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10.
Quartervayne

Obwohl es schon spät am Abend war, hielten sich doch noch einige Hotelgäste in der Halle auf, und um nicht ihre Aufmerksamkeit zu erregen, zeigte ich mich gar nicht überrascht, sondern tat, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, Quartervayne hier zu sehn. Ich ging gleich auf ihn zu und gab ihm die Hand – ich gestehe, sehr ungern. Er drückte meine Hand fast krampfhaft, seine Hand war heiß und feucht, und ich sah sofort, daß er sehr aufgeregt war.

»Ich muß Sie sprechen, wo können wir miteinander reden?« flüsterte er.

Ich warf einen Blick ins Rauchzimmer, an dessen offener Tür wir standen. Es war fast voll besetzt, aber ich sah, daß eine Ecke frei war, und führte Quartervayne dorthin.

»Ich muß erst irgend etwas trinken«, murmelte er, als wir uns hinsetzten. »Dann wollen wir reden.«

Ich winkte einen Kellner herbei und bat meinen Besucher, sich etwas zu bestellen. Er verlangte einen doppelten Kognak mit Soda. Als der Kellner fortging, um das Verlangte zu bringen, wandte ich mich an Quartervayne, entschlossen, eins sofort zu erfahren.

»Woher wußten Sie, daß ich hier bin?«

»Sah Sie im Strand mit Jifferdene von Scotland Yard zusammen«, sagte er und stieß mich mit dem Ellenbogen an. »Kenne ihn, das ist ein schlauer Kerl. Und so folgte ich Ihnen bis hierher. Ich wollte Sie unbedingt sprechen.«

Der Kellner brachte den Kognak und Soda. Quartervayne nahm einen herzhaften Schluck, seufzte vor Erleichterung und wandte sich an mich.

»Sie haben wohl schon über Holliment gehört?« sagte er leise.

»Haben Sie?«

»Es steht in den Abendzeitungen.«

Ich hatte noch kein Abendblatt gelesen und sagte ihm das. Er brachte eins hervor und zeigte mir den betreffenden Artikel.

›Der heute früh in Blomfield Road, Maida Vale, ermordet Aufgefundene ist als Roger Holliment, Altwaren- und Kohlenhändler in Portsmouth identifiziert worden. Bis jetzt ist keine Spur des Mörders gefunden worden, aber die Polizei fahndet eifrig in der Umgebung des Tatorts.‹

»Ich nehme an, Sie haben ihn identifiziert«, sagte er und sah mich von der Seite an. »Ich dachte schon, die Polizei würde Sie ausschnüffeln. Selbstverständlich ist das Holliment. Vielleicht hat die Polizei keine Spur gefunden, aber ich wette, Sie und ich wissen einiges, nicht wahr?«

»Warum sind Sie eigentlich hierhergekommen, Mr. Quartervayne?« fragte ich ihn. »Das möchte ich gern wissen.«

»Das will ich Ihnen sagen«, antwortete er sofort. »Ihretwegen. Durch mich sind Sie in diese verdammte Geschichte verwickelt worden, und es ist meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, Sie wieder herauszukriegen. Nur darum bin ich zu Ihnen gekommen.«

Ich blickte ihn forschend an und sah, daß er die Wahrheit sprach. Er nickte mir zu, als ob er es bestätigen wollte.

»Tatsache«, sagte er. »Aus keinem andern Grunde.«

»Nun, das ist wirklich nett von Ihnen, Mr. Quartervayne, aber in welcher besonderen Gefahr soll ich denn sein?«

Bevor er antwortete, zog er sein Zigarrenetui heraus und bot es mir an. Als ich mich entschuldigte, es sei mir zu spät, um noch eine zu rauchen, steckte er sich eine an. Ich bemerkte, wie seine Hand zitterte, als er das Streichholz anzündete, und ich konnte auch sehen, daß er sehr aufgeregt war. Aber einige Züge und noch ein Schluck Kognak schienen ihn zu beruhigen.

»Nun passen Sie mal auf«, sagte er plötzlich. »Es hat gar keinen Zweck, um den heißen Brei herumzugehen, wir beide wissen ganz genau, wer Holliment ermordet hat! Der verdammte Chinese! So wahr wie ich Sie jetzt hier vor mir sitzen sehe. Und er wird mich ermorden und auch Sie ermorden, wenn wir ihm die Möglichkeit dazu geben. Hauptsache ist jetzt zu verduften. Ich verschwinde, und wenn Sie klug sind, verschwinden Sie auch!«

»Aber wohin?« fragte ich.

