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VIII.
Lotte

Charlotte Kirsten war nun schon die fünfte Woche bei ihrer Tante, der Generalin Lange, zu Gast. Sie hatte gleich am nächsten Tage nach ihrer Ankunft gebeichtet, daß ihr Besuch eigentlich eine Flucht sei. Sie war zu ihr gekommen, um dem Sanatorium zu entgehen, zu dem der Arzt ihrer überarbeiteten Nerven wegen dringend geraten hatte. Ihre Erwartung, daß sie in der Nähe ihrer klugen, ruhigen Tante sich bald von den Strapazen eines winterlichen Künstlerlebens in den Großstädten erholen würde, war auch schon in den ersten Wochen gerechtfertigt worden. Die drei Frauen führten zusammen ein Leben voll seinen Einklangs, bis die wiederkehrende Gesundheit Lottes Reiselust wieder weckte. Sie hatten alle drei eines Morgens über die Zeit gefrühstückt, Lotte hatte gespielt, und Isy blieb noch bei der Mutter, während Lotte sich zum Ausgehen ankleidete.

»Sie ist doch ein entzückender Mensch!« sagte Isy zur Mutter.

»Sie ist ein bedeutender Mensch,« antwortete Frau Lange ausweichend und fast feierlich.

»Liebst du sie nicht?« fragte Isy erstaunt.

»Ich liebe Lotte sogar sehr, am meisten von allen meinen künstlerisch veranlagten Neffen und Nichten. Aber ich habe Angst für sie.«

»Weshalb das?«

Frau Lange zog ihre Tochter, die schon aufgestanden war, wieder auf einen Stuhl neben sich und sagte:

»Siehst du, Isy, ein Mann darf schon ein starkes Manko an Gleichmaß haben. Wenn es durch resolute Tätigkeit ausgeglichen wird, schadet es nie. Bei einem Mädchen aber wird schon ein kleiner Mangel an Gleichmaß ganz leicht der Anfang zur Tragik ihres Lebens.«

Isy betrachtete eine Zeitlang ihre schönen langen Finger und sagte dann unvermittelt:

»Weißt du, Mutter, sie hat doch auch ganz komische Schrullen. Nun denk dir: Fast jeden anderen Tag kommt sie mit einem Haufen Zeug, mit dem sie nichts anzufangen weiß, aus der Stadt nach Hause: Knöpfe, Litzen, Päckchen, Tee, Kerzen; ein ganzes Lager hat sie schon oben. Und als ich sie einmal fragte, wich sie aus und sagte, das seien eben Künstlernarrheiten, und wurde fast grob, als ich in sie dringen wollte.«

Da kam Lotte wieder herein. Sie trug ein ganz einfaches, aber peinlich elegantes graues Tuchkleid und einen hellgrauen, runden Seidenfilzhut mit einem weißen Lederband. Sie spürte es durch, daß man von ihr geredet hatte, und da sie annahm, daß es nur Schmeichelhaftes gewesen sein könne, sagte sie der Base und der Tante doppelt freundlich Adieu und hatte bald die Gangtüre der kleinen Wohnung hinter sich geschlossen.

Rasch ging sie durch die wohlgepflegten Straßen des Gartenstadtviertels und war froh, nur wenig Leuten zu begegnen; denn daß die Leute auf der Straße sich nach ihr umdrehten, das war sie zwar schon gewöhnt, aber die Straßensensation, die sie immer erregte, war ihr doch peinlich und zuwider. Sie fiel auf, und auffallen wollte sie um keinen Preis. Auffallen ist unfein – hatte ihre strenge Mutter, eine fromme Holsteinerin, zu Hause immer gesagt. Und doch konnte sich Lotte nicht dagegen wehren, daß sie überall, wo sie stand und ging, Aufsehen erregte. Aber es wäre wohl allen jungen und älteren Männern, die sich plötzlich für eine Buchauslage oder sonst ein Ladenfenster interessierten, um sich diskreter umsehen zu können, wenn Lotte neben ihnen auf dem Trottoir vorbeigegangen war, schwer gewesen, zu sagen, wodurch sie ihre Aufmerksamkeit so unwiderstehlich auf sich zog. Lotte kleidete sich stets mit erlesener Einfachheit in Schnitt und Farbe; sie trug außer ihrer mattgoldenen Schlange keine Ringe an den Fingern, und ihr Schritt hatte etwas keusch Zusammengerissenes an sich. Vielleicht war es doch ihr Gang, der die Männer fesselte. Sie machte kleine, feste Schritte, die etwas von innerem Adel der Seele verrieten. Aber durch die edle Sauberkeit ihrer Bewegungen drängte sich etwas von unbändigem Temperament und stolzem, fast herrischem Willen. Ihr Gesicht war nicht schön, aber ebenmäßig und bedeutend, und was etwa die zu breite Nase mit den starken Nasenlöchern hätte verderben können, das überstrahlten ihre großen bernsteinfarbenen Augen, die mit trotziger Sieghaftigkeit hinausleuchteten ins Leben.

