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3.
Die Flucht

Dieses Klopfen drang unheildrohend. Nicht eine, sondern mehrere ungeduldige Fäuste hämmerten gegen die Tür, es war ein richtiges Trommelfeuer. Holliment und ich hörten es, und mitten in dem Lärm erhob er seine Stimme derart, daß es wie ein Schrei klang.

»Kommen Sie, Mensch!« rief er. »Kommen Sie rasch! Halten Sie sich ja an die Wand!«

Das war das zweite- oder drittemal, daß er mich warnte, und selbst in diesem kritischen Augenblick hütete ich mich, seine Warnung zu mißachten. Dabei kam mich ein Grauen an, in so enge Berührung mit der Wand zu kommen. Sie fühlte sich an, als ob jahrealter Schmutz und Staub sich an ihr festgesetzt hätten, und wie ich eilig die verschiedenen Windungen hinaufging und wie ein entlaufener Dieb durch die Dunkelheit schlich, und dabei jeden Augenblick befürchtete, die unverkennbar morsche alte Treppe würde plötzlich unter meinen Füßen zusammenbrechen, fühlte ich, wie Spinngewebe an meinen Schultern hängenblieben, und wie etwas mein Gesicht und meine Hand streifte, das möglicherweise lebendig war.

Das Klopfen an der Tür spornte mich an, es klang unheildrohend, schon beinahe mörderisch. Ich stieg höher und höher, bis ich endlich keuchend und mit gefolterten Nerven auf dem obersten Treppenabsatz mit Holliment zusammentraf. In dem Augenblick hörte ganz plötzlich das Klopfen auf, und genau so plötzlich drang ein andres Geräusch zu uns herauf, ein Geräusch, das uns um den Rest unsres Verstandes hätte bringen können, nämlich das Bersten der Ladentür.

Ich sagte schon, wir hätten eine brennende Lampe in dem schäbigen kleinen Büro brennen lassen, auch warf irgendeine Gaslampe auf der Straße etwas Licht durch die schmutzige Fensterscheibe auf den unteren Teil des Turms. Bei dieser Beleuchtung sahen Holliment und ich, als wir voll Angst hinunterblickten, eine wilde Rotte von drei, vielleicht vier oder fünf oder sogar sechs Burschen von der gesprengten Tür zu dem Bogeneingang zwischen Laden und Turm stürzen. Das Bild einer Meute, die auf den gestellten Fuchs losgeht.

Nach allem, was ich von ihnen sah, waren sie Abschaum der Straße, Verbrecher, die gedungen waren, diesen Überfall auszuführen. Ich glaube auch, sie hatten Messer bei sich, denn mir schien, ich sah ein Aufblitzen von Stahl, wenn sie beim Hin- und Herlaufen in den Lichtstrahl kamen. Ich weiß nicht, ob Holliment dies auch alles bemerkte, aber eins sahen wir alle beide bestimmt.

Als die Rotte aus dem Laden in den Turm stürzte, fiel ein Lichtstrahl voll auf das Gesicht eines Chinesen. Wie er das sah, und bevor ich ihn daran hindern konnte, riß Holliment seinen Revolver heraus und feuerte ein-, zwei-, dreimal mitten in unsere Verfolger.

Zwei Schreie ertönten – einer war ein kurzer Schmerzensschrei, den jemand ausstoßen könnte, wenn er von einer Wespe gestochen worden wäre, der zweite klang schon mehr wie ein Stöhnen. Aber ich bin sicher, daß keiner der Männer zusammenbrach, und genau wie ich es mir gedacht hatte, feuerten die Schüsse unsre Verfolger an, statt sie abzuschrecken. Für einen Augenblick sahen die Burschen herauf, im nächsten Moment stürzte die ganze Rotte auf die Treppe zu und stürmte hinauf. Ich hörte das Laufen und Trampeln ganz deutlich, aber mitten in dem Lärm hörte ich Holliment neben mir lachen. Es war kein schönes Lachen; irgend etwas in dem Ton flößte mir mehr Angst ein, als alles, was bis dahin geschehen war. Ich wollte grade von ihm abrücken, als er meinen Arm mit einem festen Griff anpackte.

Im selben Augenblick brach die morsche Treppe zusammen. Die Männer mußten wohl schon halb oben sein; sie stürmten grade mit Wutgeschrei vorwärts. Da gab die Treppe nach und fiel mit Getöse in einer dichten, erstickenden Staubwolke zusammen. Im selben Augenblick zerrte mich Holliment durch eine Tür, die gerade hinter uns war, und ich merkte, daß wir in gänzlicher Dunkelheit auf festem, sicherem Boden standen.

