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XXX.
Der Festzug

Eines schönen Morgens studierte eine kleine Ansammlung von Mägden auf dem Münsterplatz in Emils Heimat einen mit fester Hand geschriebenen Anschlag an der geschlossenen Ladentüre der Frau Himmelheber, während diese selbst auf dem Speicher die wohl eingepfefferte Reisetasche holte, auf deren einer Seite ein weißer Bernhardiner und der herzliche Wunsch: »Gute Reise!« eingestickt war. Sie füllte das ehrwürdige Monstrum nicht mit Reiseutensilien für sich, sondern mit geflickten Socken, Paketchen Tee, Zigarren und sonstigen guten Dingen, die sie alle dem Sohn zudachte. In Verlegenheit brachte sie nur das eine, in welcher Form sie vor ihren Kunden den unerwarteten Ladenschluß während der zwei Tage ihrer Abwesenheit von zu Hause begründen sollte. Einige leise, aber trotzdem genügend deutliche Anspielungen im Brief konnte sie nicht anders verstehen, als daß mit Emil irgend etwas Angenehmes im Werk sei. Und sie war nahe daran, auf den halben Briefbogen, den sie vor die Türe kleben wollte, zu schreiben: Wegen Familienfestes. Aber Emils Unberechenbarkeit in diesem Punkte mahnte zur Vorsicht, und so schrieb sie auf das Papier mit resoluten Zügen die Mitteilung, welche die studierenden Mägde folgendermaßen entzifferten:

»Wegen näherer Verhältnisse bleibt der Laden heute und morgen geschlossen.

Frau Salomea Himmelheber
geborene Pfefferle.«

Weil sie nun auch einmal in die Schweiz reisen konnte, bevor sie in die kühle Grube steigen mußte, deshalb hatte Emils schaffige Mutter das für sie Unerhörte getan und auf zwei volle Tage den Laden geschlossen, alles aus Freude über das Wiedersehen mit dem Sohne in einer neuen, wenn ihr auch nicht sehr klar erscheinenden Stellung.

Sie liebte nicht allzusehr die schnellen Vehikel der Neuzeit und war der Ansicht, daß wenn man einmal Eisenbahn fahre, man es auch möglichst ausnützen solle. So fuhr sie am Sonntag mit dem ersten Bummelzug und kam erst gegen Mittag an der kleinen Bahnstation in der Nähe des Landerziehungsheims an. Die gute Stunde Weges ihrem eigentlichen Ziel zu ging sie zu Fuß, ohne Emil vorher von ihrer Ankunft benachrichtigt zu haben. Der sollte sehen, daß sie noch allein reisen konnte.

Am Sonntagmorgen, als der Zeiger immer mehr gegen Mittag rückte, geriet Emil nun doch in Besorgnis, ob der alten Frau nichts zugestoßen sei, oder ob sie nicht am Ende krank und ohne Hilfe zu Hause liege. Aber die letzten Vorbereitungen zum Festzuge nahmen ihn so in Anspruch, daß er die Mutter über dem Allernächsten vergaß.

Unterdessen schritt Frau Salomea Himmelheber, dick und schwitzend, aber ihre für alles Schöne immer noch empfänglichen kugelrunden Augen nach allen Seiten werfend, auf der Landstraße dahin und konnte sich nicht genug verwundern ob der vielen Menschen, die sie überall in einer festlichen Stimmung antraf.

Je näher sie aber dem Ziele ihrer Reise kam, desto mehr Menschen hielten die beiden Seiten der breiten Straße besetzt.

Alle erwarteten den Festzug des Landerziehungsheims, und als Frau Salomea Himmelheber auf einmal in der Nähe Musik vernahm, aber so in die drängende Menge geraten war, daß sie für ihre kurze, dicke Gestalt nichts als Püffe und zertretene Fußzehen erhoffen durfte, rettete sie sich mit ihrem raschen, klugen Instinkt in ein an der Straße gelegenes Wirtshaus und wußte mit gewandter Zunge so beredt zu erklären, daß sie die Mutter des neuen Professors am Landerziehungsheim sei, daß sie bald einen der schönsten Plätze am Fenster hatte und in gesicherter Behaglichkeit der Dinge warten konnte, die da kamen.

Die Landstraße machte kurz nach dem Wirtshaus, das auf der Hügelseite lag, einen scharfen Bogen, und man konnte die festlichen Klänge der Musik schon in allernächster Nähe hören, bevor man etwas anderes sah als die langen Hälse der dunkeln Menge. Die Ungeduld und Bewegung wurde immer größer, aber auf einmal sah man einen seltsamen Reiter als Herold dem Zug voran um die Ecke biegen.

Es war Gott Bacchus auf einem grauen, wohlgepflegten Esel, der seine langen Ohren würdevoll und gewichtig bewegte. Aber Bacchus glich nicht einem trunkenen Silen, sondern war der wohlgebildete junge Mann, der sich sonst unter dem Namen des Doktor Siebold im Landerziehungsheim bewegte. Jetzt, da er keinen Kneifer trug, war sein glattes, heiteres Gesicht fast von klassischem Schnitt, wenn nicht der tiefe Schmiß auf der rosigen Wange diese Illusion wieder zerstört hätte. Er trug Weinlaub im Haar und den Thyrsusstab in der Hand.