»Egal wohin, nur weg«, gab er zurück. »Machen Sie, daß Sie aus England, für einige Zeit wenigstens, fortkommen. Das erste, was ich morgen früh tue, ist abzureisen. Nach Vlissingen oder Middleburg, ich habe Freunde in beiden Orten. Kommen Sie mit. Sie sind ein kluger Kerl, und ich werde Sie schon unterbringen. Um Geld brauchen Sie sich nicht zu sorgen, ich hab' genug, mehr als genug. Kommen Sie! Sie können bei mir eine Stellung bekommen. Ich kann ebensogut von Middleburg oder Vlissingen oder einem anderen Ort aus meine Geschäfte erledigen, wie in London oder Portsmouth. Warum hierbleiben und über kurz oder lang von dem Chinesen erstochen werden. Ich bleib' nicht hier, kein Gedanke daran.«

»Mr. Quartervayne«, sagte ich, »ich wäre Ihnen zu Dank verpflichtet, wenn Sie mir klipp und klar sagen würden, warum der Chinese mich oder Sie erstechen will, auch warum er den armen Holliment ermordet hat. Sie können mir das in aller Ruhe erzählen, Mr. Quartervayne – wir sind hier ganz sicher.«

»Das beruhigt mich etwas«, sagte er und sah sich im Zimmer um. »Ich habe mich den ganzen Tag über, auch im hellen Tageslicht, nicht einen Augenblick sicher gefühlt. Aber sagen Sie mir erst, was haben Sie der Polizei erzählt, was haben Sie den Scotland-Yard-Beamten gesagt?«

»Einfach die Wahrheit über mein Erlebnis in Portsmouth, Mr. Quartervayne. Von unserer Begegnung an, bis ich in Chilverton aufwachte«, antwortete ich ihm. »Das mußte ich schon tun.«

»Ja, das mußten Sie«, gab er zu. »Aber wieviel weiß die Polizei?«

»Eigentlich nichts«, sagte ich. »Nur daß irgendwo ein Chinese sich versteckt hält, der aus irgendeinem Grunde von einem sehr reichen Landsmann gesucht wird, und den sie für Holliments Mörder hält.«

»Sie hat keine Ahnung, wo er steckt?« fragte er.

»Nein, bis jetzt nicht«, antwortete ich. »Wissen Sie es vielleicht?«

Er zuckte die Achseln und schnitt ein Gesicht. Dann trank er seinen Kognak aus, winkte dem Kellner, bestellte noch einen und wandte sich wieder an mich.

»Ich!« sagte er. »Großer Gott! Nein! Er muß irgendwo hier in London sein, wie Sie es sich nach dem Mord von gestern abend denken können. Aber Sie möchten Näheres über alles erfahren. Sollen Sie auch, Sie werden dann alles begreifen. Warten Sie noch einen Augenblick.«

Er schwieg, bis ihm der Kellner das zweite Glas Kognak gebracht hatte. Er leerte es zur Hälfte und rückte dann auf dem Sofa, auf dem wir saßen, näher an mich heran und fuhr mit leiser Stimme fort:

»Holliment betrieb die verschiedensten Geschäfte in Portsmouth. Er war einmal Altwarenhändler, dann hatte er noch dieses Kohlengeschäft, ich war darin sein Teilhaber. Das Geschäft ging gut, warf viel ab! Er war auch etwas bei mir beteiligt. Ich bin nämlich Buchmacher, aber ich befasse mich noch mit anderen Dingen. Holliment hatte aber noch ein Geschäft, ganz für sich allein. Er besaß noch so eine Art Pension in Portsea, ein Haus dritten Ranges. Die ärmeren Handlungsreisenden kamen dorthin. Sie kennen wohl die Art – Zimmer und Frühstück für drei Schilling und die andern Preise demgemäß. Nun, eines Tages kam ein Chinese dorthin. Dieser Chinese!«

»Bevor Sie fortfahren, Mr. Quartervayne«, unterbrach ich ihn. »Würden Sie mir, bitte, sagen, haben Sie jemals den Mann gesehn?«

»Nur ein- oder zweimal, von weitem«, antwortete er. »Auf der Straße mit Holliment zusammen.«

»Können Sie mir sagen, ob er irgendwie verunstaltet ist?« fragte ich. »Narbe irgendeiner Wunde oder so was Ähnliches?«

