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XXIII.
Die unsichtbare Wand

Die Dinge nahmen nun wieder den Lauf des alltäglichen Lebens, nachdem sie den Weg, den ihnen das Schicksal gewiesen hatte, gegangen waren. Melchior von Guntens Körper lag nun kühl und geborgen in irgendeinem blauen Eisgrat des Rottalgletschers, und nach drei Tagen stellte die ausgesandte Rettungsexpedition ihre Nachforschungen ein.

Die Behörden faßten genaue Berichte von dem Unglück nach Emils Angaben ab, und nur die Zeitungen waren etwas in Verlegenheit, was sie zu einer Katastrophe sagen sollten, wo der Führer allein den Gewalten der Berge zum Opfer gefallen war.

Als die Möglichkeit, daß Melchior noch unter den Lebenden weile, als ausgeschlossen gelten konnte, wurde sein Name in den Zivilregistern wie im Kirchenbuch gestrichen, und die Gritt war nun eine Witwe mit fünf kleinen Kindern.

Dann kam für Emil noch das Schwerste.

Am vierten Morgen nach dem Unglücksfall besuchte er Lotte in ihrem Interlakener Hotel, wohin sie gleich nach ihrer Ankunft von Grindelwald abgereist war und wo sie bis jetzt krank gelegen hatte.

Sie verbarg nicht ihre Freude über Emils Kommen, von dem sie nicht geglaubt, daß sie ihn noch einmal sehen würde. Er schien ihr milde und nachdenklich gestimmt; nur war es ihr peinlich, als er das Gespräch gleich auf das Unglück lenkte, und noch unangenehmer empfand sie sein Bekenntnis, daß er sich für verantwortlich halte für Melchiors Tod. Das sei eine krankhafte Überspannung seines Verantwortlichkeitsgefühls, unterbrach sie ihn. Emil glaubte, sie wolle alle Schuld auf sich nehmen, geriet in Eifer und fand nicht genug Worte, um ihr klarzumachen, daß sie sich hierin täusche. Denn er habe doch ebensosehr ohne zwingende Notwendigkeit durch eine zu ihrem Vergnügen gemachte Hochtour das Leben eines Menschen gegen Lohn aufs Spiel gesetzt.

»Aber lieber Herr Doktor, seien Sie doch nicht so komisch!« rief sie und war ganz außer sich über Emils schwere Gedanken.

Erst jetzt merkte er, wie Lotte über Melchiors Tod und ihren eigenen Anteil daran dachte, und sagte ernüchtert:

»Ich hatte Sie nämlich bitten wollen, mit mir zu Melchiors Witwe zu kommen. Mich drückt die Last, der Frau, wenn ich schon nichts für sie tun kann, wenigstens zu sagen, wie sich alles zugetragen hat, und danach zu schauen, ob sie wenigstens für die nächste Zeit keine Not leidet.«

»Nehmen Sie mir's nicht übel,« erwiderte Lotte gereizt, »aber der Mann war doch versichert.«

»Und damit ist der Fall für Sie erledigt, Fräulein Lotte?« fragte Emil langsam und sah sie erwartungsvoll und kühl an.

»Ja, was soll ich denn noch?«

Da stand endlich, nach langem Ringen, zwischen ihnen Lottens Betrachtung der Dinge klar und streng geschieden von derjenigen Emils, und keines konnte durch diese unsichtbare Wand hinüber zu dem andern. Emil, der bis jetzt etwas formell und fast feierlich im Zimmer gestanden hatte, ließ sich nun mutlos in einen Sessel sinken. Er blieb eine Weile sitzen und seufzte dann wie in einem unnennbaren Weh tief auf.

»Ich verstehe, daß Sie über mich seufzen,« sagte Lotte mit der großen und schlichten Wahrhaftigkeit, die sich wie ein lichter Berggipfel aus dem unruhigen Dunkel ihres geistreichen Plauderns vorhob; »aber,« fuhr sie resigniert fort, »ich kann Sie eben manchmal einfach nicht verstehen.«

Emil schwieg.

»Ich ahne auch dunkel, daß Sie sich meistens im Recht gegen mich befinden, und daß Sie der Überlegene sind, aber ich kann es nicht sehen.«

Diese Gebundenheit eines reichen Menschen in den Ketten einer feineren Selbstsucht schnürte Emil fast die Kehle zu. Da gab er sich einen Ruck und sagte mit einer Stimme von neuer Hoffnung und Frische:

»Sehen Sie, Fräulein Lotte, als ich Sie hier in Interlaken zufällig traf, da dachte ich, wir könnten ehrliche Freunde und Kameraden werden und einander etwas sein.«

Lotte zuckte mit den Augenbrauen und hörte gespannt zu.

