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Viertes Kapitel.
In der Staatserziehungsanstalt

Wäre diese Erziehungsanstalt die beste in der Welt gewesen, ich hätte mich in ihr nicht wohl befunden. So wie mir damals zu Mute war, muß es einer wilden Katze oder einem jungen Raubvogel zu Mute sein, die man hinter Gittern zähmen will. Allein selbst heute kann ich jener Anstalt noch kein Lob spenden. Etwa hundert katholische Kinder waren hier zusammengesperrt, lauter verdorbene Geschöpfe; was einer nicht wußte von schlechten Dingen und lüderlichen Streichen, das lernte er vom andern; die Älteren verdarben die Jüngeren, in den gemeinsamen Schlafsälen fielen Dinge vor, die ich am besten mit Dunkel bedeckt lasse. Die Meisten, worunter auch ich, gingen schlechter, als sie kamen. Sämtliche nichtsnutzige Buben aus der Pfalz in ein Haus, ja in eine Stube zusammenzubringen, damit sie sich gegenseitig bessern, das kommt mir gerade so gescheit vor, als wenn man sämtliche Nervenfieberkranke in einem Dorfe in ein Zimmer zusammenlegen würde, damit sie sich gegenseitig kurieren. Die Behandlung war eine herzlose, wir wurden zwar viel gehauen, was nichts schadete, aber schlecht genährt und benützten deshalb jede Gelegenheit, den Aufsehern resp. Meistern einen Possen zu spielen oder Lebensmittel zu entwenden. Unter den Knaben waren Angeber aufgestellt und man kann sich denken, welche boshaften Schurkenstreiche da zur Ausführung kamen. Eins aber kann ich auch lobend anerkennen, in der Schule und auf meinem Handwerk, der Schusterei, habe ich vieles gelernt.

Bald war mir der Aufenthalt an diesem Orte so verhaßt, daß ich es unmöglich länger aushalten konnte; ich beschloß also, zu entfliehen. An einem Samstag Abend packte ich meine Habseligkeiten zusammen, stahl dem Meister ein Paar Stiefel und legte mir einen Strick zurecht, aus Schusterdraht zusammengeflochten, an dem ich mich aus dem Fenster herablassen wollte. Am Sonntag Morgen sofort nach Aufschluß sprang ich in die Schusterei, knüpfte das Seil fest und glitt daran hinab. Als ich am zweiten Stockwerke angelangte, riß der Strick und ich stürzte auf das Pflaster. Hier lag ich einige Minuten besinnungslos, raffte mich aber bald auf und lief spornstreichs, als ob der böse Feind hinter mir wäre, noch am selben Morgen bis Neustadt. Hier Verkaufte ich meines Meisters neue Stiefel für 3½ Gulden aß und trank und kam am Abend nach der Stadt Lautern.

Hier fand ich alsbald Aufnahme bei einem braven Kaufmann, dem ich Namen und Herkunft richtig angab, aber leider verschwieg, daß ich aus der Speierer Anstalt flüchtig geworden sei. Er gewann mich bald lieb, denn ich war ein äußerlich netter und dabei anstelliger Bursche. Ich merkte auch, daß er da und dort meine Ehrlichkeit auf die Probe stellte und überwand deshalb siegreich jede Versuchung. Da er kinderlos war und mich zum Kaufmann ausbilden lassen wollte, stand mir ein glückliches Loos bevor – wenn es nicht anders hätte kommen sollen. Heute noch erinnere ich mich mit Freuden an die glückliche Zeit, die ich in jenem Hause verbrachte, wo mir zum ersten Male ein geordnetes Familienleben entgegentrat.

Eines Tages fragte mich mein Herr: »Seppel, weißt Du, wo der Königreicher Hof liegt?« »Ja Herr, der liegt ganz in der Nähe meiner Heimat.« »Gut, wir wollen am Sonntag dahin fahren und dann mache ich auch mit Deiner Mutter ab, daß sie Dich mir überläßt. Mach Dich also fertig, denn Du mußt auch dabei sein.« – Je näher der Sonntag kam, um so bänger wurde mir, denn ich hatte Angst, die Ortsobrigkeit würde mich sofort bei meinem Erscheinen aufgreifen und nach Speier zurückschaffen lassen. – Wir fuhren richtig am Sonntag weg und es wurde Mittag, als wir in dem Dorfe Miesau anlangten. Nach dem Essen machte mein Herr ein Schläfchen, ich aber benutzte diese Zeit, um ihm zu entlaufen.