»Könnte ich nicht behaupten«, antwortete er. »Hab' ihn nie so nahe gesehn. Er war ein anständig angezogener Mann, europäische Kleidung, besser angezogen als die meisten von Holliments Logiergästen. Aber ein Chinese.«

»Nun«, fragte ich, »und wie heißt er?«

»Er nannte sich Chuh Sin. Er erzählte Holliment, er wäre nach Portsea gekommen, um das Leben in einem großen englischen Hafen kennenzulernen. Wer er wurde krank, und ein Doktor mußte geholt werden. Dieser dachte, der Kerl würde die Pocken kriegen, und schickte ihn auf der Stelle in ein Krankenhaus. Nun war er vier oder fünf Wochen in Holliments Pension gewesen und hatte niemals einen Pfennig gezahlt – er behauptete immer, er erwarte eine Geldüberweisung. Und da der Arzt Holliment sagte, er glaubte, es sei ein schlimmer Fall, und der Mann würde höchstwahrscheinlich sterben, machte Holliment was furchtbar Dummes. Er verkaufte alles, was dem Chinesen gehörte, Bücher, einige Instrumente und so weiter, um sich für seine Forderung schadlos zu halten. Dann erschien aber der Kerl eines Tages. Die ganze Sache war ein falscher Alarm gewesen, der Mann hatte gar nicht die Pocken, er war vollkommen gesund, und das Krankenhaus setzte ihn vor die Tür. Ich erfuhr es eines Morgens durch einen Angestellten des Krankenhauses, daß der Chinese entlassen worden sei, und ich kann Ihnen sagen, das hören und die Beine unter die Arme nehmen war eins. Es war dies der Morgen, an dem ich Sie traf.«

Ich drehte mich nach ihm um und sah ihn fest an.

»Wollen Sie mir allen Ernstes sagen, Herr Quartervayne, daß Sie zu Tode erschrocken waren, nur weil ein Chinese aus dem Krankenhaus entlassen wurde, und daß Sie deswegen flohen? Ich bin nicht so dumm, wie Sie sich's vielleicht denken. Hier muß noch mehr dahinterstecken.«

»Sie kennen Asiaten nicht«, gab er zurück. »Ich wußte ganz genau, daß der Chinese, sobald er herausfand, daß Holliment seine Sachen verkauft hatte, hinter ihm und jedem, der mit Holliment zusammenhing, her sein würde. Und er wußte, daß ich Holliments Teilhaber war.«

»Das hängt doch wohl ganz davon ab, was sich unter den verkauften Sachen befand, Herr Quartervayne«, sagte ich ironisch. »Na, Sie müssen's ja wissen, aber fahren Sie fort.«

»Es gibt nichts mehr zu erzählen«, sagte er. »Ich machte mich aus dem Staube, wenigstens für den einen Tag. Ich sandte Holliment eine Warnung, durch Sie. Das übrige kennen Sie. Der Chinese erwischte Holliment gestern abend, Sie wissen ja, was geschehen ist.«

Ich schwieg für einige Augenblicke. Ich überlegte mir alles, und schließlich ging mir ein Licht auf. Holliment mußte, wie er die Sachen des Chinesen untersuchte, irgend etwas Wertvolles, vielleicht sogar sehr Wertvolles, gefunden haben. Er mußte es, was es nun auch gewesen sein mag, seinem Freund Quartervayne gezeigt, und beide mußten es an sich genommen und verkauft haben. Zu irgendeiner andern Schlußfolgerung zu kommen, war unmöglich. Aber es hatte gar keinen Zweck, Quartervayne weiter auszufragen, nur über einige Dinge, die mich persönlich berührten, wollte ich Auskunft haben. Und bevor ich ihn darüber ausfragte, fiel mir ein, daß Quartervayne höchstwahrscheinlich nichts über meine Stellung im Schloß Renardsmere wußte.

»Ja, ich weiß, was in Holliments Laden vor sich gegangen ist, Mr. Quartervayne«, sagte ich. »Wer sollte auch darüber besser Bescheid wissen als ich. Aber jetzt möchte ich einige Fragen an Sie richten. Holliment brachte mich den Abend in seinem Auto aus Portsmouth. Wir fuhren von einem Hof, der nicht weit von seinem Laden entfernt lag, ab. Nun möchte ich wissen, waren Sie dabei?«

»Nun gut, wenn Sie's wissen wollen«, sagte er. »Ich fuhr mit. Nicht von Anfang an; ich stieg erst später ein, in der Nähe von Cosham, am oberen Ende der Stadt.«

»Ich nehme an, ich schlief«, sagte ich fragend. »Ich muß wohl ganz fest geschlafen haben?«

»Na ja, offen gesagt, Sie waren betäubt«, erwiderte er ruhig. »Sie werden sich erinnern, daß er Ihnen kurz vor der Abfahrt einen Whisky gegen die Kälte gab. Ja, er hatte ein Schlafmittel hereingetan. Ganz harmloses Mittel – Ihnen ist ja auch nichts passiert.«

»Und Sie beide entledigten sich meiner bei den Stallungen von Chilverton, nicht wahr?« sagte ich.

