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IV.
Der »Herr Doktor«

Eigentlich war er kein Doktor, sondern ein verdorbener Barbier aus Altrip, namens Philipp Kurtz. Die Sträflinge pflegten ihn aber gerne »Herr Doktor« zu nennen, was er jedesmal mit sichtlichem Wohlwollen aufnahm. Sie hatten hierzu verschiedene Gründe; einmal legte er selbst ihnen nahe, daß er draußen gewohnt sei, sich also nennen zu hören, sodann erteilte er denselben aus seiner langjährigen Zuchthauspraxis allerlei gute Ratschläge, die allerdings nicht darauf hinausliefen, wie der Mensch gesund wird, sondern vielmehr, wie er sich ein Unwohlsein zuzieht, das ihm ein mehrtägiges Ausruhen im Spital gestattet. Er selbst übte diese Kunst in hohem Grade; war er des Schneiderns müde, so bekam er plötzlich ein offenes Bein, das ihn richtig in das Spital brachte. Wie er das anfing, konnte ich nicht herausbringen. Die Sträflinge meinten, er reibe sich eine alte Wunde am Fuße so lange, bis dieselbe auszulaufen anfange. Übrigens nahm dieses Experiment schließlich ein trauriges Ende. Als er, körperlich herabgekommen, wieder einmal in seine eigentliche Heimat, das Zuchthaus, verbracht wurde und die Wunde wieder einmal auszulaufen anfing, heilte sie nicht mehr zu, begann vielmehr zu eitern, so daß er bald der Auszehrung erlag. So hat sich der »Herr Doktor« selbst zu Tode kuriert.

Seine Erscheinung war eine sehr originelle und seine Ausstaffierung bei der letzten Einlieferung bleibt mir unvergeßlich. Man denke sich einen sehr hageren, schlotterigen Mann mit dem ausgeprägtesten Spitzbubengesicht von der Welt. Kurze struppige Borsten, die wie Drahtspitzen nach allen Richtungen hinausstarrten, abstehende spitze Ohren, schmales, bleiches, knochiges Gesicht, buschige Augenbrauen, grau-grüne boshafte, lauernde Augen mit dem Gepräge der Dummpfiffigkeit, eine aufgestülpte, rote, mit Eiterpocken gleich Perlen besetzte Nase und ein freches Maul. Den Kopf bedeckte eine grüne Östreichermütze, um den Hals trug er ein rotes Tuch, in der Hand einen gewürfelten Regenschirm. Die engen Beinkleider waren voller Franzen, das Schuhwerk zerfetzt.

Der »Herr Doktor« war einer der unverfrorensten Halunken, die mir in meiner langen Praxis vorgekommen sind, unzugänglich für alles Höhere, ein richtiger Zuchthausphilosoph, der sich jene Lebensanschauung zurecht gemacht hatte, die für einen echten Lumpen paßt und die man am besten als brutalen Materialismus bezeichnen könnte.

Der »Herr Doktor« hatte stets sein eigenes Zimmer, das heißt eine Zelle. Er behauptete, dies geschehe aus Achtung vor seiner höhern Bildung, der Wahrheit nach aber war dies nötig, einmal weil er mit seinem unverschämten Maule die Gefangenen verhetzte, und dann weil er eben wegen dieses Maules früher regelmäßig nach wenigen Tagen von seinen Mitgefangenen aus dem Saale hinausgeworfen wurde.

Als ich ihn in seinem »Zimmer« zum ersten Male besuchte, saß er hoch thronend auf der Pritsche und schneiderte. Oder vielmehr er schneiderte nicht, sondern bohrte gründlich in seiner roten Nase, was er jedesmal zu thun pflegte, wenn er irgend einen tiefen Gedanken zu Tag fördern wollte. Er sah mich geringschätzig an und dankte kaum auf meinen Gruß. Sein Benehmen verriet unzweideutig, daß er den Gefängnisgeistlichen für etwas sehr überflüssiges halte, was er mir später auch ganz kalt ins Angesicht sagte. Wahrscheinlich, um die Schärfe meines Urteils zu prüfen, würdigte er mich der Mitteilung seiner tiefen Gedankenarbeit. »Da bin ich in Streit mit dem Inspektor«, begann er. »Denken Sie sich, der Mann meint, wenn er in mein »Zelt« komme, müsse ich ihn zuerst grüßen, und nicht er mich. Ich bin der Ansicht, daß er zuerst grüßen muß, und da er das nicht thut, grüßen wir einander gar nicht. Sagen Sie mir, wer hat nun recht?«

