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VIII.
Der Zugvogel

Ich sitze auf meinem Sessel hinter dem Altare in der kleinen Männerkirche des Zuchthauses. Die Sträflinge werden abteilungsweise hereingelassen, es befinden sich unter ihnen zwei neu hinzugekommene Zugänge. Der eine bleibt am Eingange zögernd stehen und sieht sich um, wie jemand, der sich hier nicht auskennt, bis ihn ein Aufseher oder ein gefühlvoller Leidensbruder an seinen Platz befördert. Das ist ein Neuling! Der andere schwenkt aber mit großer Sicherheit links oder rechts ab, verfügt sich in die hinterste Bank, welche für die Zellengefangenen reserviert ist, verrichtet sehr andächtig sein Gebet, sieht sich ungeniert um, nickt vielleicht dem einen oder andern Bekannten lächelnd zu, kurzum er geberdet sich so, als ob er hier zu Hause und nur für kurze Zeit verreist gewesen sei. So verhält es sich auch thatsächlich, denn das ist ein Zugvogel!

Beschreiben wir ihn auch gleich, was nicht schwer fällt, denn er trägt ein leicht erkennbares, charakteristisches Gepräge und von dieser leider häufig vorkommenden Gattung sieht einer aus, wie der andere. Er hat dünnes Haupthaar, ja oft sogar eine Glatze, infolge dieses Verlustes eine hohe Stirn, ein aufgedunsenes, bleiches Gesicht, ein gemütliches Aussehen und ein gelassenes Wesen. Man sieht ihm an, daß er den größten Teil seines Lebens nicht in frischer freier Luft, sondern in geschlossenen Räumen verbracht hat.

Der Unglückliche betreibt meistens ein Handwerk, das nicht geht. Früher als die Maschine die Handarbeit verdrängte, waren es vielfach die Weber, welche dem Verbrechen verfielen und im Zuchthaus noch den gewohnten Webstuhl fanden, der bei ihnen zuhause in die Rumpelkammer hatte wandern müssen. Jetzt sind es außer den alten Webern noch Korbflechter, Besenmacher und namentlich Schirmflicker, die das Zuchthaus öfters aufsuchen, denn wer läßt in unseren Tagen noch einen Schirm flicken, wo man um 1 Mark 50 Pfennige einen neuen kauft? Oder es sind Taglöhner, die im Zuchthause ein Handwerk halb gelernt haben, aber sich mit ihrer halben Kunst in der Freiheit nicht fortbringen können.

Der Zugvogel, den ich im Auge habe, namens Bohrer, war seines Zeichens ein Korbflechter, allein er gestand offen ein, daß er noch immer die zu seinem Betriebe notwendigen Weiden gestohlen habe. Weit mehr als dieses Geschäft ertrugen ihm die Weichselstämmchen, die in den Wäldern seiner Heimat wuchsen. Er schnitt die schönsten kurzer Hand ab, band sie in ein Bündel und trug sie in der Nacht nach Meisenheim, wo sie ihm ein Dreher billig abkaufte und in Pfeifenrohre verwandelte.

Trotzdem beide Geschäfte nur geringe Auslagen für den Rohstoff verlangten, gingen sie doch auch manchmal schlecht, oder es ließ sich der Winter besonders hart an: da war er denn gezwungen, sich wieder nach seiner gemütlichen Heimat, dem Zuchthause, umzusehen. Er stahl dann etwas, nicht um dem Nebenmenschen einen kostbaren Besitz zu entziehen, denn derselbe bekam sein Eigentum regelmäßig wieder, sondern nur um die ersehnte Unterkunft zu erreichen. Er stahl auch nicht viel, aber gerade genug – denn diese Gattung kennt die einschlägigen Paragraphen über Rückfall sehr genau – um zu Zuchthaus verurteilt zu werden. Unser Bohrer ging z. B. einmal in etwas angeduseltem oder besser angefuseltem Zustande an einer Bleiche vorbei, wo gerade die Weiber ihr Gespinnst begossen. Rasch entschlossen stürzt er sich auf ein Stück am äußersten Ende zu, rollt es zusammen, legt es auf die Schulter und wankt davon. Wie er nicht anders erwartet, haben ihn die Frauen bemerkt, schreien laut: Der Bohrer hat die Leinwand gestohlen!, laufen ihm nach, und nehmen ihm den Raub wieder ab. Er wird vor Gericht gestellt und vernimmt schmunzelnd, wie man ihm zwei Jahre Zuchthaus zudiktiert, genau soviel, als er sich geschätzt hatte. In höchst abgerissenem Zustande, denn das letzte ganze Kleidungsstück war in Schnaps umgesetzt – bringt ihn der Gendarm in die Anstalt, wo man sein Wiedererscheinen als etwas Selbstverständliches betrachtet und wo er denselben Webstuhl wieder einnimmt, auf dem er schon mehr als ein Jahr seines Lebens gethront hat.

