich, Lady Renardsmere«, versicherte ich. »Ich tue genau, was Sie wünschen. Bitte, befehlen Sie Walker, daß er von hier aus, ohne irgendwo anzuhalten, direkt nach Lincolns Inn Fields fährt.«

»Ja«, sagte sie, »gut, er wird in zehn Minuten so weit sein. Danke Ihnen noch, Cranage, und wo wollen Sie das Paket und den Brief hintun?«

Ich zeigte es ihr; ich steckte das winzige Paket – es war nur drei Zoll breit – in meine Hosentasche, und den Brief in meine Rocktasche.

»Lady Renardsmere, ich werde sie nicht einmal anrühren, ich werde sie dann erst anfassen, wenn ich sie Herrn Pennithwaite aushändige. Glauben Sie mir, sie sind ganz sicher aufbewahrt, so sicher, wie es nur möglich ist.«

»Das ist gut!« sagte sie etwas erleichtert. »Ich wußte, ich kann mich auf Sie verlassen. Wenn Sie bei Pennithwaite gewesen sind, können Sie machen, was Sie wollen. Essen Sie irgendwo recht gut zu Abend, machen Sie mit Walker aus, wann er Sie zurückbringen soll. Mir ist alles recht, wenn Sie nur Brief und Paket abgegeben haben. Hier, leisten Sie sich ein gutes Essen, mein Junge.«

Ehe ich protestieren oder sie daran hindern konnte, hatte sie mir eine fünf Pfundnote in die Hand gedrückt und war aus dem Zimmer. Ich ging, um mich für die Fahrt fertigzumachen, und als ich wieder herunterkam, stand sie an der Haustür und gab Walker strenge Anweisungen.

»Und danach werden Sie Ihre Befehle, was die Rückfahrt betrifft, von Mr. Cranage bekommen. Jetzt haben Sie direkt von hier zu Mr. Pennithwaite zu fahren!«

Ich stieg ein, und wir fuhren ab. Als ich meinen Hut abnahm, warf mir Lady Renardsmere noch einen ermahnenden Blick zu. Ich wußte, was sie damit sagen wollte; sie wollte mich noch einmal an unser Gespräch in ihrem Büro erinnern. Als wir das Dorf verlassen hatten und die Richtung nach der sechs Meilen entfernten London-Portsmouth-Chaussee einschlugen, wunderte ich mich, warum sie nur so darauf bestand, daß ich meine Fahrt nirgends unterbrechen sollte. Es war doch nicht gut möglich, daß ich unterwegs überfallen und ausgeraubt würde. Wir lebten doch nicht mehr im Zeitalter der Raubritter. Was konnte das nur sein, was ich zu Pennithwaite brachte? Das Paket mußte, so klein es auch war, irgend etwas von großem Wert oder Wichtigkeit enthalten. Befürchtete Lady Renardsmere, daß ich unterwegs angehalten würde, am hellen Tage, an einem schönen Frühlingsnachmittag – der Gedanke schien absurd. Und doch hatte ihre Unruhe mich etwas angesteckt, und mein einziger Gedanke war, so schnell wie nur irgend möglich nach London zu kommen und meinen Auftrag glücklich zu erledigen. Walker tat das Seinige. Er bog bei Petersfield in die Londoner Chaussee ein und fuhr dann in rasendem Tempo nach London. Er hielt genau um halb fünf in Lincolns Inn Fields.

Pennithwaites Büro lag auf der Südseite der Fields in einem der alten Häuser, die glücklicherweise von der Mode, alles zu restaurieren, verschont geblieben sind. Pennithwaite war noch da und empfing mich in einem großen altmodischen Zimmer mit schön verzierter Decke und einem wundervollen Kamin. Er hätte auch gar nicht zu einer anderen Umgebung gepaßt, da er selbst ernst und altmodisch wirkte. Nachdem ich mich vergewissert hatte, daß er Pennithwaite war, übergab ich ihm Brief und Paket. Er las den Brief in meiner Gegenwart, dann, indem er das Paket mit sich nahm, zog er sich in ein anderes Zimmer zurück. Er blieb dort einige Zeit; als er zurückkam – das Paket oder den Inhalt mußte er verwahrt haben – setzte er sich an seinen Schreibtisch und schrieb schnell einige Zeilen, steckte sie dann in ein Kuvert, versiegelte dieses und übergab es mir mit einer höflichen Verbeugung.

