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4.
Der Kreidebruch

Obwohl ich durch das plötzliche Erwachen verwirrt war, sah ich doch alles recht deutlich. Vor allem interessierte mich das junge Mädchen. Sie trug ein Reitkostüm, dazu eine weiße Halsbinde, und ihre Reitstiefel waren blank gewichst. Trotz der frühen Morgenstunde war ihre Erscheinung äußerst gepflegt. Sie hatte etwas Amazonenhaftes an sich, aber dabei war der Gesamteindruck durchaus weiblich; ihr rotgoldenes Haar, ihre leuchtenden braunen Augen und ihre roten Lippen fielen mir auf. Aber ihre Lippen hatte sie in diesem Augenblick fest zusammengepreßt, und eine Falte lag zwischen ihren schöngeschwungenen Augenbrauen. Ich konnte sehen, daß sie nicht grade in rosigster Laune war. Nun konnte ich mir auch erklären, warum ich geträumt hatte, der Chinese stieße mir ein Messer zwischen die Rippen; das junge Mädchen hatte eine Reitgerte in der Hand, hiermit hatte sie mich, als sie mich hier schlafen sah, in die Rippen gestoßen, um mich aufzuwecken. Sie stieß mich gerade energisch in die Achselhöhle, als ich aufwachte und sie sah.

Ich richtete mich mit Mühe auf und blickte lange auf das junge Mädchen, das Pferd und das Heidekraut und Gras der Umgebung. Als meine Augen den ihren begegneten, sagte sie:

»Was haben Sie hier zu suchen? 'raus mit der Sprache!« Sie hatte eine schöne Stimme, aber so gebieterisch hatte ich noch niemanden, selbst meine Lehrer nicht, sprechen hören. Der Ton zwang mich, trotz meiner Schlaftrunkenheit mich etwas zusammenzunehmen.

»Das möchte ich selbst gerne wissen«, antwortete ich. Die Falte zwischen ihren Augenbrauen wurde stärker, und ich sah, wie ihre schlanken Finger ihre Reitgerte fester umklammerten.

»Lügen Sie nicht!« befahl sie. »Sie haben hier im Freien übernachtet. Haben sich natürlich verschlafen, und da habe ich Sie ertappt, bevor Sie aufwachen und sich verstecken konnten. Nun erzählen Sie mir keine Märchen! Sie haben draußen geschlafen, um die da zu beobachten.«

Sie hob ihre Gerte und deutete damit auf die Wiesen, die hinter ihr lagen. Jetzt sah ich einige Rennpferde, die auf einer Weide im Schritt bewegt wurden. Ich zählte sie ganz mechanisch: eins, zwei, drei, vier, fünf. Jetzt verstand ich, was sie meinte. Sie mußte gedacht haben, ich hätte mich hier oben versteckt, um die Rennpferde zu beobachten.

»Antworten Sie!« befahl sie. »Darum sind Sie doch hier?«

Ich schüttelte meinen Kopf und muß dabei ziemlich dumm gelächelt haben.

»Nein, deswegen nicht«, sagte ich. »Pferde? Du lieber Himmel! Das sind wohl Rennpferde, ja? Ich habe in meinem Leben noch nie ein Pferderennen gesehn! Nein, deswegen bin ich nicht hier.«

»Warum sind Sie denn aber hier?« fragte sie und sah mich mit wachsendem Erstaunen an. »Sie – Sie sprechen wie ein gebildeter Mensch, Sie sind gut angezogen, Sie – was bedeutet das? Dies hier ist privater Grund und Boden, er gehört mir. Was haben Sie hier zu suchen? Warum haben Sie hier geschlafen? Sehn Sie! Ihre Kleidung ist vom Tau ganz durchnäßt!«

Das schien mir ganz nebensächlich zu sein. Aber als ich mich ansah, bemerkte ich, daß mein blauer Serge-Anzug mit Tau bedeckt war. Wie ich das sah, versuchte ich aufzustehen; erst kam ich auf die Knie, dann richtete ich mich ganz auf, und schon taumelte ich wie ein Betrunkener. Blitzschnell legte sie ihren Arm um meine Schulter, und ihre Stimme klang besorgt.

»Was fehlt Ihnen?« rief sie. »Sind Sie krank?«

Ich versuchte mit größter Anstrengung aufrecht zu stehen und packte den Sattel des Pferdes. Es war ein kräftiges Tier, und das Gefühl, mich an ihm anhalten zu können, gab mir einige Sicherheit. Jetzt brachte das junge Mädchen aus einer Tasche ihrer Reitjacke eine kleine silberne Flasche hervor, schraubte den Deckel ab und reichte sie mir.

