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XI.
Nächtlicher Gang

Wenn Lotte ihren Kontrakten entronnen war und in den großen Städten so viel an Lorbeerkränzen, Blumenkörben und Tausendmarkscheinen geerntet hatte, um in ihrem Tun und Lassen ganz von Menschenhilfe unabhängig sein zu können, so liebte sie es, in der Welt herumzureisen, in vollen Zügen das schöne Gegenwärtige um sich herum zu genießen und sich um eine unsichere Zukunft nicht zu kümmern.

Der Tag ihrer Abreise ins Hochgebirge war für sie immer ein Tag der Erlösung. Das war immer der gleiche Genuß, die Lasten langsam eine nach der andern abwerfen zu dürfen, während sie im Morgengrauen sich von einem Automobil zwischen Tau und Tag zur Bahn bringen ließ. In den Fenstern der Häuser spiegelte sich die erste Morgenröte, und in lautlosem Vorüberrasen auf dem städtischen Pflaster begegnete sie kaum jemand außer einem pfeifenden Bäckerjungen, der das Brot austrug, oder einem Soldaten, der vor seinem Schilderhaus auf und ab ging und gähnte. Dieses Glück der Flucht von allen bekannten Menschen, kommenden Abenteuern entgegen, ward ihr wieder einmal zuteil am Morgen, an dem sie ebenso plötzlich und unerwartet, wie sie zwei Monate vorher gekommen war, das Haus ihrer Tante verließ und am Bahnhof ein Schnellzugsbillett löste. Aber je mehr sie sich ihrem Reiseziel näherte, desto unsicherer und verzagter fühlte sie sich diesmal. Als sie von Bregenz aus den in den Höhen noch stark verschneiten Bergen des Vorarlberg entgegenfuhr, empfand sie eine Ungewißheit und Beklommenheit, die ihr sonst auf ihren Fahrten fremd war.

Sonst liebte es Lotte, die Dinge und Menschen zu kommandieren, studierte genau Kursbücher und Landkarten und ging in allem sehr planmäßig zu Werke. Diesmal aber wurde es ihr erst leichter ums Herz, als sie auf dem Bock neben dem alten Kutscher saß, der den Stellwagen im Brandertal den steilen Karrenweg hinaufführte. Sie überließ sich und alles Weitere, was nun kommen würde, ihrem guten Stern. Nur einmal versuchte sie noch ihr Schicksal zu lenken, indem sie den Kutscher fragte, wieviel und was für Gasthöfe es in Brand gäbe. Aber der alte, weißbärtige Knabe stellte sich der ersten Frage gegenüber taub und beantwortete die zweite mit den Worten: »Ich bring' sie alle zur Gemse!«

Da war also kein Zweifel möglich. Es war ihr Schicksal, zunächst einmal in die »Gemse« gebracht zu werden. Der Ton, in dem der Kutscher diese Worte sprach, erstickte jeden Widerstand im Entstehen.

So fuhr denn Lotte mit drei anderen frühen Sommerfrischlern durch hellgrüne Lärchenwälder, an frommen, von mächtigen Linden überschatteten Kapellen vorüber, zwischen saftigen, mit braunen Häuschen überstreuten Matten hindurch, bis der holprige Stellwagen um die Mittagszeit bei einem sauberen, fröhlichen Gasthofe anhielt.

Eine runzliche Frau in Witwentracht begrüßte freundlich und händereibend die wenigen ersten Gäste, die sie mit einem raschen Blick aus ihren pfiffigen schwarzen Äuglein im Geist sortierte, und je nach ihrem vermutlichen Stand und Bestand ihres Geldbeutels für die einzelnen Zimmer vormerkte. Lotte führte sie selbst in das beste Zimmer des Anbaues, während sie die anderen Gäste ihrer Schwiegertochter überließ, die gleichfalls in Witwentracht beim Empfang hinter ihr auf der Treppe gestanden hatte. Ein Hausknecht schleppte den großen Koffer auf Lottens Stube, in welcher bald das elegante Durcheinander eines Künstlergemachs die nüchterne Zweckmäßigkeit des Hotelzimmers verdrängte. Die Aussicht ging auf ziemlich steile Höhen, die ein schäumender Bach durchschnitt und von denen sich wie farbige Plüschteppiche schöne Wiesenhänge herabließen; so dicht von Blumen durchwirkt stand das Gras auf den Bergmatten. Von gegenüber tönte aus einem braunen Häuschen, dessen Schindeldach mit schweren Steinen belastet war, das emsige Hämmern eines Schuhmachers. Der bearbeitete hinter einem Fenster eine Sohle auf seinen Knien. In der Wiese vor dem Haus sah Lotte einen Mann breitbeinig mit der Sense stehen. Unter dem wuchtigen Schnitt der Sense fielen die Gräser und die Blumen in breiten Schwaden. Der Mann drehte Lotte den Rücken, aber seine Kleidung und die Mischung von Schwerfälligkeit und Vornehmheit in der Haltung und sein Kopf voll brauner Locken ließen Lotte rasch erraten, wer da mähte. Sie blieb noch beobachtend hinter dem Vorhang stehen, und als der Mann ihr das Gesicht zuwendete, sah sie, daß sie sich nicht getäuscht hatte. Das mußte der Doktor Emil Himmelheber sein, den sie suchte.

