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5.
Die alte Schauspielerin

Diese geistreiche Frage beschäftigte zweifellos die zwölf bis zwanzig Bauern, die umherstanden und abwechselnd uns und den zertrümmerten Wagen angafften. Aber der Polizist hatte noch mehr zu sagen, man merkte, es brannte ihm auf der Zunge.

»Ich bin dort oben gewesen, Miß Manson«, sagte er und zeigte auf den Rand des Kreidebruchs. »Ja, sobald ich diese Bescherung sah, ging ich hinauf – natürlich hatte ich vorher festgestellt, daß hier unten kein Verunglückter lag. Oben habe ich sorgfältig alles untersucht, nicht nur die nächste Umgebung, sondern auch die dahinterliegende Straße. Allerdings sieht ein ausgebildetes Auge wie meins – na, was andere nicht sehen. Sie verstehen mich doch?«

»Durchaus, Roberts«, antwortete Miß Manson. »Und was sahen Sie?«

»Folgendes, Miß Manson«, sagte der Polizist und blähte sich voll Stolz. »Das Auto fuhr über den Bergrücken hinweg, die Straße entlang, die hinter Ihrer Besitzung liegt. Es kam von Süden, nicht von der anderen Seite her. Weshalb? Bevor ich überhaupt hinaufging, habe ich mir die Reifen gut angesehen; Sie werden bemerken, daß sie ein ungewöhnliches Fabrikat sind, und deshalb auch eine ungewöhnliche Spur hinterlassen. Na also, ich fand, daß diese Spur von der Nähe Ihrer Besitzung aus die Straße hinauf-, nicht hinunterführt, und wenn Sie und dieser Herr da hinaufgehen wollen, werden Sie sehen, daß diese Spur auf der Straße genau gegenüber dem Kreidebruch plötzlich aufhört! Ich will Ihnen erzählen, was passiert ist. Der Kerl, der das Auto lenkte, bremste da oben. Da hat er sich wahrscheinlich umgesehen und sah auch in diesen furchtbaren Abgrund hinab – er hat ihn wahrscheinlich schon von früher her gekannt. Dann brachte er sein Auto bis nahe an den Rand, sprang während der Fahrt ab und ließ es laufen. Er stand da oben – in Sicherheit, und das Auto ging in den Abgrund – ratsch! Was sagen Sie dazu?«

»Es macht Ihrer Beobachtungsgabe und Ihrem logischen Verstand alle Ehre, Roberts«, sagte Miß Manson. »Ich würde an Ihrer Stelle den Detektivberuf ergreifen.«

»Na ja, ich hab' mir das auch schon mal überlegt«, bemerkte der Polizist geschmeichelt. »Allerdings macht mir eins bei dieser Sache Kopfzerbrechen, und das ist: Was für einen Zweck konnte irgend jemand haben, ein solches Auto mit Absicht zu zertrümmern? Es ist nicht grade, was man ein erstklassiges oder sogar zweitklassiges Auto nennt, dem Anschein nach war es ziemlich alt, aber es war doch zu gebrauchen und stellt immerhin einen Wert dar. Man könnte doch wahrhaftig denken, es sei die Tat eines Irrsinnigen, nicht wahr?«

Miß Manson sagte, daß sie seine Ansicht vollkommen teile, und dann gingen sie und ich den Abhang wieder hinauf und prüften seine Angaben nach. Die Spuren auf der Bergstraße waren leicht zu sehen. Es war unverkennbar, das Auto war hierher gefahren, nachdem man mich in der Nähe abgesetzt hatte. Dann wurde es absichtlich in den Kreidebruch gestürzt; denn als wir die Straßenränder sorgfältig untersuchten, fanden wir die Stelle, wo es beinahe im rechten Winkel gewendet hatte. Wir fanden auch an einer anderen Stelle tiefe Abdrücke: Hier mußte es gestanden haben, bevor es in Gang gebracht wurde und hinabstürzte.

»Das ist das Auto, in dem Sie von Portsmouth hierher gebracht wurden«, erklärte meine Begleiterin mit Überzeugung. »Das ist sicher.«

»Ja«, gab ich zu. »Aber wo ist der Fahrer? Warum tat er dies? Meinen Sie nicht, es wäre besser, ich kehrte nach Portsmouth zurück und berichtete alles der Polizei?«

»Nein«, antwortete sie. »Sie haben nichts verbrochen, Sie sind nur in eine merkwürdige Sache hineingeraten. Ich glaube, ich würde erst abwarten.«

»Und dieses Geld behalten?« fragte ich und klopfte auf meine Tasche.

