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8.
Der erste Mord

Diese kurze Mitteilung überraschte und bestürzte mich dermaßen, daß ich nichts weiter tun konnte, als dazustehn und Spiller anzustarren. Ich fühlte, daß der Diener, der mich herausgebeten hatte, und der Hausmeister, der grade in die Halle kam, mich ebenfalls anstarrten, und so faßte ich mich rasch.

»Holliment? Ermordet!« rief ich aus. »Das ist ja ganz unmöglich! Ich sah ihn ja erst gestern Abend!«

»Das ist gar nicht so unmöglich, Mr. Cranage«, entgegnete Spiller ruhig. »Zwischen gestern abend und heute früh war Zeit genug, ermordet zu werden. Sehn Sie her!«

Er zog ein Telegramm aus seiner Tasche, öffnete es und gab es mir. Ich gestehe, meine Hand zitterte ein wenig, als ich es nahm, meine Phantasie malte sich bereits aus, wie Holliment langsam, aber sicher aufgestöbert worden war.

»Es ist von Jifferdene – von dem Mann, den Sie neulich mit mir und dem chinesischen Herrn zusammen sahn«, sagte Spiller. »Lesen Sie nur!«

Ich las:

Dringend. Ein Mann aller Wahrscheinlichkeit nach Holliment heute früh in Westend ermordet aufgefunden sofort Verbindung mit Cranage aufnehmen und so schnell wie möglich beide herkommen.

»Ja«, sagte ich, »aber hier steht nur ›aller Wahrscheinlichkeit nach‹. Es kann ja sein. Na, ich werde wohl mit Ihnen gehen müssen. Aber warum eigentlich? Es muß doch noch andere geben, besonders Leute aus Portsmouth, die Holliment genau so gut wie ich identifizieren können.«

»Es gibt keinen in Portsmouth, Mr. Cranage, der über seine letzten Tage dort das weiß, was Sie wissen«, entgegnete der Detektiv. »Kommen Sie nur, wir wollen abfahren. Ich habe einen guten Wagen draußen, wir fahren sofort hin.«

»Kommen Sie mit vor die Tür«, sagte ich und führte ihn hinaus, so daß uns die schon neugierig gewordenen Diener nicht hören konnten. »Hören Sie mal«, fuhr ich fort, »was für eine Entschuldigung soll ich denn Lady Renardsmere gegenüber gebrauchen? Ich habe keine Lust, ihr zu sagen, daß ich in eine Morduntersuchung verwickelt bin, wenigstens möchte ich, bevor ich nichts Näheres darüber weiß, ihr nichts sagen.«

»Sagen Sie ihr, ein Freund, ein Bekannter, sei in London verunglückt, und Ihre Anwesenheit sei notwendig«, sagte er. »Bitten Sie sie um zwei Tage Urlaub, Sie müssen vielleicht die Nacht über wegbleiben. Das wird doch gehen. Die Diener da drinnen kennen mich nicht, niemand kennt mich hier. Sie können ihr ja hinterher alles erklären – falls es notwendig sein sollte.«

Ich suchte Lady Renardsmere im Garten auf; zu meiner größten Beruhigung gab sie mir, ohne überhaupt zu fragen, sofort Urlaub. Sie bot mir sogar Walker und eines ihrer Automobile an. Ich dankte und erklärte ihr, daß der Mann, der gekommen sei, um mich zu holen, mit seinem eigenen Wagen hier sei, und einige Minuten später fuhren Spiller und ich ab.