»Trinken Sie!« befahl sie.

Ich trank; es war guter, alter Kognak. Er stärkte mich, gab mir mein Gleichgewicht wieder und rief die Erinnerung an Holliment und gestern abend zurück. Ich gab ihr die Flasche mit einem Kopfnicken zurück und blickte mich dann langsam um. Ich sah unten ein Tal liegen, dann welliges Gelände, und hier und dort einen Kirchturm oder die Giebel eines Landsitzes oder Bauernhauses; in einiger Entfernung im bläulichen Dunst die Dächer und Türme einer Stadt, und gleich dahinter das Meer. Ich zeigte auf die Stadt.

»Was ist das für eine Stadt da drüben?« fragte ich.

»Das?« rief sie aus. »Portsmouth!«

Ich richtete mich an der Schulter des Pferdes auf.

»So, so«, sagte ich. »Das letzte, woran ich mich erinnern kann, bevor Sie mich weckten, ist, daß ich von Portsmouth in einem Auto wegfuhr! Ich weiß genau so wenig wie Sie, wie ich hierher gekommen bin. Ich glaube, man hat mir ein Schlafmittel gegeben. Wo bin ich denn?«

Vor Erstaunen öffnete sie ihre Augen ganz weit, doch antwortete sie sofort.

»Wo Sie sind? Dies hier ist Gut Chilverton, zwölf Meilen von Portsmouth. Sie sagen, Sie wären in einem Auto von dort abgefahren? Wann?«

»Gegen Mitternacht«, antwortete ich. »Aber an welchem Tag das war, weiß ich nicht. Ich muß betäubt worden sein. Sobald ich im Auto saß, schlief ich augenblicklich ein, und dann kann ich mich an nichts mehr erinnern. Gibt es – führt irgendeine Straße von Portsmouth über diese Wiesen nach London?«

»Keine direkte Straße«, antwortete sie, »aber fünfzig Schritt von hier entfernt, grade hinter dem großen Ginsterbusch, liegt eine Straße. Wer hat Sie gefahren?«

»Hm«, sagte ich. »Das möchte ich wissen. Denn jetzt bin ich mir nicht mehr ganz sicher. Ich dachte – aber es hat keinen Zweck, nachzugrübeln. Betäubt? Natürlich, es war der Whisky vor der Abfahrt!«

»Waren Sie betrunken?« fragte sie plötzlich ganz geradezu.

»Betrunken? Nein!« lachte ich. »Wenn Sie wüßten …« Ich stockte. Ich hatte mein Taschentuch aus der inneren Rocktasche holen wollen, und dabei hatte ich noch etwas anderes in der Tasche gefühlt. Geld! Münzen!

»Donnerwetter!« sagte ich. »Was hat denn das zu bedeuten?«

Ich holte die Münzen heraus und ließ sie in meine Hand fallen – Sovereigns! Es wollte gar kein Ende nehmen. Meine Hand war kaum groß genug! Damals war eine Goldmünze etwas ganz Alltägliches, trotzdem schrie das junge Mädchen vor Überraschung auf.

»Ja«, sagte ich, »mir geht es auch so. Aber – hallo! da ist ja noch etwas.«

In meiner Tasche steckte noch ein zerknittertes Stück Papier. Ich nahm es heraus und faltete es, so gut es mit einer Hand ging, auseinander. Darauf stand in Bleistift geschrieben:

»Halten Sie den Mund!«

Ich merkte, sie hätte den Zettel gern gelesen, aber ich wollte ihn ihr nicht geben. Ich legte ihn mit dem Gold in die Tasche zurück, sah sie an und sagte höflich:

»Es tut mir sehr leid, daß Sie mich auf Ihrem Grundstück gefunden haben. Ich bin Ihnen für den Kognak und für Ihre Teilnahme sehr zu Dank verpflichtet. Offen gesagt – ich wurde ganz durch Zufall gestern abend in ein äußerst merkwürdiges Abenteuer in Portsmouth verwickelt. Der Mann, der mit dabei war, versprach, mich in seinem Auto nach London zu bringen, und gab mir vor der Abfahrt einen kräftigen Schluck Whisky. Er muß ein Schlafmittel hineingetan haben, und dann muß er mich wohl an der Stelle, wo Sie mich fanden, zurückgelassen haben. Ich werde aber jetzt gehen. Nur fühle ich mich noch etwas schwindlig und übel, gibt es vielleicht einen Gasthof oder ein Bauernhaus in der Nähe, wo ich mich eine Zeitlang ausruhen könnte?«

Sie hatte die ganze Zeit über aufmerksam zugehört und mich dabei forschend angesehn, jetzt zog sie, ohne ein Wort zu verlieren, eine silberne Pfeife aus der Tasche und blies darauf. Ein Mann, den ich in einiger Entfernung zu Pferd bemerkt hatte, drehte sich bei dem Pfeifensignal rasch um und kam herangaloppiert. Er hatte ein scharf geschnittenes Gesicht und kluge Augen, und als er ganz nahe herangekommen war, sah er mich forschend an.