»Warum nicht? Es wurde Ihnen doch zugesteckt«, sagte sie. »Ich würde es unbedingt behalten. Früher oder später werden Sie sowieso noch mehr erfahren. Irgendein Geheimnis steckt dahinter. Nun, was wollen Sie jetzt anfangen?«

»Ich werde wohl nach London weiterfahren«, antwortete ich. »Wo ist der nächste Bahnhof?«

»Fünf oder sechs Meilen entfernt«, antwortete sie. »Aber ich habe Ihnen etwas vorzuschlagen.«

»Einen Vorschlag? Für mich?« rief ich erstaunt aus. »Was denn?«

»Möchten Sie wieder eine Stellung als Privatsekretär annehmen?« fragte sie.

»Ja, ich würde so etwas gern annehmen«, antwortete ich. »Unter uns gesagt – ich war nicht sehr erfolgreich auf der Bühne; ich glaube, ich eigne mich mehr zum Privatsekretär. Kennen Sie denn jemand, der einen braucht?«

»Haben Sie Referenzen und Zeugnisse?« fragte sie ganz geschäftsmäßig. »Auch wirklich gute?«

Statt zu antworten, zog ich meine Brieftasche heraus, entnahm ihr einige Briefe und Papiere und übergab sie Miß Manson. Diese las alle schweigend durch, gab sie mir zurück und zeigte über das Tal nach einem großen, halb von Bäumen verdeckten Haus. Es lag höher als das kleine Dorf, das ich bemerkt hatte, als wir bei dem Kreidebruch waren.

»Sehen Sie diese Besitzung?« sagte sie. »Das ist Schloß Renardsmere. Lady Renardsmere lebt dort, wenn sie sich nicht in London aufhält. Vielleicht werden Sie sie unter dem Namen nicht kennen. Sie war einmal, vor längerer Zeit, eine bekannte Schauspielerin, Helena Reading. Diesen Namen kennen Sie natürlich. Sie heiratete Sir William Renardsmere. Er ist nun gestorben, und sie hat seine Ländereien und sein Riesenvermögen geerbt. Während der letzten fünf Jahre interessiert sie sich lebhaft für den Rennsport; ich habe ihr Pferd, das im Derby laufen soll, in meinem Stall stehen. Rippling Ruby – – –«

»Rippling Ruby!« rief ich aus. »Natürlich kenne ich den Namen. Wird nicht sehr hoch auf sie gesetzt?«

»Augenblicklich 3:1«, antwortete sie fast teilnahmslos. »Aber wenn sie startet, soll es 1:1 stehen, oder ich will nicht mehr Peggy Manson heißen! Rippling Ruby wird das Derby gewinnen, so wahr dies Haus, diese Stallungen und dies Land mir gehören! Aber das hat jetzt nichts zu sagen. Das Wichtige für Sie ist jetzt – Lady Renardsmere. Selbst einen Brief zu schreiben, ist ihr ein Greuel, und sie haßt, Buch zu führen, darum braucht sie einen Sekretär. Ich nehme an, daß Sie mit Ihren Referenzen und Zeugnissen, und besonders dem Brief von Barrett Oliver, grade der Richtige für sie sein würden.«

»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, daran zu denken!« sagte ich. »Sie sind wirklich ein guter Kerl, Miß Manson.«

»Na, na«, lachte sie. »Ich freue mich nur immer, wenn ich jemanden helfen kann. Aber hören Sie mal, es ist stets das beste, alles gleich zu erledigen. Mein Vater sagte häufig, es gäbe eine feine Lebensregel: Tue es jetzt! Ich werde mit Ihnen zu Lady Renardsmere gehen. Ich muß sie sowieso heute früh sprechen, da können wir also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wer kommen Sie erst nach den Ställen, ich will Ihnen die Stute zeigen, die das Derby gewinnen wird.«

Sie führte mich durch den Garten zu den Trainingsplätzen, die nicht weit vom Hause lagen. Ich hatte noch nie etwas Derartiges gesehn und hatte auch keine Vorstellung davon, wie Vollblüter für ein Rennen trainiert werden, und so war es wirklich für mich ein Erlebnis; am meisten bewunderte ich es aber, daß ein junges Mädchen dies alles leitete. Ich merkte bald, daß Miß Manson hier unumschränkte Herrscherin war; all die Männer und Stalljungen, denen wir begegneten, schienen einen gehörigen Respekt vor ihr zu haben. Sie schritt wie eine Königin durch ihr kleines Reich.