»Ziemlich unangenehme Sache, Mr. Cranage«, bemerkte der Detektiv, als wir schon einige Zeit unterwegs waren. »Bis jetzt kann ich mir kein Bild davon machen. Was denken Sie darüber?«

»Ich?« rief ich aus. »Mann Gottes! ich weiß nicht mehr, als was ich Ihnen erzählt habe. Mir scheint, Sie und der Mann von Scotland Yard – wie nennen Sie ihn – Jifferdene? – Sie beide müßten doch Bescheid wissen.«

»Ja«, bemerkte er trocken, »leider kann ich Ihnen nur versichern, daß wir sehr wenig wissen. Wenn einer etwas weiß, so ist es der Chinese, der damals mit uns hierher kam. Aber diese Asiaten – du lieber Gott! Wenn sie nicht reden wollen, ist es menschenunmöglich, sie zum Sprechen zu bringen.«

»Warum ist er überhaupt mit Ihnen gekommen?« fragte ich. »Ich habe schon manchmal darüber nachgedacht.«

»Das will ich Ihnen sagen«, antwortete er. »Einige Tage, bevor wir Sie vor den Pferdeställen trafen, kam er mit Jifferdene zu uns auf das Polizeipräsidium in Portsmouth. Er wollte Erkundigungen über einen Chinesen einziehen, der, wie er sagte, vor kurzem in Portsmouth gewesen sein sollte, und dessen Aufenthalt die chinesische Gesandtschaft gern ermittelt haben wollte. Mir wurde der Befehl erteilt, Nachforschungen anzustellen. Schließlich, das heißt innerhalb vierundzwanzig Stunden, hatte ich herausbekommen, daß ein Chinese ein- oder zweimal in Holliments Gesellschaft gesehen worden war. Wir gingen nach Holliments Laden und fanden, daß sehr Merkwürdiges dort vorgefallen sein mußte, und daß Holliment von der Bildfläche verschwunden war. Darauf erkundigten wir uns in der Nachbarschaft, und der Kellner des ›Admiral Hawke‹ erzählte uns von einem fremden jungen Mann, der einen ganzen Tag lang Holliment vertreten habe. Zwei oder drei Tage später kam er zu uns und meldete uns, er habe diesen jungen Mann – nämlich Sie – gesehn, und berichtete auch, wo Sie wären. So kamen wir nach Renardsmere und hörten dann durch Sie von dem Chinesen, der durch Holliments Ladenfenster hineingeschaut hatte, und der später mit anderen eingedrungen war. Verstehn Sie nun?«

»Ist das alles, was Sie wissen?« fragte ich.

»Das ist alles, was ich bis jetzt weiß«, antwortete er. »Mr. Shen gab sich einstweilen mit dieser Auskunft zufrieden und fuhr mit Jifferdene ab. Dann hörte ich nichts mehr darüber, bis ich dies Telegramm bekam.«

»Also dann läuft es darauf hinaus«, sagte ich, »Sie drei waren nicht hinter Holliment her, sondern hinter irgendeinem Chinesen?«

»Ja, so ungefähr ist es. Hinter einem Chinesen!« antwortete er. »Ich sage Ihnen, die chinesische Gesandtschaft legt großen Wert darauf, seiner habhaft zu werden. Sie hat sogar Scotland Yard gebeten, ihn ausfindig zu machen. Aber warum sie ihn haben will, und wer er ist, und was Holliment mit ihm zu tun hat, oder zu tun gehabt hat, ist mir gänzlich schleierhaft.«

»Spiller«, sagte ich, »ich mache mit Ihnen jede Wette, daß, sollte der Ermordete wirklich Holliment sein, der Chinese ihn ermordet hat.«

»Das ist todsicher«, bemerkte er lachend. »Sie können ruhig eine Million wetten. Aber aus welchem Grund nur?«

»Das weiß ich nicht«, entgegnete ich. »Ich weiß nur, daß ich nie einen Mann gesehn habe, der solche Angst hatte wie Holliment, als ich ihm erzählte, daß ich das Gesicht und die geschlitzten Augen eines Chinesen durch das Fenster gesehn hatte. Er hatte Angst um sein Leben, Spiller, Todesangst!«

»Ja, nun hat ihn der Kerl doch erwischt«, sagte er. »Sie werden schon sehen, daß es doch Holliment ist. Aber Jifferdene wird mehr wissen; bis wir ankommen, wird er einiges erfahren haben.«

Jifferdene wartete schon auf uns, als wir in Scotland Yard ankamen. Er nahm uns in ein kleines Wartezimmer und schloß die Tür. Ich hatte, während ich mich mit Spiller unterhalten hatte, mich entschlossen, vorläufig Neamores Name nicht in Verbindung mit Holliment zu erwähnen. Denn wenn ich Neamore erwähnte, dann mußte ich auch Lady Renardsmere erwähnen, und das wollte ich nicht tun. Und schließlich hatte Neamore vielleicht mit dieser ganzen Geschichte gar nichts zu tun. Warum sollte Holliment nicht viele Menschen in London kennen?