Mit dem Zugvogel hat der Anstaltsvorstand wenig Mühe, er ist ein Muster von Legalität, er kennt genau alle Bestimmungen der Hausordnung, er weiß auf's Haar, wie weit er zu gehen hat, er meidet wie das Feuer den Arrest, denn er hat sich früher überzeugt, daß der Cachot kein Sanatorium ist. Am ersten beteiligt er sich noch bei einem verbotenen Tabaksgeschäft; er schnupft leidenschaftlich, denn in irgend einem Zuchthaus hat ihm ein Arzt einmal erklärt, das Schnupfen sei für seine Augen unbedingt notwendig; außerdem aber teilt er die Ansicht des österreichischen Reiterliedes:

Un der Mensch muß a Freud han
Un a Freud muß der Mensch han
Un wann der Mensch jo ka Freud hätt,
Was wär do der Mensch?

Übrigens weiß er auch den Tabaksschmuggel so geschickt einzufädeln, daß er in den seltensten Fällen hängen bleibt, wenn etwas an den Tag kommt. Irgend ein »Grüner« fällt da sicher herein, und der alldahiesige »Zugvogel« reibt sich die Hände und freut sich königlich, wenn so ein »Tugendbold«, der beurlaubt werden wollte, in den Arrest wandern muß. Die geistige Atmosphäre, die er um sich verbreitet, ist keine gute; er kennt alle Zuchthäuser weit und breit, und alle Schliche und Kniffe, um dem Gesetze eine Nase zu drehen, er weiß den Jungen verlockende Diebs- und Dirnengeschichten zu erzählen und hat sich eine eigentümliche Welt- und Lebensanschauung gebildet, welche der christlichen in keiner Weise ähnlich sieht.

Mit den Anstaltsbeamten steht er auf gutem Fuße, er behandelt sie herablassend, ja kordial, und weiß den offenherzigen, geraden Biedermann vortrefflich zu spielen. Für religiöse Einflüsse ist er ganz unzugänglich, derartige Vorstellungen gleiten an ihm ab, wie das Wasser an einem Ölfaß. Er ist überzeugt, der Geistliche rede nur so, weil er müsse und dafür bezahlt werde. Er sieht darin nichts schlimmes, er würde es auch so machen, wenn er Geistlicher wäre. Am Gottesdienst beteiligt er sich in den meisten Fällen eifrig; er singt am lautesten, macht das andächtigste Gesicht, nickt dem Prediger bisweilen wohlgefällig zu, wenn ihm ein Passus der Rede besonders gefällt, und geht auch hie und da zum Abendmahl, und wäre es auch nur, um von Zeit zu Zeit einen tüchtigen Schluck Wein zu nehmen. Kurzum, er spielt in der Kirche die Rolle des Presbyters, dem er auch insofern gleicht, als er eine Autorität in der Beurteilung der gehaltenen Predigten ist. Kommt ein junger, unerfahrener Geistlicher ins Haus, so erlaubt er sich manchmal mit ihm einen kleinen Scherz, wenn er sich zuvor überzeugt hat, daß der junge Mann beim Direktor nichts ausschwatzt. So begegnete es einmal einem katholischen Kollegen kurz nach seinem Amtsantritt, daß ihm in der Zelle ein alter rückfälliger Gauner die gröbsten Vorwürfe machte, weil er sein Amt so gewissenlos versehe und die betrübten Seelen so schlecht aufzurichten wisse. Als der so Gescholtene ganz zerknirscht die nebenanliegende Zelle betrat, fand er dort einen ebenso geriebenen Gauner, der ihn mitleidig empfing und ihn also tröstete: »Nicht wahr, Herr Pfarrer, was es doch in einem solchen Hause schlechte Kerle giebt! Ich hab's gehört, wie der daneben Sie eben behandelt hat; den kenne ich schon lange, das ist das traurigste Subjekt auf dem ganzen Erdboden.« Später stellte sich heraus, daß die beiden Halunken den Spaß miteinander verabredet hatten, und daß immer einer grinsend an dem Ofenrohre saß und zuhörte, wie der andere den jungen Geistlichen zum Besten hielt.