»Bradgett!« sagte sie. »Ich gehe nach Haus. Kümmern Sie sich um alles, ich komme heute früh nicht mehr her.«

Der Mann legte nach Stallburschenart die Hand an die Mütze und ritt schweigend fort. Das junge Mädchen wandte sich an mich.

»Kommen Sie mit mir«, sagte sie. »Ich werde Ihnen etwas Frühstück geben. Halten Sie sich am Sattel fest, da werden Sie besser gehen können.«

Ich war recht froh, dies tun zu können, denn ich fühlte mich noch elender als vorhin.

»Sie sind sehr liebenswürdig einem vollkommen Fremden gegenüber, den Sie noch dazu unter so eigenartigen Umständen gefunden haben«, sagte ich, als sie mich den Abhang hinunterführte. »Darf ich fragen, wem ich zu so großem Dank verpflichtet bin?«

Sie sah mich sonderbar an, dann lächelte sie.

»Sie sagten doch, Sie wären noch nie bei einem Pferderennen gewesen?« bemerkte sie.

»Niemals!« sagte ich. »Alles, was mit Pferderennen zusammenhängt, ist mir ein Buch mit sieben Siegeln.«

»Ich dachte es mir«, sagte sie lachend. »Sonst wüßten Sie, wer ich bin. Ich bin der Trainer Peggy Manson. Haben Sie nie vom berühmten Kit Manson gehört, der fünf Derby- und sechs St.-Leger-Sieger trainierte? Er war mein Vater; als er vor zwei Jahren starb, übernahm ich den Stall. Weil ich ein Pferd für das Derby trainiere, wollte ich unbedingt wissen, warum Sie hierhergekommen waren, und was Sie hier zu suchen hatten. Ich will nicht, daß Fremde sich hier herumtreiben und hier ihre Nase in alles hineinstecken, verstehen Sie? Ich dachte, Sie hätten so etwas vor.«

»Bin ganz unschuldig, Miß Manson«, antwortete ich. »Mein Name ist Cranage, James Cranage, ich bin eigentlich Schauspieler von Beruf, aber zuletzt war ich Privatsekretär des berühmten Schauspielers und Regisseurs Barrett Oliver. Oliver ist jetzt auf einer Tournee in Australien, ich hatte keine Lust, ihn zu begleiten, und suche nun daher eine neue Stellung. Wie ich in das Abenteuer, von dem ich vorhin sprach, verwickelt wurde, erzähle ich Ihnen vielleicht – –«

»Warten Sie, bis Sie gefrühstückt haben«, unterbrach sie. »Sie sehen noch ziemlich mitgenommen aus. Wir haben aber nicht weit zu gehen, nur um die Ecke dieses Wäldchens.«

Bald kam ein Haus und Stallungen in Sicht. Ich hatte noch nie einen Rennstall gesehen, und seine Größe und Ausdehnung überraschten mich, ebenso das schöne Wohnhaus, zu dem sie mich führte. An der Schwelle zögerte ich.

»Ihre Dienstboten«, sagte ich, »werden denken, Sie brächten einen Landstreicher mit.«

»Nicht, wenn Sie sich gesäubert haben«, gab sie lachend zurück. »Mehr ist augenblicklich gar nicht nötig. Aber kommen Sie erst ins Eßzimmer.«

Sie führte mich in das Eßzimmer und holte eine Flasche Champagner herbei. Diese öffnete sie geschickt und schenkte mir ein.

»Trinken Sie!« befahl sie. »Sie werden sich dann wie neugeboren fühlen! Ich werde Ihnen ein Bad bereiten lassen, und Sie werden ganz frisch zum Frühstück herunterkommen, nicht wahr?«

Sie lachte lustig, als sie mir das Glas reichte; ihre Heiterkeit steckte mich an, und ich mußte auch lachen.