Er zerrte mich weiter, entweder mußte er im Dunkeln sehen können, oder er kannte hier jeden Schritt. Und während das Schreien, Stöhnen und Fluchen von unten zu uns heraufdrang, packte er meinen Arm noch fester und flüsterte mir ins Ohr:

»Kommen Sie! Die Gesellschaft wäre erledigt. Nur gradeaus und keine Angst haben. Jetzt sind wir in Sicherheit – immer gradeaus – dann die Treppe 'runter – und dann was zu trinken! Mein Gott, ich hoffe, daß einige sich den Hals gebrochen haben, ich wünschte nur, alle hätten es getan! Kommen Sie nur!«

Ich ließ mich von ihm einen dunklen Gang entlang führen. Es war ein schönes Gefühl, nach der wackligen, morschen Treppe wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Ich ließ mich ruhig von ihm führen, mit dem Gefühl, alles wäre besser als das, was wir soeben durchgemacht hatten.

Nach einiger Zeit blieb er stehen und ließ meinen Arm los; er öffnete dann eine Tür und zog mich hindurch; er ließ mich wieder los und schaltete eine Taschenlampe ein, die er wohl bei sich getragen haben mußte. Ich sah jetzt, daß wir auf dem höchsten Absatz einer ganz einfachen, gewöhnlichen Treppe standen. Ich atmete erleichtert auf.

Das erste, was Holliment tat, war, die Tür, durch die wir soeben gekommen waren, mit zwei schweren Riegeln zu versperren; dann wischte er die Stirn mit dem Rockärmel ab. Ganz automatisch tat ich dasselbe, da entdeckte ich, daß mein Gesicht mit Schweißtropfen bedeckt war, und in demselben Augenblick fühlte ich, daß meine Zunge mir am Gaumen klebte, und mein Mund vollkommen verdorrt war. Wir sahen einander an; er schüttelte den Kopf, ich brachte es fertig, ein paar Worte zu krächzen.

»Sie sagten – was zu trinken?« fragte ich mit rauher Stimme. »Trinken …«

Er zeigte auf die Treppe und fing an hinunterzugehen, und bedeutete mir, ihm zu folgen.

»Schon gut – unten gibt's was zu trinken«, sagte er, sich etwas umdrehend mit zittriger Stimme. »Hier sind wir sicher. Leeres Haus – gehört mir. Hab' mich den ganzen Tag hier versteckt gehalten. Kommen Sie! Allmächtiger! – wenn das Gesindel hereingeplatzt wäre, bevor wir die alte Treppe 'rauf waren! Dann wären wir jetzt mausetot. Aber nun sind wir sicher. Absolut sicher.«

Ich weiß nicht, wie viele Stufen wir hinabstiegen, es waren jedenfalls sehr viele. Wir gingen an vielen Türen auf den verschiedenen Treppenabsätzen vorbei. Einige Türen standen offen, andre waren geschlossen. Blickte man durch eine offenstehende Tür, so war nur ein leeres Zimmer zu sehen. Obwohl ich noch sehr erregt war, behielt ich die Augen offen und merkte mir, was ich sah.

Dies, war ein altes, einst schönes Haus; geschnitzte Geländer, verzierte Decken, Spuren geschmackvoller Architektur waren überall zu sehn – sicherlich hatte es früher einem reichen Kaufmann gehört. Es mußte seit Jahren, vielleicht seit fünfzig, sechzig Jahren, unbewohnt gewesen sein – überall Schmutz, Staub, Zeichen von Verfall. Im ganzen Haus ein drückendes Schweigen, ein Schweigen, wie man es nur in verlassenen Häusern empfinden kann, und man konnte einen Geruch wahrnehmen, der an die Luft in den tiefen Gewölben unterhalb einer Kirche erinnerte. Schließlich kamen wir in die Vorhalle. Sie schien ein großer düsterer Raum zu sein, aber ich konnte das nicht genau feststellen, da Holliment vorsichtshalber seine Taschenlampe so hielt, daß das Licht nur auf den Boden fiel, und ich daher nur einen undeutlichen Eindruck des Raums bekommen konnte.