Rippling Ruby schien nicht minder eine Königin zu sein. Ihr Trainer führte mich zu ihrem sorgfältigst eingerichteten und besonders bewachten Stall. Damals verstand ich nichts von Pferden und natürlich erst recht nichts von einem Vollblüter; ich wußte nur, daß ich gebeten wurde, etwas anzusehen, das in der Pferdewelt dasselbe bedeuten mußte wie in der unsrigen eine sehr schöne Frau. Ich sah ein wundervoll gebautes Tier, voll Leben und Feuer; seine helle Fuchsfarbe, seine glänzenden Augen, die zarten Nüstern und schön geformten Beine machten einen tiefen Eindruck auf mich. Als Miß Manson ihre Hand auf Rippling Rubys Schulter legte, während zwei Stalljungen ehrfurchtsvoll daneben standen, und sie mich fragte, ob es nicht ein prachtvolles Tier sei, konnte ich nur nicken.

»Ist – ist sie überhaupt schon mal gelaufen?« fragte ich endlich schüchtern.

Die beiden Stalljungen starrten mich einen Augenblick lang ganz entgeistert an, dann seufzten sie leise, und dann trugen sie wieder eine unerschütterliche Miene zur Schau. Miß Manson lachte.

»O ja, sie ist schon in zwei Rennen mitgelaufen«, antwortete sie. »Letztes Jahr gewann sie als Zweijährige mit drei Längen die Champagne Stakes in Doncaster, und erst letzte Woche hat sie den Tausend-Guineen-Preis sich mit vier Längen in Newmarket geholt. Ja, sie ist schon etwas gelaufen.«

»Ich sagte Ihnen doch, daß ich nichts von Pferderennen wüßte«, sagte ich ganz niedergeschlagen. »Ich wünsche ihr noch manchen Sieg! Ich gehe auch nach Epsom, um sie im Derby siegen zu sehen.«

»Das werden Sie wohl schon tun müssen«, bemerkte Miß Manson, als wir einen Augenblick später den Stall verließen, »das ist so ziemlich sicher!«

»Warum?« fragte ich und sah sie erstaunt an.

»Weil ich glaube, daß Lady Renardsmere Sie anstellen wird«, antwortete sie. »Sie hat nun einmal eine Schwäche für alles, was mit ihrem alten Beruf zusammenhängt, und daß Sie selbst auf der Bühne gestanden haben, und auch mit Barrett Oliver gearbeitet haben, wird eine große Empfehlung sein. Aber kommen Sie jetzt mit, wir wollen nach Schloß Renardsmere hinübergehen.«

Sie führte mich auf einem andern Weg durch das Tal zurück und dann durch das Dorf, das ich schon oben vom Kreidebruch aus gesehen hatte. Es war ein malerischer Ort mit einer grauen Kirche, die Bauernhäuser hatten Strohdächer und waren von Bäumen umgeben. Der Ort sah nach behäbigem Wohlstand aus. Obwohl das Dorf so klein war, hatte es doch ein großes altmodisches Gasthaus; sein farbiges Schild mit dem Namen ›Haus Renardsmere‹ schaukelte im Winde hin und her.

»Hier heißt alles Renardsmere«, bemerkte Miß Manson, als sie sah, daß ich das Schild anschaute. »Das Dorf heißt Renardsmere, das Gasthaus heißt so und auch das Schloß. Aber Sie werden sich Lady Renardsmere nur als Helena Reading vorstellen können?«

»Ich habe Bilder von ihr gesehen, als sie noch Helena Reading war«, sagte ich. »Aber ich habe sie nie spielen sehn. Soviel ich weiß, war sie eine berühmte Schönheit.«

»Du meine Güte, das ist sie aber jetzt nicht mehr!« rief Miß Manson aus. »Es sind wohl noch Spuren davon zu erkennen, aber … jedenfalls werden Sie sie in fünf Minuten sehn.«

Wir fanden Lady Renardsmere in einer Ecke ihres Parks. Obwohl eine große Anzahl Gärtner angestellt war, ihn in Ordnung zu halten – dies war mir beim Durchgehen aufgefallen – fanden wir sie damit beschäftigt, etwas Stallmist mit einer Gabel in ein Beet einzugraben. Sie trug ein grobes, schmutziges Gartenkleid, hatte einen alten Hut auf dem Kopf, der durch einen ebenso alten Schleier festgebunden war. Als wir auf sie zukamen, richtete sie sich auf, stützte dabei mit einer Hand ihren Rücken und sah mich von Kopf zu Fuß prüfend an. Ich hielt ihrem Blick stand. Eine merkwürdige Frau, dachte ich mir. Sie hatte ein tief gefurchtes, runzeliges Gesicht, einen seltsamen Mund und dunkle lebhafte Augen.