»Ich glaube, dieser Mann ist Holliment, nach der Beschreibung, die ich von ihm in Portsmouth bekommen habe«, bemerkte Jifferdene. »Ich glaube bestimmt, daß er es sein muß.«

»Mr. Cranage sah ihn gestern abend«, bemerkte Spiller.

»Oh!« sagte Jifferdene. »Wo war das?«

»Im Trocadero. Er aß zu Abend«, sagte ich. »Es war so ungefähr um sieben Uhr.«

»Haben Sie ihn gesprochen?« fragte er.

»Nein, ich wollte es auch nicht. Nach allem, was ich kürzlich mit ihm erlebt habe, wollte ich nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er hatte mich nicht gesehn, und ich machte, daß ich aus dem Lokal hinauskam.«

»Aber«, sagte Jifferdene, »ich möchte, daß Sie ihn identifizieren, Mr. Cranage. Ja, ich weiß, viele andre Leute könnten es auch tun, aber ich habe meine besonderen Gründe dafür, Sie deswegen hierher gebeten zu haben. Sie sind, soweit ich weiß, die einzige Person, die den Chinesen gesehn hat, der meiner Meinung nach der Mörder ist.«

»Wo ist es passiert?« fragte Spiller.

»In der Paddington-Gegend«, antwortete Jifferdene. »Er wurde in Blomfield Road gefunden, ungefähr zwanzig Meter von der Brücke entfernt, die Warwick Avenue mit Harrow Road verbindet. Es war heute früh um drei Uhr; ein Schutzmann fand ihn. Nach Befund des Polizeiarztes war er schon ungefähr eine halbe Stunde tot. Mit einem Messer erstochen! Und der Mann, der ihn erdolcht hatte, verstand sein Handwerk. Aber der Grund? Es ist ein vollkommenes Rätsel. Jede Tasche ist umgekehrt worden. Der Inhalt muß für den Mörder keine Bedeutung gehabt haben, denn Uhr, Geld usw. lagen achtlos umher verstreut. Sein Rock und seine Weste sind auch an verschiedenen Stellen aufgeschlitzt worden. Man kann daraus deutlich entnehmen, daß der Mörder nach irgend etwas gesucht haben muß. Aber ob er das Gesuchte gefunden hat oder nicht, das weiß man nicht.«

»Und von dem Mörder selbstverständlich keine Spur«, warf Spiller ein.

»Keine! Nicht der geringste Hinweis«, sagte Jifferdene. »Wir ziehen in der Nachbarschaft Erkundigungen ein, ob er vielleicht spät nachts in der Gegend – allein oder in Begleitung – gesehn worden ist, aber bis jetzt ist mir noch nichts gemeldet worden.«

»Wo liegt er?« fragte Spiller.

»In der Paddingtoner Totenhalle. Wir werden jetzt dorthin gehen, und Mr. Cranage wird so gut sein, ihn zu identifizieren«, antwortete Jifferdene. »Ich vergaß übrigens, Ihnen zu sagen, daß keinerlei Ausweispapiere bei ihm gefunden wurden. Möglich, daß der Mörder sie entwendet hat – wenn Holliment überhaupt welche bei sich gehabt hat. Natürlich kann er eine Brieftasche gehabt haben. Jedenfalls wollen wir hingehn. Aber Sie haben ja eine lange Fahrt hinter sich, und es ist schon nach ein Uhr. Was meinen Sie dazu, wenn wir vorher essen gehen?«