Als ich ihm verwundert bemerkte, nach meiner Ansicht sei es selbstverständlich, daß er als Sträfling den Anstaltsvorstand zuerst grüße, blickte er mich verächtlich an, als wollte er sagen: Auch Einer von der Sorte! »Ich bin doch mehr«, fuhr er los, »als der Inspektor! Wenn wir Sträflinge nicht da wären, gäbe es gar keinen Inspektor; unsertwegen ist er angestellt und wir müssen ihn mit unserer sauern Arbeit füttern. Wissen Sie, Herr Pfarrer, daherein kommen gewöhnlich nur solche Angestellte, die man draußen zu gar nichts brauchen kann. Diese Aufseher müßten ja alle verhungern, wenn sie sich draußen mit ihrer Arbeit ernähren sollten.«

Wie der Rangstreit des »Herrn Doktors« mit dem Anstaltsvorstande ausging weiß ich nicht, er beruhte aber auf der Welt- und Lebensanschauung, die er sich im Zuchthaus, wie so manche andere Sträflinge, als die ihm bequeme, allmählich angepaßt hatte und die ich nun darlegen will.

Von Gott, menschlicher Verantwortlichkeit, einem Fortleben nach dem Tode, von Himmel und Hölle hielt der »Herr Doktor« selbstverständlich nicht das Geringste. Er erklärte dies alles für Erfindungen der herrschenden Klasse, um die Unterdrückten damit zu erschrecken oder abzuspeisen. »Ich nehm 's Ihnen aber nicht übel, daß Sie das predigen, Herr Pfarrer«, sagte er, »es ist einmal Ihr Geschäft und Sie müssen sich damit ernähren.« Kurtz, der ein grundschlechter Kerl war, beurteilte nämlich alle Menschen nach sich und da konnte seine Ansicht von denselben nur eine sehr geringe sein. Er erklärte die Selbstsucht für die alles beherrschende Macht und für die allein vernünftige Triebfeder des menschlichen Handelns. Jeder denkt nur an sich und immer an sich, sagte er, nur versteht es der eine besser, der andere schlechter, seinem Thun ein vorteilhaftes Mäntelchen umzuhängen. Das Lebensziel ist der Genuß der irdischen Dinge und da nicht alle dazu gelangen können, entscheidet die Gewalt. Recht und Unrecht und dergleichen Dinge giebt es nicht, wer die Gewalt hat, macht das Recht. Durch größern Verstand, List und Betrug haben die jetzt herrschenden Klassen die Gewalt an sich gerissen und damit den Genuß der irdischen Güter, die größere Hälfte der Menschheit ist unterdrückt und ihrer Rechte beraubt; versucht es einer, mit Gewalt sich Recht zu verschaffen, so wirft man ihn ins Zuchthaus. »Meinen Sie, Herr Pfarrer, die Reichen draußen wären besser als wir?« fragte er mich öfters. »Nein, sie sind noch schlechter, aber sie haben die Macht. Aber warten Sie nur,« drohte er mit erhobenem Finger, »wir werden auch bald gescheidt, und wenn wir einmal zur Macht kommen und die Gewalt haben, sperren wir die anderen ins Zuchthaus. Und wenn einer nur ein Stückchen Brot nimmt, um seinen Hunger zu stillen, machen wir ihm den Kopf herunter. Sie sollen einmal sehen, was wir für eine Ordnung schaffen.«