Warum der »Zugvogel« sich mit dem Geistlichen gewöhnlich gut stellt, das hat noch seine besonderen Gründe. Er rechnet auf dessen Gutmütigkeit und Freigebigkeit. Schon ein halbes Jahr vor der Entlassung meldet er sich bei demselben und setzt ihm des weiten und breiten auseinander, wie gründlich er sich gebessert habe und daß es jetzt höchste Zeit sei, ein anderes Leben zu beginnen. Er legt seinen funkelnagelneuen Lebensplan dar, aber – und nun kommt die Hauptsache – er hat schlechte Kleider in die Anstalt mitgebracht, in alten Fetzen nimmt ihn kein Mensch, und etwas Geld sollte er doch in der Hand behalten, da er sich seine Arbeit in der Ferne suchen muß, weil ihn in der Nähe jedermann kennt. Er schlägt dabei eine Hose, ein Hemd, auch vielleicht noch brauchbare Schuhe heraus, das andere bettelt er vom Hauslehrer oder einem gutmütigen Aufseher, kurzum bei seiner Entlassung ist er reicher wie ein Trödler, und schiebt seinen ganzen Arbeitslohn vergnügt lächelnd in die Tasche.

In der Freiheit bewegt er sich ebenso, wie etwa ein Kanarienvogel, den man aus dem Käfig gelassen hat. Er kennt sich höchstens noch in einer »Penne« aus, wo er, vielleicht in Gesellschaft einer Dirne, zuerst sein bares Geld und dann allmählich seine erbettelten Kleider in Schnaps umsetzt. Von der freien Arbeit will er nichts wissen, überhaupt geht es ihm draußen viel zu geräuschvoll, unruhig und stürmisch zu, er ist an Ruhe, Ordnung und ein nicht zu großes Arbeitspensum gewöhnt, auch gewährt es ein beruhigendes Gefühl, wenn man des Abends beim Schlafengehen weiß, daß man des Morgens unter allen Umständen zur rechten Zeit seine Morgensuppe erhält, was in der Freiheit in keiner Weise garantiert ist. Dann sind die Leute draußen viel grober und heftiger, als im Zuchthaus, und der Fabrikherr oder Obermeister läßt sich durchaus nicht so viel gefallen, wie der Zuchthausdirektor oder Aufseher. Denn nirgendwo merkt man es so, daß man unantastbarer Bürger eines freien Staates ist, wie im Zuchthaus. Deswegen sorgt der Zugvogel, der sich draußen fremd fühlt, daß er bald wieder in seine Heimat, seine gewohnte Umgebung und Häuslichkeit, zurückkehrt. Nur wenn er gehört hat, in diesem oder jenem fremden Zuchthause gebe es größere Portionen oder mehr Lohn, versucht er es auch einmal mit einem Abstecher, in der Regel aber kehrt er dorthin zurück, wo er die schönsten Jahre verbracht hat, wo er sich auskennt und wo er auch sein Leben zu beschließen gedenkt. Dies thut er, nachdem er von sechszig Jahren etwa vierzig hinter Schloß und Riegel gesessen hat, in möglichst feierlicher Weise. Er nimmt selbstverständlich einmal oder öfters das heilige Abendmahl, ist dabei sehr gerührt und schließt die Augen mit dem Bewußtsein, er habe sich um die menschliche Gesellschaft wohl verdient gemacht.


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