Wir gingen zu einem in der Nähe gelegenen Restaurant. Die beiden Beamten aßen und tranken mit größtem Appetit, und so zwang ich mich, nicht an das zu denken, was mir bevorstand, und folgte ihrem Beispiel. Ich war froh und dankbar, daß sie während der ganzen Tischzeit kein berufliches Thema anschnitten. Wir unterhielten uns über Pferderennen; ich schilderte ihnen Rippling Ruby in glühenden Farben und riet ihnen, ihren letzten Groschen auf die Stute zu setzen. Die Unterhaltung stockte feinen Augenblick, die Zeit verstrich schnell, und endlich zahlten wir unsere Rechnung. Dann gingen wir wieder in den schönen Frühlingsnachmittag hinaus und fuhren in einer Autodroschke nach Paddington, um die Sache hinter uns zu haben.

»Es genügt ein Blick, Mr. Cranage«, flüsterte mir Jifferdene zu, als wir in die Totenhalle eintraten. »Hat gar keinen Zweck, sich lange hier aufzuhalten. Sie werden sofort wissen, ob es der Mann ist oder nicht. Also nun.«

Es war Holliment.

»Ja, das ist er«, flüsterte ich. »Großer Gott! Noch gestern abend – – –«

Wir gingen wieder hinaus und marschierten schweigend Paddington Green hinunter.

»Der Tatort«, bemerkte Jifferdene plötzlich, »liegt ungefähr fünf Minuten von hier entfernt, dort, hinter jenen Mietshäusern. Aber ich weiß nicht, ob es Zweck hat, hinzugehn, es ist nichts weiter zu sehn als die Stelle, wo's geschehn ist. Schließlich haben wir noch mehr zu erledigen, Mr. Cranage. Ich möchte gern, daß Sie jetzt mit mir in das Langham-Hotel gingen, um einen Chinesen aufzusuchen, der dort wohnt, und dann habe ich vor, Sie heute abend ins Chinesenviertel mitzunehmen.«

»Ich muß wohl tun, was Sie wollen«, sagte ich.

»Ja, ich werde aber zusehen, daß alles beschleunigt wird, damit Sie bald wieder abreisen können«, sagte er. »Spiller, für Sie wäre es wohl das beste, Sie kehrten so rasch wie möglich nach Portsmouth zurück und würden mit Ihren Nachforschungen dort fortfahren, finden Sie noch mehr über Holliment und den Chinesen heraus. Es muß noch mehr darüber zu erfahren sein. Einen Augenblick!«

Er nahm Spiller zur Seite und sprach mit ihm einige Minuten. »Finden Sie das heraus, wenn irgendwie möglich«, schloß er. »Und selbstverständlich halten Sie mich, bitte, auf dem laufenden.«

Spiller verabschiedete sich von mir und eilte fort, um den Zug zu erreichen. Wir beide gingen noch ein Stück zu Fuß, dann winkte Jifferdene einer Autodroschke und befahl dem Führer, nach dem Langham-Hotel zu fahren. Sobald wir unterwegs waren, wandte er sich vertraulich an mich.

»Dies ist einer der merkwürdigsten Fälle, die ich je zu bearbeiten hatte, Mr. Cranage«, sagte er. »Er ist darum so verzwickt, weil Asiaten hinein verwickelt sind. Spiller sagte mir, er hätte Ihnen alles, was er weiß, erzählt. Nun, Tatsache ist, ich weiß auch kaum etwas mehr. Aber ich habe eine Vermutung. Spiller erzählte Ihnen, nicht wahr?, daß die chinesische Gesandtschaft mich auf den Chinesen aufmerksam machte, den Holliment in Portsmouth kannte. Das tat sie, aber hinter der chinesischen Gesandtschaft steckt noch jemand, und das ist meiner Meinung nach ein alter chinesischer Herr von großem Einfluß, der jetzt im Langham abgestiegen ist. Ich habe ihn einmal in Begleitung von Mr. Shen gesehn, und jetzt werden Sie und ich ihn aufsuchen. Er weiß, was hinter dem allem steckt – aber verflucht nochmal, ich nicht!«