Wieder blieb er vor einer Tür stehen, schloß sie auf und bedeutete mir, hindurchzugehen. Nochmals war eine Treppe vor uns, die anscheinend in das Kellergeschoß führte; aber am Fuß dieser Treppe stand die Tür eines erleuchteten Zimmers offen. Durch diese sah ich die Ecke eines farbigen Teppichs – ich glaube, er war rot – jedenfalls wirkte er gemütlich und anheimelnd, ein merkwürdiger und überraschender Anblick in diesem wahrhaft vereinsamten Haus! Einen Augenblick später – nachdem die letzte Tür verschlossen und verriegelt worden war – standen wir am Fuß der Treppe, und jetzt sah ich zu meinem größten Erstaunen ein behaglich eingerichtetes Wohnzimmer. Es war recht bequem möbliert, und ein helles Feuer brannte im Kamin.

Erst, als ich dieses Feuer sah, merkte ich, wie ich fror; ich war ganz kalt, so kalt, daß ich zitterte. Holliment mag sich auch so gefühlt haben, jedenfalls hatte er kaum die Taschenlampe hingelegt und den Docht einer auf dem Tisch stehenden Lampe hochgeschraubt, als er zu einem Eckschrank ging, eine Flasche und Gläser holte und mir bedeutete, ihm die Wasserkaraffe von der Kredenz zu reichen. Ich ließ ihn die Getränke zubereiten, in dem Augenblick hatte ich nur den einen Gedanken, möglichst bald einen recht starken Whisky oder Kognak trinken zu können. Holliment schenkte sich und mir ein, wir tranken, und er seufzte tief auf, als er sein Glas halb geleert hatte. Dann schüttelte er sich und zeigte auf die Flasche.

»Kognak!« sagte er. »Ein Zeug, das ich kaum anrühre – Whisky ist mein Geschmack und immer nur wenig, denn ich bin aus Prinzip ein mäßiger Mann. Aber wenn man solch ein kleines Abenteuer erlebt hat, ist Kognak grade das Richtige! Ich konnte ihn jetzt gut gebrauchen, Sie auch, nicht wahr? Geht's besser?«

»Ja, Mr. Holliment, bedeutend besser«, antwortete ich, nachdem ich auch mein Glas halb geleert hatte. »So viel besser, daß ich Sie fragen möchte – war es vor zehn Minuten oder hundert Jahren, daß ich Sie fragte – was hat dies alles denn zu bedeuten?«

»Und ich werde Ihnen genau so wie vorhin antworten«, entgegnete er gutgelaunt. »Sie werden es nicht verstehn. Aber es tut mir leid, daß Sie mit hereingezogen worden sind. Jedenfalls, hier sind Sie sicher. Wir beide sind hier sicher. Doch, es war nahe dran! Also nochmals, wir sind jetzt sicher und dazu noch mit heiler Haut!«

Ich trank meinen Kognak aus und stellte das Glas hin.

»Dann werden Sie mich wohl jetzt fortgehen lassen, Mr. Holliment«, sagte ich. »Ich nehme an, Sie kennen einen sicheren Weg aus diesem Haus und …«

Er starrte mich an, als ob ich einen vollkommen phantastischen und unmöglichen Vorschlag gemacht hätte, und ich merkte sofort, daß ich zu einem unfreiwilligen Aufenthalt von unbestimmter Länge verurteilt war.

»Einen sicheren Weg aus diesem Haus«, wiederholte er, »den gibt es die nächsten paar Stunden und vielleicht die ganze Nacht lang nicht. Darauf können Sie Gift nehmen. Seien Sie zufrieden. Wie ich schon sagte, hier sind wir in Sicherheit, aber draußen …!«

Er schnitt eine Grimasse und machte einen Dolchstoß nach. Dann trank er wieder, und mir schien, als klapperten seine Zähne etwas dabei. Ich starrte ihn ungläubig an.

»Sie wollen sagen – diese Burschen?« fragte ich.

»Diejenigen, die nicht ihre verdammten Hälse oder Arme und Beine gebrochen haben«, antwortete er grimmig. »Einige sind unverletzt davongekommen, darauf möchte ich wetten, solche Teufelsbrut kommt immer durch! Sie werden überall herumstrolchen, und heute nacht will ich nichts mehr riskieren. Hier können Sie nicht hereinkommen, aber wie ich sagte, draußen …!«

»Aber die Polizei, Herr Holliment?« sagte ich. »Durch den Radau und besonders durch die zerbrochene Tür an der Straße wird sie doch aufmerksam geworden sein. Sie wird doch sicherlich schon in Ihrem Laden sein.«