»Wer ist dieser junge Mensch?« fragte sie, als wir noch sechs Schritte von ihr entfernt waren. »Ein Bekannter von Ihnen, Peggy Manson? Gut aussehender Bursche, übrigens seine Haltung ist gut, hm!«

»Er hat erfahren, Lady Renardsmere, Sie suchten einen Privatsekretär, und er glaubt, diesen Posten ausfüllen zu können«, antwortete Miß Manson, als ich mich grade vor Lady Renardsmere verbeugte. »Er war lange Zeit Sekretär des berühmten Barrett Oliver, und er hat großartige Zeugnisse.«

Ein merkwürdiger Glanz kam in die Augen der alten Dame.

»Barrett Oliver! Guter Gott! Er war grade am Anfang seiner Laufbahn, als ich abging!« sagte sie. »Hm, und wie heißen Sie, junger Mann?«

»Mein Name ist James Cranage, Lady Renardsmere«, antwortete ich.

»Sie haben selber auf den Brettern gestanden, wie?« fragte sie. »Ich dachte es mir, man kann es Ihnen ansehn! Sie verstehen es, Ihr Kinn hochzuhalten und Ihre Muttersprache zu sprechen, hm!«

Sie nahm ihre Gartenhandschuhe ab und warf sie beiseite.

»Wo sind Ihre Papiere?« fragte sie. »Ich will sie mir mal ansehn.«

Ich überreichte ihr die Referenzen und Zeugnisse, die ich schon Miß Manson gezeigt hatte. Die alte Dame las sie mit undurchdringlicher Miene durch; endlich suchte sie zwei Briefe aus und deutete auf die Unterschriften und Adressen.

»Diese zwei Herren kannten Sie persönlich?« fragte sie.

»Ja, Lady Renardsmere, schon seit meiner Kindheit«, antwortete ich.

»Ich werde sie im Laufe des Tags anrufen«, sagte sie. »Kommen Sie morgen früh um zehn Uhr hierher, dann werden wir alles vereinbaren. Bis dahin werde ich Ihre Papiere behalten. Nun, Peggy Manson, was wünschen Sie?«

Ich machte eine Verbeugung und entfernte mich; fünf Minuten später kam Miß Manson zu mir, und wir gingen fort.

»Merkwürdige Frau!« bemerkte ich, als wir außer Hörweite waren.

»Merkwürdig? Warten Sie nur, bis Sie sie richtig kennenlernen!« rief Miß Manson aus. »Aber, eins steht fest, sie ist die gütigste Frau in ganz England!«

»Es scheint hier viele solcher Frauen zu geben«, sagte ich schüchtern. »Oder ich muß ganz besonderes Glück haben.«

»Bitte, keine Komplimente«, sagte sie. »Also, Sie sollen morgen um zehn Uhr dort sein. Was werden Sie bis dahin tun?«

»Wo liegt die nächste Stadt – mit anständigen Geschäften?« fragte ich.

»Gar keine Stadt liegt in der Nähe«, antwortete sie. »Nur ein größeres Dorf, Chilbourne, dort gibt es gute Geschäfte. Es liegt zwei Meilen von hier, an der Straße, die durch Renardsmere führt.«

»Dann werde ich dahin gehn, einige notwendige Sachen einzukaufen, und zurückkommen und in dem Gasthof ›Haus Renardsmere‹ übernachten«, antwortete ich. »Und wenn mich Lady Renardsmere morgen früh engagiert, so werde ich um einen Tag Urlaub bitten und nach London fahren, um meine Sachen herbringen zu können.«

»Sie wird Sie schon nehmen«, sagte Miß Manson trocken. »Ich kenne sie. Sie haben ihr schon gefallen, als sie Sie sah. Sie haben Glück!«

»Glück habe ich seit heute früh um sechs Uhr gehabt, finden Sie nicht auch?« fragte ich. »Jetzt bleibt nur noch übrig, alles Geld, was ich nur irgendwie zusammenraffen kann, auf Rippling Ruby zu setzen …«

»Lassen Sie die Finger davon, ich rate jedem davon ab!« unterbrach sie ziemlich streng. »Da wir grade vor dem Gasthof sind, wäre es besser, Sie gingen hinein und nähmen sich ein Zimmer. Ich muß weiter, ich habe ziemlich viel zu tun.«

Sie lächelte und nickte mir zu, und als sie gerade in einen Weg einbog, der nach den Pferdeställen führte, fand ich den Mut, sie zurückzurufen.

