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IX.
Der Trunkenbold

Unbeschreiblich ist die Verheerung, welche der Trunk in unserm Volke anrichtet. Die Opfer, die derselbe jährlich fordert, die im Gefängnis, im Arbeitshause, im Irrenhause, oder durch Selbstmord sterben, sind gar nicht zu zählen, abgesehen von dem Unglücke, das er in den Familien verursacht. Nach meinen langjährigen Erfahrungen werden sicher achtzig Prozent aller Körperverletzungen im Rausche verübt. Fast regelmäßig erwidert mir der Untersuchungsgefangene niedergeschlagen: »Wissen Sie, Herr Pfarrer, ich war eben betrunken.« Wenn man diesem Todfeind unseres Volkes das Handwerk legen könnte, brauchten wir nur die Hälfte unserer Zucht- und Arbeitshäuser.

Kein traurigeres Bild, als die Person eines solchen Trunkenboldes, dieser Ruine des Ebenbildes Gottes. Ich stelle einen solchen in der Gestalt des Sträflings Tobias Glier vor, der eben neuerdings wieder auf zwei Jahre eingeliefert wurde. Er ist im Rausche in ein beliebiges Haus getaumelt, um dort zu betteln, hat einen im Gange hängenden Rock dabei als gute Beute erklärt und dem Besitzer desselben einen gewichtigen Tritt auf den Leib versetzt, als ihm dieser sein Eigentum abzunehmen versuchte. Nachdem er seinen Rausch im Gefängnis ausgeschlafen hat, weiß er von allem, was sich zugetragen, kein Wort mehr und erklärt sich für vollständig unschuldig. Da in seinem Schuldbuche schon mehr solcher bewußtlosen Heldenthaten verzeichnet sind, muß er als rückfällig ins Zuchthaus. Eine kolossale Gestalt steht vor mir, allein unsicher und wankend, jeder kräftigen Bewegung unfähig. Der Blick ist stier, das Auge glasig, das Gesicht ist von Falten durchzogen, nicht von jenen feinen, welche ein stetes, angestrengtes Denken anzeigen, sondern von jenen breiten, tiefen, die von der Zerrüttung der Nerven und Erschlaffung der Muskeln herrühren. Namentlich charakteristisch ist die Falte, die sich zwischen den Augen in Gestalt eines lateinischen V gebildet hat, welche wohl auch den starren Blick verursacht. Die Haare sind spärlich, die Ohren stehen weit ab. Bei manchen zeigt die Nase Eiterpocken oder eine gleichmäßige braunrote Färbung. Die Antworten des Unglücklichen sind abgebrochen und verworren; er spricht nicht zusammenhängend und muß sich oft besinnen, denn seine Denkkraft nimmt von Jahr zu Jahr ab, bis er ganz vertiert oder dem Wahnsinne verfallen ist.

Glier ist von ordentlicher Familie, allein auch sein Vater, der früh starb, hat getrunken und diese Eigenschaft dem Sohne vererbt. Dieser war früher ein geschickter Schreiner, allein jetzt nimmt ihn niemand mehr; er zieht deshalb bettelnd herum, erpreßt von Zeit zu Zeit Geld von den Seinen, denen er schon unsäglich viel Schande gemacht hat. Seiner alten Mutter, die ihm einmal auf der Straße des Heimatsortes begegnete, als er trunken und abgerissen, gefolgt von höhnenden Kindern, von einer Gosse in die andere taumelte, ist darüber das Herz gebrochen.

Im Zuchthause, in der Zwangswasserkur, ist der Trunkenbold der lenkbarste Mensch von der Welt, weil er überhaupt keinen Willen mehr hat, auch nicht zum Widerstand. In den ersten Wochen befindet er sich in einem höchst unbehaglichen körperlichen Zustand, sein Magen muß eine heilsame Revolution oder Reformation durchmachen. Da ihm der stimulierende Branntwein fehlt, den er regelmäßig in großen Massen genossen, verliert er plötzlich den Appetit, er bekommt Leibschmerzen, kann nicht schlafen, und es überfällt ihn das, was man in der Studentensprache einen hochgradigen moralischen Katzenjammer nennt, wobei auch Thränenausbrüche nicht fehlen. Ist seine Zerrüttung nicht zu weit vorgeschritten, so übersteht er diese Krisis glücklich und wird infolge des regelmäßigen, einfachen Lebens wieder ein leidlich gesunder Mann. Selbst die Nase erbleicht und die Pocken verschwinden.

Anders verhält es sich, wenn der innere Zerfall schon zu große Fortschritte gemacht hat. Dann bricht der Körper rasch zusammen, der nur noch durch Alkohol künstlich belebt wurde, der Trinker erliegt bald der Auszehrung oder Wassersucht. Oder sein zerrütteter Geist gerät mehr und mehr in Verwirrung, bis ihn der Wahnsinn umnachtet.