»Wenn dieser alte Herr wirklich über alles Bescheid weiß«, sagte ich, »können Sie ihn dann nicht dazu kriegen, Ihnen alles zu erzählen? Können Sie ihn nicht einfach zwingen, alles zu sagen? Besonders da ein Mord geschehen ist?«

»Hm, aber diesen Asiaten bedeutet ein Menschenleben nicht soviel wie uns, Mr. Cranage. Und was das anbetrifft, ihn dazu zu kriegen, uns was mitzuteilen oder ihn etwa dazu zwingen zu wollen – na, warten Sie nur, bis Sie ihn gesehen haben! Ich habe die Sphinx nie in meinem Leben gesehn, aber ich glaube, Sie könnten sie eher dazu kriegen, den letzten Schlager zu singen, als daß Sie diesen alten Herrn gegen seinen Willen zum Sprechen brächten.«

»Und wer ist er?« fragte ich. »Sie sagten, er hätte großen Einfluß in China. Was tut er hier? Spricht er auch englisch?«

»Er spricht ganz gut englisch, genau so gut wie Mr. Shen, der an einer unsrer Universitäten studiert haben soll. Und was der alte Herr hier bei uns zu tun hat, weiß ich nicht. Aber ich glaube, nach allem, was ich von ihm gesehn habe, muß er irgendein Großindustrieller sein. Er hat eine Flucht von Zimmern im Langham, und einige unsrer führenden Finanzleute suchen ihn dort auf. Seinen genauen Titel und Rang kenne ich nicht. Ich kenne ihn nur als einen Mr. Cheng, und im Langham hat er sich auch nur so eingeschrieben.«

»Cheng! Gut, ich werde mir den Namen merken«, sagte ich. »Und wie weit ist Mr. Cheng über alle Einzelheiten dieses Falles unterrichtet?«

»Er weiß, daß Holliment vor kurzem einen gewissen Chinesen in Portsmouth kannte, und daß Sie, als Sie Holliment vertraten, einen Chinesen durch das Fenster blicken sahen, auch daß Holliment zu Tode erschrocken war, als er davon hörte, und daß später ein Chinese, gefolgt von Gesindel, in den Laden eindrang, und daß Holliment floh. Das«, sagte Jifferdene, »ist, was Mr. Cheng bis jetzt erfahren hat. Und jetzt will ich ihm erzählen, daß Holliment ermordet worden ist.«

»Ach, um ihn dadurch zum Reden zu bringen?« warf ich ein.

»Ja, vielleicht habe ich auch daran gedacht«, gab er zu. »Aber – er wird mir reden, wenn er will. Ich wünschte, ich könnte nur die Gedanken hinter dieser alten Pergamentstirn lesen!«

In diesem Augenblick hielten wir vor dem Langham-Hotel, und Jifferdene sandte seine Visitenkarte hinauf. Wir hatten nicht lange zu warten, in wenigen Minuten erschien ein junger, vollkommen europäisch gekleideter Chinese. Er begrüßte den Detektiv sehr höflich, führte uns nach oben und bat uns, in einem Vorzimmer Platz zu nehmen, indem er bemerkte, Mr. Cheng würde uns gleich persönlich sprechen. Daraufhin ging er hinaus, und wir warteten fünf, zehn Minuten. Eine Tür öffnete sich, ein vornehm aussehender Mann trat heraus und ging durch das Zimmer und verließ es durch die Tür, durch die wir eben eingetreten waren. Jifferdene beugte sich zu mir herüber.

»Kennen Sie den Herrn, Mr. Cranage?« fragte er.