»Aber,« fuhr Emil weiter, »auf dem Weg zu Ihnen – seien Sie mir nicht böse – ist es mir ergangen wie auf einem hohen Grat mit wundervoller Aussicht, auf dem ich alle paar Schritte immer wieder auf einen Felskopf mit glatten Wänden stieß ...«

»... Und vereisten Wänden!« warf Lotte ernst dazwischen.

»Jawohl, auch mit vereisten!« bestätigte Emil nicht ohne Heftigkeit.

»Und nun, Herr Doktor,« unterbrach Lotte, »sagen Sie mir, wenn Sie können, was das ist, was in mir vor Ihnen wie eine Eiswand steht und vor anderen auch oft genug gestanden hat, und was mich immer wieder wegdrängte von meinen liebsten Menschen.«

Emil sah sie an, und sah ihre Not, und wußte nicht, ob er ihr sagen solle, was sie zu wissen begehrte.

»Bitte, sagen Sie mir's, wenn Sie können,« bat Lotte flehentlich; da legte Emil seine Hände auf die Knie, betrachtete sie lange und sagte dann langsam:

»Mir stellt es sich so dar: Ich glaube, daß Sie die Fragen, welche der Mensch, vor allem die Frau, mit dem Herzen erledigen soll, aus dem Kopf heraus lösen wollen.«

»Das sind Redensarten!« fuhr Lotte ihn schroff an. »Zeigen Sie mir das an einer Einzelheit!«

»Einer solchen Einzelheit wegen,« antwortete Emil, »bin ich doch eben hier. Ich finde, wie schon gesagt, daß wir beide über rechtliche Begriffe hinaus verantwortlich sind für den Tod unseres Führers.«

»Und ich kann das eben nicht einsehen,« unterbrach ihn Lotte wieder leidenschaftlich.

»Eben das und nichts anderes wollte ich ja nur konstatieren,« erwiderte er fast mitleidig.

»Aber warum kann ich es nicht einsehen?« forschte Lotte erbittert weiter.

Emil antwortete: »Weil es sich um eine Empfindung handelt, die man niemand als richtig beweisen kann, wenn er sie nicht von vornherein hat.«

»Um was für eine Empfindung?«

»Um das ganz einfache Gefühl, daß es bei der Frau Melchiors und im ganzen Dorf die größte Erbitterung hervorrufen muß, wenn wir sozusagen in Nacht und Nebel durchbrennten, ohne der Witwe wenigstens von den letzten Stunden ihres Mannes erzählt und uns um ihre augenblicklichen Verhältnisse gekümmert zu haben.«

Emils Stimme war mild und mutlos geworden.

Lotte stand am Fenster und sah hinüber nach den dunklen Vorbergen, hinter denen sich die Jungfrau im Silberglanz zum Himmel emporrang. Gewalten ihres zwiespältigen Wesens kämpften in ihr; auf einmal verließ sie das Fenster, trat vor Emil und sagte:

»Sie mögen recht haben, Emil, aber ich kann ...« und sie wiederholte das Wort, als ob sie es zentnerschwer aus ihrem Tiefsten und Innersten herausnehmen müßte, »... ich kann diesen furchtbaren Kondolenzbesuch nicht mitmachen. Denken Sie über mich, wie Sie wollen, ich kann nicht!«

Damit ließ sie sich in einen Sessel sinken, bedeckte ihre Augen mit den Händen und weinte ganz herzbrechend.

Gepeinigt von Lottens erschütterndem Schluchzen, stand Emil hilflos da, unfähig ihr zu helfen, und auch in stummer Scheu davor, die vielleicht nahende Lösung ihres inneren Krampfes zu stören.

Aber mitten im Weinen, als Emil sie gerade tröstend in den Arm nehmen wollte, machte sie sich mit einer gewaltsamen Bewegung los, und auf einmal flammte in ihren Augen wieder der alte Mut zu sich selber auf. Ihre Stimme hatte einen harten reinen Klang, als sie sagte:

»Gehen Sie, und lassen Sie mich, ich bin ein armes Menschenkind!«

Da nahm er ihren Kopf zwischen die Hände und wollte sie auf ihre schöne Stirne küssen. Sie bot ihm aber die Lippen ihres schmalen Mundes hin, und er küßte sie leise und gut darauf. Und während sie sich küßten, vermischten sich ihre Tränen auf ihren Wangen.

Aber Lotte war die erste, die sich wieder bezwang.