Sie befand sich bald auf der Hauptstraße der Stadt, wo Dienstmädchen mit weißen Schürzen und mit beladenen Körben vom Markt kamen, und Studenten mit bunten Mützen sich auf dem Weg zum Frühschoppen befanden, und ging dann abseits durch die engen Gassen, wo die Gemüsekrämer und die Antiquitätenhändler wohnen. Unten in den Gäßchen steckte muffige, kühle Luft, oben auf den Häusern, deren Fenster durch sorgliche Frauenhände mit ärmlichen Geranien geschmückt waren, lag Sonnenschein. Da sah sie plötzlich durch eine ganz enge Häuserflucht an einer Ecke des Münsterplatzes unter einem feinen alten Erker ein schmiedeeisernes Schild vorstehen, darauf stand in goldener Schrift gemalt: »Kolonialwaren von Salomea Himmelheber.«

Lotte hielt einen Augenblick inne.

Sie hatte vor fünf Wochen den Laden der Frau Himmelheber zum erstenmal betreten, und Emils Mutter mit ihrem Krämerscharfblick hatte wohl erkannt, daß die vornehme junge Dame ihren kleinen Laden sicher aus einem anderen Grund besuchen müsse, als jedesmal wahllos Bändel oder Litzen zu kaufen, die sie doch nicht für sich gebrauchen konnte. Aber da Lotte es klug und streng vermieden hatte, selber das Gespräch auf ihren Sohn zu bringen, und sogar, als Frau Himmelheber vor acht Tagen zum erstenmal von selbst von ihm zu reden anfing, sich gleichgültig gestellt hatte, da wußte Emils Mutter mit all ihrer vorsichtigen Menschenkenntnis zuletzt doch nicht mehr, wie sie aus der guten, aber doch höchst merkwürdigen Kundin klug werden sollte. Ihr Mutterstolz war aber geradezu verletzt, als sich Lotte anscheinend nicht besonders neugierig gegenüber den Mitteilungen über ihren Sohn verhielt, und als die vornehme junge Käuferin das nächstemal kam, bombardierte Frau Himmelheber Lotte geradezu mit einem längeren Vortrag über Emil, seine bisherige Karriere und seine große Zukunft. Daß er ihr seit seiner Abreise nicht mehr geschrieben hatte, das verschwieg sie wohlweislich. Nun ließ sich Lotte scheinbar so weit herbei, einiges Interesse für den Sohn der beredten alten Frau zu zeigen, die sich dadurch nicht wenig geschmeichelt fühlte. Aber Emils Adresse zu erfahren, war Lotte trotz aller Sublimität ihrer Künste noch nicht gelungen. Den wahren Grund ahnte sie allerdings gar nicht, und ein wissender Hörer hätte seine helle Freude haben müssen an den fein angelegten Schachzügen, mit denen die beiden Frauen gegeneinander operierten, um etwas voneinander zu erfahren, was beide weder wissen noch sagen konnten. Als Lotte aus der dumpfen Häuserflucht heraustrat auf den hellen Münsterplatz, sah sie, daß Frau Himmelhebers kleiner Laden voll war von Bauersleuten, die an den Markttagen ihre kleinen Einkäufe bei ihr machten. In der Sonne über den ganzen Platz hin standen gewaltige aufgespannte Schirme, unter denen Gärtnersfrauen auf Tischen und Bänken ihren farbigen Reichtum an Blumen feilboten. Gegenüber reihten sich die Fleischerbuden, wo zwischen den großen Stücken frisch geschlachteter Tiere aus kleinen Wurstkesseln ein nahrhafter Dampf stieg. Von beladenen Bauernwagen herab bellten wachsame schwarze und weiße Spitzhunde einander an, und noch weiter hinten, gegen die den Platz abschließenden letzten Häuser zu, standen Händler in blauen Blusen und Bauern in samtnen Westen beieinander vor Pferchen quieksender Milchschweinchen, und jeder suchte den anderen mit lärmender Vertrautheit möglichst geschickt zu überlisten.