Die sinkende Sonne warf ein blutrotes Band über den schäumenden Fluß, und in der Abendkühle machte Lotte den ersten Spaziergang durch das Dorf. Ihr Herz schwankte zwischen der Bewunderung der weichen Feierlichkeit, die über diesem Bergtal lag, und zwischen ihren eigenen, unbehaglichen Gefühlen, die manchmal bis zum Ärger und zur Beschämung über sich selbst anwachsen wollten. Nach einer unruhigen Nacht trug sie früh am Morgen ihre Bergschuhe, an denen einige Nägel fehlten, zu dem Schuhmacher am Bach, der sich gestern abend schon so tätig angekündigt hatte, und den sie auch in der Morgenfrühe wieder klopfen hörte.

Als sie die Türe öffnete, saß aber der Mäher von gestern auf dem Schusterstuhl. Der vermeintliche Geselle drehte sich um, und die beiden Augenpaare zweier Menschen trafen sich in einem großen, kühlen, verwunderten Blick. Lotte brachte ihr Anliegen vor, und Emil erwiderte höflich, aber mit der Zurückhaltung, die ihm seit seinem zweimonatigen Leben unter dem einfachen Volk allen Vornehmen gegenüber zur Gewohnheit geworden war, er werde den Schuhmacher rufen, denn er selber habe nur während der Frühstückspause seine Bergstiefel selbst ausgebessert. Dann rief er zur Tür hinein:

»Meister, man ruft Euch. Es ist jemand Fremder da!« Dann grüßte er Lotte wie in einer Art Entschuldigung für seine kurze Angebundenheit etwas wärmer, als er sie empfangen hatte, und ging dann zum Hausgang hinaus.

Das hatte sich Lotte nun alles ganz anders vorgestellt, sowohl die Begegnung mit dem Mann, um dessentwillen sie hierhergereist war, als ihn selber. Sie spürte etwas von der Stimmung einer verlorenen Schlacht, bevor nur die Vorpostengefechte begonnen hatten, und fühlte sich erleichtert, als der Schuhmacher selbst in die Werkstatt trat. Das war ein großer Mann, der sich ständig etwas gebückt halten mußte, um nicht an der Decke anzustoßen. Seine ungewöhnliche Magerkeit, zusammen mit einer gewaltigen Hakennase und einem spitzigen Kinn hätten einen beängstigenden Eindruck machen müssen, hätten nicht ein paar milde Augen und ein überaus kleiner feiner Mund jeden Zweifel, über seinen Charakter auf den ersten Blick zerstreut. Nachdem er sich Lottens Bergstiefel bedächtig und genau angeschaut, zeigte er ihr noch drei offene Nähte, die sie nicht bemerkt hatte, und sagte, er habe so außergewöhnliche und gar nicht aufzuschiebende Arbeit, daß er die Stiefel vor vier Uhr nachmittags nicht versprechen könne.

Der Mann gefiel Lotte, aber alle ihre stürmischen Einwände, daß sie die Stiefel sofort brauche, wurden von dem Schuhmacher lächelnd und schonend abgelehnt. Etwas unwillig ging Lotte. Was das alles nur für Leute waren? Da hatte ja jeder seinen eigenen Kopf, und gar nichts ging nach ihrem Wunsch.

Im Gasthaus zur Gemse begrüßte die Wirtin den neuen Gast und ließ Lotte wissen, daß es jetzt im Haus bald recht unterhaltend würde, da auf heute wieder neun fremde Herrschaften angemeldet seien. Im übrigen wäre es schon ein Glück, daß es nicht noch mehr Fremde gäbe wie den Kauz da drüben beim Schuster, der wohl eine Art Gelehrter sein müsse, aber vielleicht nichts Rechtes zu beißen habe, und sich darum im Privatlogis herumdrücke.

Das sagte sie mit einem scharfen Blick auf die Schwiegertochter, die eben daran war Blumensträuße, auf die Tische des Speisesaals zu stellen. Sie tat aber, als hörte sie nichts.