»Das kann man nicht wissen«, antwortete er. »Dies ist eine verlassene Gegend, wenig Menschen sind nachts unterwegs, und vor einer Viertelstunde wird der Schutzmann, der hier patrouilliert, weit weg gewesen sein. Jedenfalls dürfen wir nichts riskieren! Und übrigens, woran fehlt es Ihnen hier? Nehmen Sie wie ich noch einen Schluck Kognak, nehmen Sie sich eine Zigarre – die in der Kiste drüben sind gut –, und wenn wir uns etwas erholt haben, essen wir einen Bissen und überlegen uns das Weitere. Die Hauptsache ist, daß wir nicht beide im Laden mit einigen Zentimetern kalten Stahls in der Gurgel auf dem Rücken liegen. Bedienen Sie sich!«

Ich schenkte mir ein, denn ich war immer noch zittrig. Dann zündete ich mir eine Zigarre an und setzte mich auf ein Sofa an das Feuer. Holliment folgte meinem Beispiel und ließ sich mir gegenüber in einen Lehnstuhl fallen; einige Zeitlang tranken und rauchten wir schweigend. So verging vielleicht eine Stunde, bevor einer von uns sprach oder sich bewegte; dann stand Holliment plötzlich auf und warf seinen Zigarrenstummel ins Feuer.

»Ich bin wieder in Ordnung«, sagte er. »Vollkommen hergestellt. Das macht der Kognak. Und wie geht's Ihnen?«

»Als ob ich gar nicht getrunken hätte«, sagte ich. »Aber wenn wir nicht diese Geschichte nebenan erlebt hätten, wäre ich jetzt betrunken!«

»Ganz recht, ganz recht!« pflichtete er mir ernst bei. »Mir geht's genau so. Hat sicherlich was mit den Nerven zu tun, das kann nur ein Arzt erklären, warum das so ist, und ich bin keiner. Aber ich sage Ihnen was … Ich habe Hunger. Wir wollen etwas essen. Ich hab' ein schönes Stück kaltes Rindfleisch und auch einen feinen alten Käse hier, was sagen Sie dazu? Mit Bier natürlich. Habe reichlich Bier hier unten.«

»Das klingt verlockend, Mr. Holliment«, antwortete ich.

»Na, dann gut«, sagte er. »Ich werde alles vorbereiten.«

Er fing an geschäftig hin und her zu gehen, während ich auf dem Sofa sitzen blieb und ihm untätig zuschaute. Ich sah sofort, daß er Wert darauf legte, an einem nett gedeckten Tisch zu essen. Aus einer Schublade des Tisches, der in der Mitte des Zimmers stand, holte er ein sauberes weißes Tischtuch, sogar Servietten und auch sorgfältig gereinigte und geputzte Messer und Gabeln hervor, die Teller holte er von einem Regal und die Gläser aus der Kredenz. Schließlich hatte er den Tisch genau so ordentlich und geschickt gedeckt wie ein gutes Hausmädchen. Aus einer Art Speiseschrank in einer Nische des Zimmers nahm er kalten Rindsbraten, ein schönes Stück Käse, Butter und eingelegte Walnüsse. Dann entkorkte er zwei Bierflaschen, goß den Inhalt in die Gläser und nahm das Vorlege-Besteck in die Hand, und bedeutete mir gleichzeitig, mich an den Tisch zu setzen.

»Sie werden jetzt selbstverständlich Hunger haben«, sagte er. »Abendessenszeit ist schon längst vorbei, was?«

»Ich habe auch Hunger, Mr. Holliment«, gab ich zu. »Und der Anblick des Rinderbratens macht ihn noch stärker.«

»Ich habe immer was zu essen hier unten«, sagte er. »Immer ganz gut, einen Vorrat zu haben. Aber Sie haben doch Ihr Mittagessen richtig bekommen, wie?«

»Auch meinen Tee, danke«, antwortete ich. »Beides war recht gut und reichlich. Der Mann vom ›Admiral Hawke‹ brachte es – genau, wie Sie sagten.«

»Jim«, nickte er. »Ja, ein freundlicher, gefälliger Mensch, der Jim. Ist schon seit mehreren Jahren dort Kellner. Sie kennen diesen Stadtteil nicht?«

»Nein«, sagte ich, »aber ich fand Ihren Laden ohne weiteres. Ihr Freund, Mr. Quartervayne, hat mir den Weg etwas beschrieben.«

Bei diesen Worten fuhr er zusammen und hielt im Tranchieren inne.