»Ja, oberhalb vom Hause des Trainers Manson, wissen Sie. Oh, den alten Manson kannte ich gut. Seine Tochter führt die Sache jetzt weiter, ein verdammt gescheites Mädel ist das! Ja, wir setzten Sie dort ab und steckten Ihnen hundert Pfund und einen Zettel in Ihre Tasche. So 'ne Art Entschädigung. Hundert Pfund sind hundert Pfund! Ich glaube wohl, Sie konnten Sie gut gebrauchen. Sie waren abgebrannt, als ich Sie zuerst traf.«

»Vorübergehend, Mr. Quartervayne, nur vorübergehend«, sagte ich. »Aber warum haben Sie nur den Wagen in den Kreidebruch gestürzt?«

»Die verdammte Kiste hatte eine Panne. Holliment konnte den Wagen nicht wieder starten, und so nahmen wir das Nummernschild ab und versteckten es im Heidekraut – Sie müßten es finden, wenn Sie auf die richtige Stelle kämen. Dann schoben er und ich den alten Kasten über die Weide und über den Rand der Grube, um ihn vollkommen zu zertrümmern. Wir wollten unsre Spuren verwischen, wissen Sie.«

»Und danach sind Sie wohl bis zur nächstliegenden Bahnstation gelaufen und haben einen ganz frühen Zug genommen?« fragte ich.

»Ganz recht«, gab er zu, »das taten wir. Dann sind wir nach London gefahren und sind seitdem hier. Nun ist, was ich schon befürchtet hatte, dieser verdammte Chinese auch hierhergekommen, und jetzt hat er Holliment ermordet.«

»Mr. Quartervayne«, sagte ich, »wenn Sie ganz sicher sind, daß dieser Chinese Holliment ermordet hat, warum gehen Sie da nicht zur Polizei.«

»Nein!« rief er sofort aus. »Ich will nichts mit den Brüdern zu tun haben. Hatte nie etwas mit ihnen zu tun und will es auch nie. Die sollen ihren Mist nur alleine fahren, ich helfe ihnen nicht!«

»Sie brauchten der Polizei ja nur das zu sagen, was Sie mir eben erzählt haben«, sagte ich.

»Ihnen was erzählen? Gar nichts!« rief er aus. »Und wie sollte ich einen Chinesen von einem andern unterscheiden? Sie sehen sich so ähnlich – gelbe Gesichter, geschlitzte Augen. Kann Ching nicht von Chang unterscheiden. Nein!«

»Wie Sie mir sagten, heißt dieser Mann Chuh Sin.«

»Ich nehme an, ein Chinese kann sich genau so rasch einen neuen Namen zulegen wie ein Engländer«, erwiderte er. »Er kann jetzt Lo Ping oder Ah Fu heißen. Ich will nichts mit der Polizei zu tun haben! Ich habe es satt! Morgen ganz früh verdufte ich. Kommen Sie mit, wir gehn nach Vlissingen oder Middleburg. Ich werde Sie als meinen Sekretär gut bezahlen. Ich sehe ja, daß Sie ein gescheiter Kerl sind, und Sie haben sicherlich eine gute Schulbildung gehabt. Ich habe keine – hab' nicht viel Gelegenheit dazu gehabt.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, Mr. Quartervayne, aber ich gehe nicht mit«, sagte ich. »Ich fürchte mich nicht vor diesem geheimnisvollen Chinesen, obwohl ich, nach Ihrer Erzählung zu urteilen, nicht leugnen kann, daß scheinbar jedem Gefahr droht, der das Pech hat, irgendwie mal mit Holliment bekannt gewesen zu sein. Aber ich möchte Sie noch einiges fragen. Zuerst – wissen Sie, unter welchen Umständen Holliments Leiche aufgefunden wurde?«

Er schauderte unwillkürlich und seine Augenlider zuckten nervös.