»Nun?« fragte sie immer noch lächelnd.

»Ich … ich darf Sie doch wohl wiedersehn, nicht wahr?« fragte ich.

»Wenn Sie sich mit Lady Renardsmere einigen, und ich bin ziemlich sicher, Sie werden es tun, dann werden Sie mich wahrscheinlich so oft sehn, daß Sie meiner bald überdrüssig werden«, entgegnete sie. »Jetzt gehn Sie nur hinein und sehn Sie zu, daß Sie ein Zimmer bekommen.«

Daraufhin eilte sie, ohne sich noch einmal umzudrehen, fort. Ich ging in den Gasthof und erklärte der Wirtin, ich wollte im Dorf übernachten, da ich morgen früh mit Lady Renardsmere Geschäftliches zu erledigen hätte. Dies verschaffte mir das beste Zimmer, und nachdem ich es gesehn hatte, ging ich in das Gastzimmer, um noch etwas, bevor ich nach Chilbourne ging, zu trinken. Einige Männer saßen beim Mittagsschoppen und unterhielten sich grade über den zertrümmerten Wagen im Kreidebruch. Und wie es in solchen Orten zu sein pflegt, gab es auch hier einen Mann, der alles besser wußte als die übrigen. Er saß in einer Ecke mit einem Schoppen Bier vor sich und belehrte die anderen.

»Sagt mir nicht, daß hinter der ganzen Geschichte nichts steckt«, sagte er gerade, wie ich hereinkam. »Es wird viel über den Wagen im alten Kreidebruch geredet. Der Schutzmann sagt dies, und ein andrer sagt das. Aber ich weiß, was das alles zu bedeuten hat!«

»Nun, und was meinst du?« verlangte ein andrer zu wissen.

»Es bedeutet einen Diebstahl, wie man's jetzt immer in der Zeitung liest!« erklärte er. »Diebstahl! das ist, was es bedeutet. Das sind solche Kavalierdiebe gewesen, die von London hergekommen sind. Wartet nur bis heute abend, und wenn ihr nicht hört, es sei vorige Nacht in einem vornehmen Hause hier in der Nähe eingebrochen worden, und alle goldenen Uhren und silbernen Löffel seien gestohlen, dann will ich Pietsch heißen! Diebstahl – goldne Uhren und silberne Gabeln!«

»Was hat denn das mit dem Auto in dem Kreidebruch zu tun?« fragte eine ungläubige Stimme. »Ich verstehe nicht …«

»Du hast eben keinen logischen Verstand«, unterbrach er. »Du kannst eben keinen Gedankengang so ausarbeiten wie ich. Ich habe mir die Sache so zurechtgelegt. Diese Burschen da kommen in einem Auto von London her. Sie verüben Einbruch und Diebstahl. Um ihre Spur zu verdecken, bringen sie den ollen Wagen zum Rand der Kreidegrube, stürzen ihn 'rüber, so daß er ganz zertrümmert wird, und gehn dann unauffällig in die andre Richtung davon. So ist es gewesen! Einfach gemütlich entkommen, mit all dem Gold und Silber in den Taschen!«

Auf diese merkwürdige und geistreiche Theorie folgte tiefstes Schweigen. Endlich wurde es durch einen nachdenklich aussehenden Mann, der gespannt zugehört hatte, unterbrochen.

»Daran kann schon was Wahres sein«, meinte er. »Kaum vor einer Stunde, in Chilbourne Valley, hörte ich, daß man dort zwei Fremde vor Sonnenaufgang gesehn habe, wie sie nach dem Bahnhof gingen. Einer war ein großer, dicker Mann, der andre war ein kleiner dicker Mann …«

Ich trank mein Glas Bier und ging hinaus. Quartervayne und Holliment, das stand fest! Was hatte das nur zu bedeuten? Ich konnte verstehen, daß sie mir ein Schlafmittel gaben und mich auf dem Rasen hinlegten. Ich konnte auch verstehen, daß sie das Geld und auch den schnell hingekritzelten Zettel in meine Tasche gesteckt hatten. Das alles hatte Hand und Fuß. Aber warum hatten sie den Wagen zertrümmert?

Doch sich jetzt über all dieses den Kopf zu zerbrechen, hatte keinen Zweck. Ich mußte mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Ich sah mich am Nachmittag etwas in der Gegend um, verbrachte die Nacht angenehm im Gasthof und war Punkt zehn Uhr am nächsten Morgen bei Lady Renardsmere. Fünf Minuten später war ich als Privatsekretär engagiert.


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