Daß auf einen Menschen mit solchen Anschauungen religiöser Einfluß nicht auszuüben ist, leuchtet ein. Ich that selbstverständlich unverdrossen meine Pflicht und setzte meine Zellenbesuche bei dem »Herrn Doktor« fort, obschon mir dieselben gar manchmal sehr überflüssig vorkamen. Über religiöse Dinge, Predigt oder Bibelstunden sprach er nie, nur ein einziges Mal bat er sich eine Abschrift von einer Predigt über die Heuchelei aus, die er auch erhielt und die nach seinem Tode in seinem Wamms gefunden wurde. Einmal lobte er mich sogar und damit hatte es folgende Bewandtnis: bei der Erklärung einer Schriftstelle über den Nutzen des Ehestandes sprach ich mich dahin aus, daß schon mancher leichtfertige Mensch, der eine tüchtige Ehefrau bekommen habe, durch ein geordnetes, schönes Familienleben und die Liebe zu Weib und Kind zu einem tüchtigen, ernsten, soliden Manne geworden sei. Ich knüpfte daran für die Leichtsinnigen unter der Versammlung den Rat, zu erwägen, »ob nicht durch eine ordentliche christliche Ehe auch ihr Leben eine bessere Wendung nehmen könne.«

Beim nächsten Zellenbesuch empfing mich der »Herr Doktor« ungewöhnlich gnädig. »Mit Ihrer Ansicht vom Ehestand bin ich ganz einverstanden, Herr Pfarrer,« begann er, »und Sie müssen mir zu einer Frau verhelfen.« Ich prallte erschrocken zurück, allein er sprach eifrig weiter: »Meine Wahl habe ich schon getroffen. Sehen Sie, dort drüben« – man konnte von seinem Zellenfenster die Rückseite einer langen Häuserreihe überblicken – »wohnt meine Braut.« »Heute rappelt's beim ›Herrn Doktor‹«, dachte ich bei mir und ein ungläubiges Lächeln flog über meine Züge. »Lachen Sie nicht,« fuhr er fort, »jeden Morgen und jeden Mittag zur bestimmten Stunde kommt dort ein Mädchen an die Thüre und winkt mit dem Sacktuch und dann winke ich auch. Und da wir so weit einig sind, könnten Sie so gut sein, Herr Pfarrer, und dort in jenem Hause für mich um die Hand der Tochter anhalten. Sie wissen ja, wer ich bin, und die Hochzeit kann sogleich stattfinden, sobald ich entlassen werde.« Da ich auf das Bestimmteste erklärte, daß ich mich mit Freiereien nicht abgäbe, wurde er sehr zornig, und als ich ihm nahelegte, er könne sich auch irren, oder irgend eine Magd treibe vielleicht Possen mit ihm, geriet er in helle Wut. »Sie wollen nichts thun für die armen Gefangenen,« rief er, »aber ich komme doch zum Ziel auch ohne Sie.«

Er scheint nachderhand doch nicht zum Ziele gekommen zu sein, allein er traf vor seiner Entlassung gewaltige Zurüstungen, um sich nobel herauszustaffieren. Ich fand auf seiner Schiefertafel eine Zusammenstellung dessen was er sich zu seiner würdigen Ausrüstung anzuschaffen gedachte. Da las ich: Hut 10 Gulden, Rock 5 Gulden, Hosen 3 Gulden, Hemd 2 Gulden, Schuhe 1 Gulden. »Aber Kurtz,« sagte ich, »das stimmt doch nicht. Der Hut 10 Gulden und die Schuhe einen?« »Wissen Sie,« entgegnete er überlegen, » der Hut macht den Mann.« Ich gab mich geschlagen und überließ ihn seinem Schicksal. Ein andrer Sträfling erzählte mir später lachend, der »Herr Doktor« sei nach seiner Entlassung schnurstracks in das bewußte Haus gegangen und habe sich als Schwiegersohn vorgestellt, sei aber schmählich vor die Thüre gesetzt worden. – Als er wiederkam – er hatte etwas Bettzeug gestohlen – war seine Ansicht über die Menschen und deren Schlechtigkeit noch pessimistischer geworden. Auch seine Gebeine schienen mir viel schlotteriger und als er sich einmal wieder auf die eingangs erwähnte Weise ins Spital verhalf, kam er, wie bereits erzählt, nicht mehr heraus, sondern starb, wie es in jener alten Chronik echt mönchslateinisch heißt: Sine lux, sine crux, sine deus.


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