»Ich weiß, wo er gefunden wurde, und was ihm passiert ist«, brummte er. »Verdammte Chinesen, die können mit dem Messer umgehen, brr!«

»Das meinte ich nicht«, sagte ich, »wissen Sie, daß Holliments Uhr und Kette – mindestens fünfzig Pfund wert – neben ihm auf der Straße lagen, daß er drei- bis vierhundert Pfund in Noten bei sich trug, die ebenfalls verstreut umherlagen, und daß seine Kleidung an allen Stellen, wo nur irgend etwas in dem Futter oder in den Nähten versteckt sein könnte, aufgeschlitzt war? Wissen Sie das alles, Mr. Quartervayne? So, dann sagen Sie mir, bitte, was suchte eigentlich der Mörder? Kommen Sie, rücken Sie mit der Sprache heraus!«

Kaum hatte ich diese offene Frage an Quartervayne gestellt, wußte ich auch schon, daß ich keine offene Antwort bekommen würde. Wie nervös und aufgeregt er auch sein mochte, seine Gesichtszüge konnte er doch beherrschen. Sein rundes volles Gesicht wurde starr und ausdruckslos. Er hob die Hand, streichelte sein Kinn und schüttelte den Kopf.

»Keinen Schimmer«, antwortete er. »Verstehe die Asiaten nicht.«

»Möglich. Aber Sie verstehn doch die menschliche Natur gut genug, um zu wissen, daß eine wertvolle goldene Uhr und drei- bis vierhundert Pfund in Noten einen Europäer oder einen Asiaten schon in Versuchung bringen könnten – besonders wenn nichts weiter zu tun ist, als sie einzustecken«, sagte ich. »Und Sie wissen ganz genau, Mr. Quartervayne, daß dies kein gewöhnlicher Mord war. Er ist nicht von irgendeinem Kerl ermordet worden, der ihn nur ausplündern wollte. Wer es auch gewesen sein mag, der Holliment ermordet hat, und möglicherweise hat es der Chinese gar nicht getan …«

»Wer sollte es denn sonst gewesen sein?« fragte er scharf. »Wer denn sonst?«

»Es kann ein Engländer gewesen sein«, sagte ich. »Ich weiß es nicht, und Sie wissen es auch nicht. Wer wie ich schon sagte, wer auch immer ihn ermordet hat, muß irgend etwas Besonderes bei ihm gesucht haben. Er hat Holliments Kleidung hastig durchsucht und alles andre beiseite geworfen –«

»Hören Sie mal«, unterbrach er. »Sie sind verdammt schlau, aber es gibt auch noch andre Möglichkeiten. Wie, wenn der Chinese, bevor er die Uhr und das Geld einstecken konnte, gestört wurde? Vielleicht hörte er jemand kommen, und machte, daß er davon kam!«

»Das glauben Sie doch selbst nicht, Mr. Quartervayne«, rief ich aus. »Das ist eine vollkommen haltlose Theorie. Er hatte ja Zeit, Holliments Kleidung aufzuschneiden, die Schulterpolsterung zu zerreißen und den Leibriemen abzunehmen, um festzustellen, ob er unter seinem Hemd einen Geldbeutel trug. Nein, er muß hinter irgend etwas anderen hergewesen sein. Nun, was war es?«

»Ich sage Ihnen, ich weiß nichts«, sagte er. Ich weiß gar nichts darüber.«

»Na, dann gut«, sagte ich. »Wer kennen Sie vielleicht einen Mann, der Neamore, Percy Neamore, heißt?«

Er fuhr zusammen, als ob ich mit einem Revolver auf ihn gezielt hätte, und sein rundes Gesicht wurde bleich.

»Was wissen Sie über Neamore?« verlangte er zu wissen. »Wenn – – –«

»Das ist nebensächlich«, erwiderte ich ihm. »Kennen Sie ihn? Ich glaube, ja, Mr. Quartervayne, und ich will Ihnen auch sagen, warum. Holliment und Neamore waren noch spät gestern nacht im Warrington-Hotel in Maida Vale, und als sie es zusammen verließen, wollten sie noch jemanden in der naheliegenden Delaware Road aufsuchen. Sie ist nicht weit vom Tatort entfernt. Wollten die beiden Sie aufsuchen? Ich sah Sie nämlich heute nachmittag in Delaware Road, wie Sie an mir vorbeifuhren. Nun erzählen Sie mir mal, wer ist Neamore?«

Er starrte mich an, dann sprang er auf und ging aus dem Zimmer. Bevor ich ihm folgen konnte, war er schon aus dem Hotel und verschwand in der Dunkelheit.


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