Aus dem bunten Meer der Kaufstände und Menschen aber erhob sich, unberührt von dem schmutzigen Gischt des Marktens und Feilschens, wie ein großer reiner Gedanke der Münster. In den fast zwei Monaten ihres Aufenthaltes in der Stadt hatte Lotte schon unzählige Male mit den Augen die Kantenlinien des Baues abgetastet, aus dessen roten Quadern sich die schlanke Turmpyramide zum Himmel aufreckte wie ein großes Gebet an die Schönheit. Die Spitzbogen des Münsters schienen ihr die Pforten der Hoffnung, und das zierliche Brückenwerk des Daches fügte Schönheit zum Ernst.

Lotte wartete, in Schauen versunken, bis der Laden leer war, dann trat sie ein. Hinter dem kleinen Ladentisch stand Frau Himmelheber mit strahlendem Gesicht und bat Lotte mit feierlicher und geheimnisvoller Miene zum ersten Male, in der Stube neben dem Laden Platz zu nehmen. Dort gab sie ihr im Überschwang ihrer Gefühle den Brief zu lesen, den Emil ihr bei seiner Ankunft in Brand geschrieben hatte. Lotte las den Brief und war sich nachher nicht klar, was jetzt eigentlich mit ihr vorging.

Sie sah durchs Fenster hinaus auf den Münsterplatz und bemerkte, daß dort so viele Menschen standen. Das Steinwerk des Domes mit seinen Pfeilern und Türmchen und Torbogen leuchtete im roten Schein der Abendsonne, und die grünbemoosten Dächer schienen wie mit Smaragd bedeckt. Aus den Luken und Löchern des Baues sahen zahllose Menschen herab, und um die Wasserspeier mit ihren Fratzen flogen aufgeregt weiße Tauben. Vom Platz unten aber sah eine dunkle Menge mit zurückgebogenen Köpfen in die Höhe. Sie schauten alle auf zu einem, der saß in einem bunten Anzug auf dem hohen Seil, das aus einem runden Loch des Münsters kam und zu einer Dachluke des gegenüberliegenden Kornhauses hineinging. Da, mitten drauf zwischen Himmel und Erde, saß der Seiltänzer rittlings, indem er das Seil zwischen den Schenkeln festklemmte und die Beine frei und furchtlos herabhängen ließ. Die weißen Straußenfedern auf feinem schwarzen Samtbarett wehten im Winde, und auf dem Rücken trug er ein kleines Gewehr. Als er sich in dieser schwierigen Stellung genügend hatte bewundern lassen, nahm er die Flinte vom Rücken und lud sie. Und von unten stieg ein kleiner Ballon, so wie ihn die Italiener auf den Jahrmärkten den Kindern verkaufen, leicht und langsam in die goldene Abendluft. Als er aber in einiger Entfernung an dem Künstler auf dem Seil vorüberflog, da legte dieser an. Ein Knall ertönte, und von dem schönen Ballon fielen ein paar häßliche Gummifetzen hinab auf den Platz. Brausender Beifall stieg aus der dunklen Menge hinauf zum Seiltänzer, der müde lächelnd den Zuschauern gnädig dankte und die weißen Straußenfedern an seinem schwarzen Samtbarett im Winde wehen ließ.

Alles das sah Lotte wie in einem Traum und doch wirklich, und manchmal schaute sie wieder für einen Augenblick in den Brief mit der festen Männerschrift, während Frau Himmelheber in den Laden zurückkehrte, Kunden bediente und wieder ins Wohnzimmer eintrat. Unvermittelt, aber mit großer Herzlichkeit und mit vielen Versicherungen ihres Dankes nahm Lotte auf einmal Abschied von Frau Himmelheber. Diese konnte sich nicht genug verwundern über die ungewohnte Plötzlichkeit ihrer vornehmen Kundin, die diesmal sogar vergaß, ihre Einkäufe zu machen.

Rasch wand sich Lotte durch das Gedränge.

Waren nicht die vielen Männer, die sie in ihrer glorreichen und bitteren Laufbahn hatte kennen lernen, wie dieser Seiltänzer mit seiner schönen Pose und seinem gnädigen Lächeln?

Als Lotte gegen Abend bei ihrer Tante ins Zimmer trat, überraschte sie die alte Frau mit den Worten:

»Tante, morgen reise ich ab! Abgemacht!«

»Wohin, mein Kind?«

»Zunächst einmal in den Vorarlberg.«


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