Dann ritten drei herrliche Gestalten auf schönen Pferden in einer Reihe um die Ecke; der Tag, die Nacht und die Dämmerung.

Der Tag, ein aufrechter Ritter mit kurzem, blondem Vollbart, saß in blitzender, goldener Rüstung auf einem feurigen Schimmel, und seine wehende, weiße Standarte trug das Bild der Sonne. Man kannte wohl den Fechtmeister der Schule, der alle Woche zweimal aus der Stadt ins Landerziehungsheim kam; aber daß er so königlich im Sattel sitzen könne, das hatte man ihm nicht zugetraut. Die Nacht war eine Frau in dunkelviolettem Gewand, das mit Sternen besetzt, weit über die Flanken des Rappen hing, auf dem sie saß. Das Haupt war verhüllt, und in den Armen schien sie im weiten Mantel ein Kind zu halten. Als Dämmerung saß ein junges Mädchen auf einem grauen Rosse. Aber ihre fast noch knabenhafte Jugend war in einem grauen, wallenden Schleier verborgen, und sie legte sich fast verschämt zwischen Tag und Nacht reitend die Zurückhaltung auf, die ihrer Rolle angemessen war.

Als die drei berittenen Gestalten vorüber waren, entstand eine Lücke im Zug, die aber gleich darauf durch das fröhliche Gewimmel von kleinen Knaben in der alten Landestracht der Seegegend ausgefüllt wurde. Sie gingen paarweise und ein jeder hatte einen kleinen Kratten voll der schönsten Äpfel, Birnen und Pflaumen auf dem Rücken. Jedem Paar war ein dritter Knabe in weißer Schürze und mit weißer Mütze, wie die Köche sie tragen, zugesellt; und wo diese kleinen Diener des Lukullus jemand in der Menge entdeckten, der ihnen wohlgefiel, da griffen sie in die Kratten, holten eine Frucht heraus und überreichten sie mit zierlichem Anstand.

Bevor man sie nur sehen konnte, verrieten halblaute, gedehnte Rufe des Entzückens, daß nun die schönsten Gruppen des Zuges nahten.

Zwei Jungfrauen in langen, weißen Gewändern und farbigen Blumenkränzen im offenen Haar führten einen gewaltigen, mit wuchtigem Schritt schwer daherwandelnden rotbraunen Stier. Er hatte einen Ring in der Nase, aber die sanfte Gegenwart der schönen, feierlich gekleideten Mädchen schien ihm alle Wildheit zu nehmen. Gar nicht aufgeregt sah er aus seinen kleinen Augen in die Menge und ließ sich mit seinen vergoldeten Hörnern und dem schweren, um die Brust gelegten Blumenkranz gebührend bewundern.

Der Gruppe von früchtespendenden Bübchen folgte eine andere von weißgekleideten, Blumen streuenden Mädchen. Aber noch waren diese nicht ganz vorübergegangen, als ein Zwischenfall den ganzen Zug zum Stehen brachte und die Aufmerksamkeit hinaus auf die Fläche des Sees lenkte, der das Ufer fast dicht bis an die Straße herauf beleckte. Draußen auf der blauen Flut nahte ein schwarzer, rohgezimmerter Kahn, in dessen Mitte die Gestalt eines wilden, mit erlegten Hasen und Hühnern behangenen Jägers sichtbar wurde. Von seiner grünen Hubertusmütze stand eine kühne Fasanenfeder in die Luft, und in seinem Arme ruhte eine große Armbrust; vorn am Bugspriet saß ein blondlockiger Knabe, der nichts trug als ein kleines von einem goldenen Band umgürtetes Hemdchen. In den Händen hielt er einen feinen, silbernen Bogen, und die Spitze seines starken, scharfen Pfeiles sah man in der Sonne glitzern.

Der wilde Jäger rief ein lautes »Horrido« und »Halt da« dem Zug entgegen, der auch wirklich auf den ersten Anruf stehen blieb. Gleich darauf fuhr der Nachen knirschend in den Ufersand, und der alte Professor vom Kloster St. Martin – denn niemand anders war es – sprang mit seinem Enkel an den Strand und führte den kleinen Schützen an die Spitze der nächsten Gruppe, die noch an der Straßenecke hinter den Büschen stand.

Emils Mutter hatte in ihrer impulsiven Art schon lauten Einspruch gegen eine solche Störung des herrlichen Festes erheben wollen, als sie gerade noch merkte, daß es sich um eine wohlverabredete Sache handle.

Ihre Spannung wuchs, als sie hinter dem kleinen Schützen, den auch ein paar leichte, weiße Flügel zierten, die dunkle Gestalt eines wunderbar anzusehenden Mädchens in leicht geschürztem Gewand mit einem Jagdspeer in der Hand und einer silbernen Mondsichel im griechisch gekämmten Haar, des Weges kommen sah: »Diana mit ihrem Gefolge«, was nichts anderes heißen soll als Sabine mit Emil als Begleiter, der in ein Wolfsfell gekleidet mit nackten Füßen und unbedecktem Kopf als Dianas Jagdgehilfe Adonis eine große Koppel weiß- und braungefleckter Hunde führte.