Als unser Glier neuerdings eingebracht wurde, hatte er zwar schon am Delirium tremens gelitten, allein die Wasserkur im Zuchthaus half ihm wieder auf die Beine. Die Nachwehen blieben aber nicht aus; er litt bald an Täuschungen des Gehörs, bald an solchen des Gesichtes. Er vernahm ganz deutlich Stimmen an seinem Fenster oder vor der Thür, welche ihn schalten oder verspotteten, er erkannte sogar die Personen genau, die ihn also verfolgten. Auch der Aufseher gehörte zu seinen Verfolgern, auch dieser schimpfte über ihn auf dem Gange, was ihn in nicht geringe Aufregung brachte. Manchmal des Nachts drängte sich durch das Schlüsselloch seiner Thür oder von dem Rohr der Luftheizung aus ein wimmelnder dunkler Haufe von kleinem Getier; die winzigen Gestalten hängen aneinander, bilden bald eine dünne, lange Kette, bald eine Kugel, die sich mit Windesschnelle im Zimmer umherwälzt. Er setzt sich auf im Bette, seine Haare sträuben sich vor Schrecken, der Knäuel nähert sich dem Lager, die Gestalten klettern an demselbem empor und wie er näher zusieht, sind es Figuren mit menschlichen Gesichtern, Kobolde, Geister; sie tanzen auf seiner Bettdecke und leuchten in einem sonderbaren Glanze. Sobald er aber nach den Männchen greifen will, verschwindet der Spuck mit Blitzesschnelle. Ja am Tage, während er am Spinnrade sitzt, wird er von diesen zudringlichen Kobolden behelligt. – Selbstverständlich lag allen diesen Erscheinungen nicht die geringste objektive Ursache zu Grunde, allein es war unmöglich, Glier hiervon zu überzeugen.

Ist jemand einmal Gewohnheitstrinker geworden, so gelingt es nur in ganz seltenen Fällen, ihn dem Verderben zu entreißen. Ich kenne die Resultate der Trinkerasyle nicht, aber ich habe in dreiundzwanzig Jahren keinen einzigen Fall erlebt, wo einer diese Fesseln abgeschüttelt und dieses Joch zerbrochen hätte. Es giebt wohl keine stärkere Leidenschaft, keine entwürdigendere Knechtschaft, keine größere Tyrannei als die des Trunkes. In den ersten Jahren macht der Sklave hier und da noch einen Befreiungsversuch, er schämt sich noch seines Zustandes und sehnt sich nach Änderung. Später trägt er stumpfsinnig das Joch und kennt nur noch einen Genuß, nämlich den, sich in Branntwein zu berauschen. Auch Glier hatte bei der ersten Strafhaft solche Anwandlungen und nahm sich in vollem Ernst vor, dem Trunke ganz zu entsagen. Er versicherte nach einiger Zeit, er habe diese Leidenschaft nun völlig in sich bewältigt und sehe mit Ruhe der Zukunft entgegen. Ich warnte ihn vor Täuschung und sagte ihm ins Gesicht: »Nicht Sie, sondern diese Mauern hier sind vorderhand Herr über den Schnaps geworden.« Als er bald darauf in die Schreinerei kam, konnte er in der That dort den Lockungen des Spiritus nicht widerstehen, welchen der Aufseher jeden Abend wegschaffen mußte. Er schämte sich darüber nicht wenig, allein er war guter Dinge, als er das Haus verließ und versicherte steif und fest, er werde nie mehr ein Branntweinglas in die Hand nehmen. Ich sagte gar nichts, sah aber dem jungen Manne, der so leichten Herzens in die Freiheit hinauszog, mit trüben Befürchtungen nach. Der Aufseher, der ihn an den Bahnhof begleitete, versicherte mir hernach, er habe seine liebe Not gehabt, den Glier an den Branntweinschenken vorüberzubringen, zu denen es ihn mit dämonischer Gewalt hinüberriß. Wir haben schon Fälle genug erlebt, wo solche Leute des Morgens entlassen wurden und abends nach einem Exceß, den sie im Rausche begangen, wieder hinter Schloß und Riegel saßen. Bald darauf erschien Glier wieder, jetzt weit mehr entstellt und zerrüttet, und dann begegnete er mir noch einmal im Arbeitshaus, der Zufluchtsstätte der Vagabunden.

Im letzten Winter las ich in einem pfälzischen Blättchen folgende Mitteilung: »Heute Morgen wurde im Graben der nach X führenden Straße ein unbekannter Handwerksbursche erfroren gefunden. Derselbe war gestern in einer hiesigen Wirtschaft eingekehrt und hat daselbst dem Branntwein stark zugesprochen. Vermutlich fiel er unterwegs in Schlaf, aus dem er infolge der Kälte nicht mehr erwachen sollte.«

Es war Glier, der begabte, wohlerzogene, geschickte Glier, der also sein Leben geendet hatte.


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