»Nur um Lady Renardsmere wissen zu lassen, daß Sie Brief und Paket mir übergeben haben«, sagte er lächelnd. Dann sah er mich näher an und sagte:

»Ich nehme an, Sie sind der neue Privatsekretär der gnädigen Frau?«

»Ja, Mr. Pennithwaite«, antwortete ich.

Er stand auf und gab mir die Hand. »Sie werden sehen, daß sie eine hervorragende Frau ist«, sagte er, »exzentrisch, aber äußerst gütig. Auf Wiedersehen!«

Ich ging zu Walker hinunter und fühlte mich sehr erleichtert, dies geheimnisvolle, kleine Paket losgeworden zu sein. Ich sprach mit Walker über die Rückfahrt; er sollte den Wagen zu Lady Renardsmeres Stadthaus in Park Lane fahren, seinen Tee dort einnehmen und mich Punkt halb neun in der Nähe von Piccadilly Circus abholen. Er fuhr ab, und ich schlenderte gemächlich entlang und genoß es, in London zu sein. Ich ging den Strand hinauf, sah mir noch Haymarket und Coventry Street an und schließlich, kurz nach sechs Uhr ging ich ins Trocadero, um dort in aller Ruhe zu Abend zu essen.

Obwohl es noch früh war, war das Restaurant schon gut besucht, es füllte sich immer mehr, und um sieben Uhr war in dem großen Saal, in dem ich saß, kaum noch ein Tisch frei. Die lange Autofahrt hatte mich so hungrig gemacht, daß ich mich gar nicht für die Leute, die um mich herum saßen, interessierte. Aber als ich meinen Hunger gestillt hatte, fing ich an, mich umzusehn, und plötzlich, an dem anderen Ende des Saals, sah ich an einem Tisch, der in der Ecke stand, Neamore und mit ihm Holliment!

Ich irrte mich bestimmt nicht, dort saßen sie und aßen zu Abend. So groß war der Saal nicht, und so weit saßen sie auch nicht von mir entfernt, daß ich sie nicht genau hätte sehen können. Eine Flasche Sekt stand vor ihnen, sie aßen und tranken mit dem größten Appetit und unterhielten sich sehr angeregt. Sie waren so in ihr Gespräch vertieft, daß sie auf niemand und nichts, was um sie herum vorging, acht gaben. Holliment mit Neamore, dem Lady Renardsmere gestern zehntausend Pfund gezahlt hatte! Und wofür nur?

Einen Augenblick dachte ich daran, auf Holliment zuzugehen und ihn zu begrüßen; aber genau so rasch wie der Gedanke gekommen war, verging er auch. Nein, einstweilen genügte mir, was ich zufällig entdeckt hatte. Holliment war in London, und er kannte Neamore. Ich würde schon über beide noch etwas zu hören bekommen. Und damit er oder Neamore mich nicht sehen sollten, bezahlte ich meine Rechnung, sobald ich mit dem Essen fertig war, und verließ das Restaurant durch die nächstliegende Tür. Ich ging in ein anderes, um dort bei einer Tasse Kaffee eine Zigarre zu rauchen.

Ich traf Walker um halb neun auf Lower Regent Street, und wir fuhren nach Hause. Lady Renardsmere war noch auf, als wir ankamen, und obgleich sie nicht viel sagte, konnte ich doch sehen, wie froh und erleichtert sie war, als ich ihr den Brief ihres Rechtsanwaltes gab. Aber sie erklärte mir nicht, warum sie mich nach London geschickt hatte, und ich erzählte ihr auch nicht, wen ich im Trocadero gesehn hatte.

Am nächsten Morgen, als mir das alles immer noch im Kopf herumging, wurde ich um elf Uhr in die Halle gebeten, wo jemand, wie mir der Diener sagte, mich dringend sprechen wollte.

Es war Detektiv Spiller aus Portsmouth. Er trat ganz nah an mich heran und flüsterte:

»Mr. Cranage, Sie werden mit mir nach London mitkommen müssen, und zwar sofort. Mein Wagen wartet draußen. Sie wissen natürlich noch gar nicht, um was es sich handelt. Nun, Holliment, Sie wissen schon – er wurde heute früh im Westendbezirk tot aufgefunden. Ermordet!«


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