»Es ist besser,« sagte sie kühl und nicht ohne eine leichte Bitterkeit, »wir weinen jetzt darüber, daß wir nicht zusammenkommen können, als daß wir später einmal darüber weinen müßten, weil wir uns einbildeten, uns gefunden zu haben. Seien Sie aufrichtig, Emil, ist es nicht so?«

Emil sah sie nur an mit stummer Klarheit in den Augen und zu nichts entschlossen, als durchzuhalten bis ans Ende.

Denn ihr Unglück war größer als das seine.

»Und noch eins!« sagte Lotte.

Sie setzte sich wieder in den Sessel, während er stehen blieb, und fragte:

»Vorhin sagten Sie, daß Sie mich ganz zufällig wiedergesehen hätten, ist das so? Haben Sie mich nicht gesucht?«

Er zögerte keinen Augenblick, die gnädige Lüge auszusprechen:

»Doch, Lotte, ich suchte Sie.«

»Wußten Sie meine Adresse?«

»Ich hatte sie von dem Postfräulein in Brand erfahren.«

Da brach aus Lottens Augen durch die Tränen ein Sonnenblick voll Dank und kurzem Glück. Aber sie fuhr mit schonungsloser Unerbittlichkeit gegen sich selbst fort:

»Aber jetzt liegt die Lawine und Melchiors Leiche zwischen uns, ich kann nicht mehr darüber hinweg zu Ihnen kommen,« – und sie sah ihn bei diesen Worten mit einem leichten Aufwand von prüfender Kraft an – »Sie nicht zu mir.«

»Lotte!«

Sonst konnte Emil nichts sagen, und was an Schmerz, an Mitgefühl und Trauer in ein Wort zu pressen ist, das lag darin.

Er nahm sie noch einmal in die Arme und küßte sie, diesmal nur auf die Stirn.

»Behüt' Sie Gott!« sagte sie.

»Behüt' Sie Gott!« antwortete er.

So gingen sie auseinander, jeder nach seiner Seite, und keiner sah sich mehr nach dem anderen um.

Am Bahnhof in Interlaken erreichte Emil gerade noch einen Zug nach Zweilütschinen. Dort betrat er nicht ohne Bangigkeit den Weg nach Melchiors Haus.

Es stand noch so sonnig braun und fest mitten auf den grünenden Fluren, wie vor acht Tagen, und auf den Fenstersimsen blühten Nelken und Granaten, als sei nichts seither geschehen. Emil griff nach seinem Hals, da würgte etwas; wie schon manchmal seit dem Unglück sah er wieder Melchiors Körper im Schneesturm über die Felswand hinabfliegen und hörte wieder den Lawinendonner verhallen. Wenn's nun ihn getroffen hätte?

Auf der Treppe erblickte er von ferne die Kinder, die in schwarzen Schürzchen auf den Stufen saßen. Als sie den Fremden im Touristenanzuge gewahrten, riefen sie ihm zu, der Vater ginge nicht mehr in die Berge, er sei gestorben.

Emil mußte fest an sich halten und fragte nach der Mutter; die sei in der Stube.

Emil trat in die Stube, fand aber die Gritt nicht drinnen. Als er sich im Hausgang nach ihr umsah, kam sie ihm gerade aus der dunklen Küche entgegen. Sie trug ein schwarzes Witwenkleid und sah Emil, den sie nicht kannte, kühl und mißtrauisch an. Vom Augenblick, wo sie erfuhr, daß sie ihres Mannes letzten Tourenherrn vor sich hatte, erstarrte ihr schon unbewegliches Gesicht zu einer maskenhaften Härte, und sie jagte Emil aus dem Hause wie einen lästigen Handwerksburschen.

Die Kinder, welche sich in die Stube gedrängt hatten und der Mutter zugehört, machten keinen Platz, als er die Treppe hinabging.

Einmal wieder auf der Straße, nahm Emil fest den Weg unter die Füße, und er hatte schon einige Zeit zu würgen, bis er das Gröbste an dieser Schande überwunden, aber dann wurde es ihm wieder leichter zu Mut. Die grimmige Entschlossenheit, mit der sich Gritt mit ihrem Schicksal abgefunden hatte, und die maßlose Ungerechtigkeit, mit der er von ihr behandelt worden war, empfand er für sich als eine Entlastung.

Die würde sich schon durchhelfen. Dessen war er sicher.

So war denn nichts mehr, was ihn zurückhielt, und erschöpft, aber auch erleichtert fuhr er noch am gleichen Tag aus dem Berner Oberland ab.


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