»Ach ja, natürlich«, murmelte er. »Quartervayne, natürlich, er schickte Sie. Ich hatte im Augenblick vergessen, wie wir beide zusammengekommen waren – merkwürdig! Und, verzeihen Sie bitte, wie kamen Sie mit Quartervayne zusammen?«

»Wenn es Sie interessiert, Mr. Holliment, ich befand mich auf dem Clarence-Pier«, antwortete ich. »Ich war zwei Tage lang in Portsmouth und erwartete eine Geldüberweisung, die nicht eintraf, jedenfalls war sie nicht eingetroffen, als ich Quartervayne begegnete.«

»Ich entsinne mich, ja, ja«, sagte er. »Er gab Ihnen zwanzig Schillinge. Und wo wollten Sie dann hingehen?«

»Nach London«, antwortete ich. »Ich wäre mit Quartervaynes zwanzig Schillingen dorthin gefahren, wenn Sie mich nicht gebeten hätten, Sie in Ihrem Laden zu vertreten.«

Er hatte schon angefangen zu essen, aber bei diesen Worten legte er Messer und Gabel nieder und starrte einen Augenblick vor sich hin.

»London?« murmelte er plötzlich. »London, ja, das ist kein schlechter Einfall. Wenn es irgendeine Stelle auf der Welt gibt, wo ein Mann sicher sein kann …«

Er brach ab und wandte sich an mich.

»Wollen Sie immer noch nach London?«

»Sobald ich aus dieser Sache 'raus bin, will ich den ersten Zug dorthin nehmen«, antwortete ich.

Er nahm wieder Messer und Gabel in die Hand und aß weiter.

»Hören Sie mal!« sagte er nach einer Weile. »Ich werde Sie selbst nach London bringen, und ich werde auch selbst dorthin gehn. Der beste Ort. Solange der verdammte Chinese noch am Leben ist – wenn er es ist – und schließlich kann man genau so gut versuchen, den Teufel zu vergiften – wird es keine … aber das hat nichts mit der Sache zu tun. London ist das Richtige! Nun passen Sie mal auf. Ich habe ein Auto – es ist nicht neu, aber doch ein guter Wagen; es steht ganz in der Nähe, hat genügend Benzin und ist fahrbereit. Wenn wir mit dem Essen fertig sind, werde ich mich mal draußen vorsichtig umsehn, und wenn alles sicher zu sein scheint, schlüpfen wir hinaus, setzen uns in mein Auto und fahren los, was?«

»Das paßt mir großartig, Mr. Holliment«, antwortete ich. »Ich bin bereit!«

»Also abgemacht! Essen Sie nur tüchtig, denn die Nachtfahrt wird kalt sein«, sagte er. »Noch etwas Rinderbraten?«

Wir aßen beide recht herzhaft. Dann räumten wir den Tisch ab, wuschen die Teller und Bestecke am Ausguß ab und stellten alles wieder an seinen Platz. Hierauf sagte er mir, ich solle mich während seiner Abwesenheit nicht ängstigen, und stieg dann die Treppe hinauf und ging hinaus. Er war höchstens zehn Minuten fort, und als er wiederkam, war sein Erstes, zwei schwere Überzieher zu holen. Den einen gab er mir und deutete dabei mit einem Kopfnicken an, daß alles in Ordnung sei. Dann löschte er die Lampe und führte mich hinaus in die Vorhalle, von der ich schon gesprochen habe. Von dort gelangten wir irgendwie auf die Straße und durcheilten einige Gassen, bis wir zu dem Hof kamen, wo sein Auto im Dunkeln stand.

In der Nähe stand eine Tür halb offen, durch die ein Licht strahlte; Holliment ging hinein und kam bald darauf mit zwei Gläsern in der Hand wieder heraus. Ein Glas gab er mir und sagte, es sei ein Tropfen Whisky, um die Kälte zu vertreiben. Wir beide tranken, dann sagte er, ich sollte einsteigen und schlafen, wenn ich Lust hätte, er selber würde fahren. Ich stieg ein … und bevor wir die Stadt hinter uns hatten, war ich schon fest eingeschlafen.

Ich erwachte mit einem plötzlichen Schrecken; ich hatte geträumt, ein Chinese stieße mir ein Messer in die Rippen. Ich saß nicht mehr in Holliments Auto, statt dessen lag ich auf einer mit Heidekraut bewachsenen Anhöhe. Es war ein herrlicher Frühlingsmorgen. Neben mir stand, ein schönes Pferd am Zügel haltend, das hübscheste junge Mädchen, das ich je gesehn hatte, und sah mich neugierig an.


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