Ich trieb mich nun einige Zeit obdachlos umher, wurde endlich in Kaiserslautern aufgegriffen und nach Speier zurückgebracht. Dort sah ich sofort an den Mienen der Aufseher, daß mir nichts Gutes bevorstand. In der That, als es zum Abendessen ging, nahm einer derselben meine Schüssel und schüttete den Inhalt in die meines Nachbarn. Dann zogen sie mich über die Bank und schlugen mich gottserbärmlich. Damit hatten sie ihren Mut noch nicht gekühlt und ihren Zorn noch nicht gestillt, sondern vor dem Schlafengehen mußte ich mich ausziehen, worauf mich der Aufseher E. aufs Bett warf und mit einer Art von Knute so bearbeitete, daß mir das Blut vom Rücken herablief.

Ich war nun ein Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit für das Personal, allein ich wußte diese Wachsamkeit noch einmal zu täuschen und noch einmal zu entrinnen. In der Stadt Kaiserslautern fand ich Unterkunft bei einem Tapezierer, wo ich einige Zeit lernte und ziemliche Fortschritte machte. Eines Tages wurde ich aber entdeckt und nach Speier zurückgeführt, wo man mich ähnlich wie beim ersten Male mit der Knute begrüßte. Nun hatte ich genug an diesen Versuchen und hielt den Rest meiner Zeit geduldig aus. Ein Tag verlief eintönig wie der andere, höchstens setzte es eine Extraration von Prügeln ab. Wir standen früh auf, kleideten uns an, wuschen uns, beteten und lernten unsere Schulaufgabe. Dann gabs eine Schüssel voll dünner Suppe, in welcher ich trotz meiner scharfen Augen nie eine Spur von Fett bemerkt habe, dann wurde in den verschiedenen Werkstätten mit Pausen gearbeitet bis 11 Uhr, wo es zum Mittagessen ging. Nach der Mahlzeit wurde geturnt und exerziert und dann wechselte Unterricht und Arbeit ab bis zum Abendbrot um 7 Uhr; dann mußte gelernt werden für die Schule und um halb 9 Uhr legten wir uns schlafen. Am unterhaltendsten waren die Sonntage. Des Nachmittags nach dem Gottesdienst wurde da ein Spaziergang in die Umgegend von Speier unternommen. Unterwegs schafften wir reine Arbeit: was nicht niet- und nagelfest war, nahmen wir mit. Namentlich auf Eßwaren hatten wir unser Augenmerk; Brot, Äpfel, Birnen, Nüsse, Rüben und Cigarrenstumpfen waren begehrte Artikel. Des Abends verbargen wir unsre Beute im Bett und im Laufe der Woche wurde dieselbe verzehrt oder für andre verbotene Dinge verwertet. Ertappte uns der begleitende Aufseher bei unsern kleinen Räubereien oder beschwerte sich jemand über dieselben, so hieß es: »Wart, Du Saumagen, wenn wir heimkommen, sollst Du Deine Ration haben!,« ein Versprechen, das jedesmal pünktlich erfüllt wurde. Fiel der Ertrag unsrer sonntäglichen Streifereien schlecht aus, so stahlen wir in der Anstalt, was wir erwischen konnten; wir haben selbst dem Verwalter das Obst aus dem Keller geholt.

Als die zwei traurigen Jahre zu Ende gingen, war ich ein großer anstelliger Bursche geworden. Ich besaß ziemliche Schulkenntnisse und glaubte, auf meinem Handwerk Gesellenarbeit verrichten zu können. Von der Religion hatte ich keine tieferen Eindrücke empfangen, von Grundsätzen wußte ich nichts, ich sehnte mich nur nach Ungebundenheit und Lebensgenuß. Mein ganzer Lebensplan bestand in dem Vorsatz: Hast du einmal die Freiheit erlangt, dann willst du dir gute Tage machen!


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