»Tausend Dank!« sagte ich. »Sie sind wirklich ein Prachtmädel! Ich trinke auf Ihr Wohl!«

Eine Stunde später fühlte ich mich tatsächlich wie neugeboren; sie hatte Rasierzeug für mich ins Badezimmer legen lassen, und als ich gewaschen und rasiert zum Frühstück herunterging, konnte ich kaum glauben, daß man mich vor zwei Stunden wie einen Strolch auf der Heide aufgefunden hatte. Ich merkte auch, daß sie mich mit Gefallen ansah, als ich ins Zimmer trat, wo sie mit einer freundlich aussehenden älteren Dame, die sie als ihre Dante, Miß Milly Hepple vorstellte, auf mich wartete.

»Na, geht's besser?« fragte sie, als wir uns an den Frühstückstisch setzten.

»Es wäre ja geradezu undankbar, wenn ich mich nicht besser fühlte«, sagte ich. »Ja, danke, es geht jetzt so gut, daß ich Ihnen, wenn ich es darf, meine gestrigen Abenteuer erzählen möchte.«

»Mich plagt schon eine wahrhaft weibliche Neugierde«, lachte sie und fing an, Scheiben von einem prachtvollen Yorker Schinken abzuschneiden. »Das müssen Sie unbedingt erzählen, das heißt, wenn Sie es wollen.«

»Ich möchte es«, antwortete ich. »Ich glaube, Sie haben einen guten, gesunden Menschenverstand, und ich möchte wissen, was Sie zu der ganzen Sache sagen. Mir ist nämlich das alles vollkommen unverständlich, und ich weiß nicht, ob es nicht ratsamer wäre, nach Portsmouth zurückzukehren und die Polizei zu benachrichtigen. Jedenfalls – – –«

Wir blieben an dem Frühstückstisch sitzen, und ich erzählte den beiden Damen die ganze Geschichte, von dem Augenblick an, wo ich mit Quartervayne auf dem Pier zusammentraf, bis zu dem Augenblick, wo ich auf dem Rasen aufwachte. Ich berichtete alles, ich ließ keine Einzelheit aus, genau wie ich es hier niedergeschrieben habe, erzählte ich es ihnen. Die Erzählung wirkte auf beide ganz verschieden. Miß Hepple, die mir später zugab, sie liebe Sensationsromane, war höchst überrascht, zu sehen, daß tatsächlich im täglichen Leben Dinge geschehen, die an Seltsamkeit und Merkwürdigkeit den Geschehnissen eines Kriminalromans in nichts nachstehen. Sie genoß die ganze Geschichte. Aber Miß Mansons Interesse war ganz anderer Natur. Ich merkte, sie überlegte sich die Gründe und Zusammenhänge, je mehr ich erzählte, desto gedankenvoller wurde sie.

»So, das wäre das Ende«, schloß ich kurz.

Sie sah mich an und sagte: »Sie wollen sagen, der Anfang. Oder jedenfalls nur das Ende des ersten Kapitels. Jetzt fängt es erst an, der Vorhang ist nur über dem ersten Akt gefallen, und nun kommt der zweite Akt.«

»Ich werde aber nicht mehr mitspielen!« sagte ich.

»Wie können Sie das wissen?« fragte sie. »Möglicherweise werden Sie mit hineingezogen, Sie werden vielleicht sogar dazu gezwungen. Jedenfalls, wie ich schon sagte, dies ist erst der Anfang.«

»Was ich wissen möchte«, bemerkte Miß Hepple, »was bedeutet das nur alles? Sie haben natürlich keine Ahnung, Mr. Cranage?«

»Genau so wenig«, antwortete ich, »wie ich etwas über die Relativitätstheorie weiß. Ich weiß nur das, was ich Ihnen erzählt habe. Bis jetzt verstehe ich die ganze Sache überhaupt nicht.«

»Haben Sie das Geld gezählt?« fragte plötzlich Miß Manson.

»Ja, es sind hundert Pfund in Gold«, antwortete ich.

»Selbstredend ist das Schweigegeld«, bemerkte sie.

»Ja, sicherlich so etwas«, sagte ich. »Aber wenn man bedenkt, was ich gestern alles durchgemacht habe, finde ich, ich habe schon ein Recht darauf.

»Behalten Sie es jedenfalls«, sagte sie. »Der Polizei würde ich noch nichts melden, ich würde erst mal abwarten. Man weiß nie – – –«

Hier wurde sie unterbrochen. Ein Hausmädchen war hereingetreten und meldete, Bradgett sei in der Vorhalle und möchte sie dringend sprechen. Sie stand eilig vom Frühstückstisch auf und ging hinaus. Ich merkte, daß sie erschrocken war und befürchtete, ihren Rennpferden sei etwas zugestoßen. Aber nach zwei Minuten sah sie durch die offene Tür herein und nickte mir zu.