Sabine und Emil waren bei den Leuten des Dorfes und des nahen Städtchens bekannt und wohlgelitten, und laute Hochrufe auf die beiden erschütterten die Luft, als sie vorübergingen. Frau Himmelheber in ihrem Fenster wollte zuerst auch mitrufen, als sie aber Emil erkannte, der wie ein junger Gott daherschritt, blieb ihr die Stimme im Halse stecken, und ihre Augen wanderten nur voll stummer Bewunderung, einmal ihres Sohnes und das andere Mal des schönen Mädchens, das ihm voranschritt, von einem zum andern, und sie konnte nichts tun, als nach Luft ringen und ohnmächtig, halb verzückt die Arme zum Fenster hinausstrecken.

Erst jetzt sah Emil seine Mutter. Er winkte ihr in hellem Jubel zu und konnte gerade noch seiner Diana ein Wort zurufen, als ihn die Meute Hunde widerstandslos fort- und an dem Haus vorüberriß. Sabine hatte ihn verstanden und winkte der glücklichen Alten freundlich mit dem Speere zu. Und beiden voraus ging trippelnd, aber siegreich, der kleine blondlockige Amor.

Als diese Gruppe unter dem lauten Beifall der Zuschauer vorbeigezogen war, entstand eine kleine, aber spannende Lücke. Da sah man zwei ältere Männer im Zug daherwandern. Gehörten sie zum Zug oder waren sie Fremde, die hineingeraten waren?

Aber als sie näher kamen, konnte man die Schminke im Gesicht und die angeklebten Bärte doch entdecken. Der eine auf der rechten Seite hatte einen kurzen, weißen Vollbart und war in ein schwarzes, nicht eben sehr elegantes Habit gekleidet. Durch eine goldene Brille sahen aber ein Paar klare, frohe Augen, die den sonst etwas leidenden Ausdruck des Gesichtes Lügen straften. Es war niemand anders als der Stadtschreiber von Zürich, der Meister Gottfried Keller.

Neben ihm schritt, etwas größer und beleibter, mit einem Reiseschal über der Schulter und die Hosen in die Rohre der kurzen Stiefel gesteckt, der Meister Joseph Viktor Scheffel. Ein stolzer Knebelbart zierte sein Kinn, und ein mächtiger Filz überschattete seine kleinen fröhlichen Augen hinter der funkelnden Brille. Aber niemand vermutete hinter dem links- und rechtsrheinischen alemannischen Dichterpaar den Doktor Imhoff und seinen alten Kollegen von Steiger. Und wie um es ganz glaubhaft zu machen, daß sie der Stadtschreiber von Zürich und der Meister Josephus vom dürren Ast von Säckingen seien, gingen hinter den beiden zwei Liebespaare. Zuerst der junge, grüne Heinrich mit der blassen Anna; dann der Mönch Ekkehard, der die Zügel eines Zelters führte, auf dem die Herzogin Hadwig stolz im Sattel saß.

Nun nahte das Ende des Festzuges, das aber für sich wieder die allergrößte Überraschung bot. Mit einem schweren Ruckkorbe voll guter Dinge, die er links und rechts in die Menge warf, kam der Herbst daher geschritten. Er steckte in einem grünen, mit roten Äpfeln reich bestickten Rock. Aber obwohl er so gebefreudig gestimmt, machte er ein grimmiges Gesicht. Niemand konnte sich das erklären, bis in einigem Abstand eine andere Gestalt in weißem Pelzrock und mit einer mächtigen Bärenmütze erschien, nach der der gute Herbst manchmal seine drohende Faust ausstreckte. Das war der Winter, der auch dieses Jahr nicht ausbleiben würde.

Aber wie zum Trost kam nach etwa zehn Schritten hinter dem Winter in hellgrünem Röckchen mit einem großen Schneeglöckchen als Mütze ein junger Lenz gegangen, und kleine Kobolde und Elfen tanzten um ihn einen neckischen Reigen.

Um nun aber den Kreislauf des Jahres noch schöner zu vollenden, nahte zu guter Letzt im rohseidenen Gewand, mit einem mächtigen Kranz aus Ähren und Kornblumen auf dem Haupte, ein stilles, blondes Mädchen mit strahlenden blauen Augen. Und fünf kleine Kinder, mit riesigen Klatschrosen als Hüten, trugen vor ihr her auf efeuumrankten Tafeln die fünf Worte des verheißungsvollen Satzes: »Und wollen des Sommers warten!«

Den Schluß des Zuges bildeten die rot und weißen Landsknechte der zweiten Hälfte der städtischen Musikanten. Sie bliesen einen alten Schweizermarsch, und hinter ihnen schlug der auf beiden Seiten gestaute Wall von Zuschauern zusammen.


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