»Ich? Nein«, antwortete ich. »Wer ist er?«

»Lord Mickleborough, Aufsichtsratsvorsitzender verschiedener großer Gesellschaften, einer der bedeutendsten Londoner Finanziers. Seine Firma …«

Wir hörten ein leises Geräusch hinter uns. Jifferdene drehte sich schnell in seinem Stuhl um und sprang auf die Füße. Ich drehte mich auch um und stand ebenfalls auf. In der Tür, durch die eben Lord Mickleborough herausgekommen war, stand in seiner Nationaltracht ein alter, ehrwürdiger Chinese. Er sah sehr malerisch aus, aber eigentlich waren es nicht soviel die bunten Farben, noch das Ungewohnte, die auf mich einen solchen Eindruck machten, vielmehr war es das hohe Alter, die leicht gebeugte Gestalt und das pergamentartige verwitterte Gesicht. Er schien mindestens hundert Jahre alt zu sein – ich verbeugte mich unwillkürlich ehrfürchtig vor ihm. Er verbeugte sich und lächelte ein wenig, und dabei sah ich, daß seine Augen lebendig wie die eines jungen Mannes waren.

»Bitte, treten Sie ein.«

Obgleich die Stimme leise und sanft klang, war sie doch klar und fest. Wir folgten ihm in das Zimmer; er wies uns zwei Stühle an und rückte seinen so, daß er genau vor uns saß. Dann faltete er die Hände unter seinen weiten Ärmeln und sah Jifferdene an.

»Sie haben eine Neuigkeit für mich?« fragte er.

»Ja, Mr. Cheng«, antwortete Jifferdene. »Holliment, von dem ich Ihnen erzählte, ist ermordet worden.«

Dem alten verwitterten Gesicht war nichts anzumerken, nicht einmal ein Augenlid zuckte. Jifferdene hätte ebensogut über das schöne Frühlingswetter eine Bemerkung fallen lassen können.

»Wo ist der Mord geschehen, in Portsmouth oder in London?« fragte Mr. Cheng.

»In London, heute morgen zwischen halb drei und drei Uhr. Er wurde erdolcht. Raubmord scheint nicht in Frage zu kommen, sein Geld und andre Wertsachen lagen neben ihm auf der Straße. Seine Taschen sind alle umgedreht worden, und ein großer Teil seiner Kleidungsstücke ist aufgeschlitzt worden, gerade als ob der Mörder nach irgend etwas gesucht hätte.«

Der Chinese blieb auch jetzt vollkommen ruhig. Nur die Augen blickten scharf und aufmerksam.

»Haben Sie irgendeinen Hinweis auf den Mörder gefunden?«

»Nein, keinen. Aber darf ich eine Vermutung aussprechen, Mr. Cheng. Meiner Meinung nach sind der Mörder und der Chinese, der durch das Ladenfenster sah, identisch, und höchstwahrscheinlich handelt es sich auch um denselben Mann, den Sie ermittelt haben wollen.«

Mr. Cheng neigte seinen Kopf: »Das kann sein.«

Jifferdene wies auf mich.

»Dies ist der junge Herr, der den Chinesen durch's Fenster blicken sah.«

Mr. Cheng sah mich an. Aus irgendeinem Grunde wurde sein Gesichtsausdruck liebenswürdig.

»Aber, der junge Herr könnte den Mann, wie ich annehme, nicht mit Bestimmtheit wiedererkennen?« fragte er.

»Nein«, gab Jifferdene zu. »Er sagt es wenigstens. Aber ganz einerlei, Mr. Cheng, wir werden versuchen, ihn zu finden.«

»Und wie wollen Sie das machen?« fragte Mr. Cheng.

»Nun, wir haben doch ein Chinesenviertel hier; dort werde ich zuerst mit meinen Nachforschungen anfangen. Mr. Cheng! Ich weiß, Ihnen liegt viel daran, eines gewissen Landsmannes habhaft zu werden. Könnten Sie mir nicht irgendeinen Wink geben, vielleicht irgendeine Beschreibung?«

Mr. Cheng blieb eine volle Minute lang unbeweglich; dann beugte er sich vor und sagte ganz ruhig:

»Dem Mann, den ich suche, fehlt die untere Hälfte des linken Ohrs.«


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