»Mr. Cranage«, sagte sie, »würden Sie, bitte, mal herauskommen?«

Ich ging hinaus. Bradgett stand noch in der Halle, sie zog mich in eine Ecke.

»Haben Sie eine Ahnung, mit was für einem Auto Sie gestern abend gefahren sind?« flüsterte sie.

»Mit was für einem Auto? Ach, Sie meinen welche Marke?« antwortete ich. »Nein, ich habe keine Ahnung. Es war dunkel, stockdunkel in dem Hof, aus dem wir fortfuhren. Ich weiß nur, daß es ein Auto war, ein ziemlich altes Modell, möchte ich behaupten. Warum denn?«

»Einen Augenblick«, antwortete sie. Sie wandte sich an Bradgett. »Schon gut, Bradgett«, rief sie. »Ich werde selbst dorthin gehen. Sie sagten doch, der obere Kreidebruch?«

»Ganz recht, gnädiges Fräulein, der obere Kreidebruch«, antwortete Bradgett. »Auf dem Grund, natürlich.«

»Gut, ich werde gleich hingehen«, sagte sie. Dann, als der Mann die Halle verlassen hatte, wandte sie sich wieder an mich. »Einer unserer Stalljungen hat soeben die Nachricht hergebracht, daß ein Auto, natürlich vollkommen zertrümmert, auf dem Grund eines Kreidebruchs, eine halbe Meile von hier entfernt, gefunden worden ist. Glatt über den Rand gestürzt – ungefähr siebzig oder achtzig Fuß in die Tiefe!«

»War jemand darin?« rief ich aus. »Siebzig oder achtzig Fuß! Dann – – –«

»Das ist grade das Merkwürdige«, sagte sie. »Es ist keine Spur von irgend jemand zu finden. Allerdings, wäre jemand drin gewesen, bei einem Sturz von achtzig Fuß, na?«

Wir sahen uns einen Augenblick schweigend an. Dann nahm sie einen Spazierstock aus einem Schirmständer in der Nähe, bedeutete mir, dasselbe zu tun, und ging auf die Haustür zu.

»Kommen Sie mit«, sagte sie. »Wir sind beide mit dem Frühstück fertig und wollen uns mal das Auto ansehen. Denn mir ist schon der Gedanke gekommen – ob das vielleicht das Auto ist, das Sie hierher brachte?«

»Und wenn es das ist«, sagte ich, »wo ist dann Holliment? Denn Holliment hat bestimmt gelenkt. Wenn es sein Auto ist, und er mit hinuntergestürzt ist – – –«

»Das ist ausgeschlossen«, erklärte sie. »Kein Mensch könnte diesen Kreidebruch hinunterstürzen und mit dem Leben davonkommen. Aber es ist zwecklos, uns darüber zu unterhalten, wir gehen lieber hin.«

Wir verließen ihren Garten, und sie führte mich an einem Hügel entlang und dann eine halbe Meile auf einer Art Bergstraße hinauf. Plötzlich verließ sie diese, überquerte ein Stück Weideland und brachte mich bis knapp an den Rand des Kreidebruchs. Als wir hinunterblickten, sahen wir das Auto unten liegen. Es war gute achtzig Fuß tief gefallen und vollkommen zertrümmert. Hirten, Bauernjungen, Müßiggänger, Leute aus dem naheliegenden Dorf standen um den Wagen herum. Wir gingen auf einem schmalen Pfad hinunter und stellten uns mit dazu. Ein Schutzmann war auch schon da, er sagte uns, das Unglück müsse in den frühen Morgenstunden passiert sein, denn er sei um Mitternacht mit einem Wildhüter in dem Bruch gewesen, und da wäre ihm nichts aufgefallen; er sagte auch, daß der Junge, der zuerst die Trümmer entdeckt habe, keinen Menschen in der Nähe gesehen habe. Dann machte er uns auf etwas sehr Wichtiges aufmerksam: Unter den Trümmern hatte man keine Erkennungszeichen oder Ähnliches finden können. Diese waren sämtlich entfernt worden.

»So kann man natürlich nur zu einem Schluß kommen, Miß Manson«, meinte er. »Der Fahrer ist oben ausgestiegen, hat den Wagen dann in Gang gebracht und über den Rand stürzen lassen. Die Frage ist nun: warum?«


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