Ungeduldig wartete Lotte auf das Mittagessen, wie auf ein Ereignis, das ihr den langweiligen Tag mit dem ungewissen Wetter verkürzen würde. Vor dem kleinen mit Gemsgeweihen und sinnreichen Sprüchen gezierten Speisesälchen des Gasthauses zur Gemse läutete endlich die Glocke. Hungrige Menschen, leichtbeschuhte Wienerinnen und schwergenagelte Hochtouristen, ernst dreinschauende Geheimräte und lustige Gymnasiasten mit fröhlich in die Lüfte schauender Nasen saßen an den weißgedeckten Tischen und hieben tapfer ein. Langsam verstrich für Lotte die Zeit. Aber punkt vier Uhr kam der Schuhmacher, wie er versprochen hatte, mit ihren Stiefeln und forderte für die Arbeit einen bescheidenen Lohn. Sie wechselte rasch ihr Schuhzeug um noch am gleichen Abend hinauf an den Lüner See zu kommen, dessen Schönheit sie schon vor Jahren hatte rühmen hören.

Es war spät am Nachmittag, als Lotte dem rauschenden Fluß entlang an einem breiten Talhügel vorbei und über wellige Hügelhänge aufstieg. Ein weiches blaues Abendlicht lag über den Bergen. Der steinige Fußpfad schlängelte sich zuerst behaglich durchs Grün und kletterte auf einmal zwischen großen Felsblöcken hindurch, die einmal von verschwundenen Gletschern hier abgesetzt worden waren, dann ging es auf einem schmalen Band längs einer glatt abgebrochenen Felswand hin. Unten in einer tiefen Schlucht tobte der wildschäumende Fluß. Am Rande der Schlucht standen moosbewachsene knorrige Tannen und breiteten ein dunkles Blätterdach über den Weg. Aber bald trat Lotte aus dem kühlen Dunkel heraus wie in einen weiten, hellen, heiteren Tempel, und auf allen Seiten stiegen lichte Kalkwände auf, überdeckt vom makellosen Blau der Himmelskuppe. Die sanfte Glut der Abendbeleuchtung, in der die alten Schneereste rosig aufleuchteten, nahm den Felsen all ihre Härte, und Lotte blieb einen Augenblick verwundert stehen. Es überkam sie der Gedanke, sie sei jetzt Tausende von Meilen entfernt von allen Menschen und hier einmal einsam und allein zu Gaste in einem unsagbar schönen Reich. Nur einmal im Leben, als sie noch ein Kind war und die Sage von Psyche las, wie sie erschreckt, aber neugierig ängstlich und doch selig im Palaste Amors einherging, hatte sie ähnliches gefühlt.

Ruhig wie in einem Traum, aber doch mit einer ungewohnten Klarheit alles erblickend, ging sie den immer wüster werdenden Weg hinauf. Langsam schoben sich die schönen Kalkwände des Felsentempels zusammen, und trostlose hohe Geröllhalden traten an ihre Stelle. Da tauchte eine grüne Waldinsel in der Schuttwildnis auf. Zwischen den verwachsenen Lärchen weidete in feierlichem Halbdunkel eine hirtenlose Herde brauner Kühe. Als Lotte die Oase hinter sich hatte, bemerkte sie, daß sie in einen zweiten Tempel gekommen war. Und doch, das war kein Tempel mehr. Eine düstere Steinhalle mit drohenden Mauern, aus denen es kein Entrinnen mehr zu geben schien, schloß sich um sie herum. Das letzte Leuchten des Tages verglühte an den Wänden des Felsenkerkers und zeigte noch gerade einen schmalen Geißpfad, der in steilem Zickzack hinaus ins Ungewisse führte. Aus einem unsichtbaren Riß ganz oben in einer der Felswände stürzte der Bach heraus und wallte in weißen Flechten über das blinkende Gestein. Die dunkle Silhouette einer von Lawinen zu Boden geworfenen Zwergbirke reckte sich noch dürftig auf gegen einen schmalen Streifen des letzten Abendrots. Dann kam die Nacht, die sternenlose Nacht im Hochgebirge.

Lotte kannte die Angst nicht und war, was man eine firme Gängerin nennt. Bis hierher war ihr Inneres ruhig gewesen. Sie wußte genau, daß der Weg nicht im geringsten gefährlich war, wenn sie nur stetig vor sich her ging. Aber als sie an die Stelle kam, die man den Bösen Tritt heißt, drängten sich doch alle Mächte des Dunkels wie durch einen Riß in ihre Seele. Das sanfte Rauschen des Baches wurde unheimlich, und sie mußte sich immer wieder von neuem vorstellen, wie steil das Wasser hinabstürzte. Immer aufdringlicher fetzte sich der Gedanke in ihrem Hirn fest, sie könne in eine Steinfallregion kommen.

»Aber abends fallen am wenigsten Steine,« sagte sie sich und glaubte es doch wieder nicht.

Warum all diese ungewohnte Angst?

Sie war unzählige Male hart an schlimmeren Abgründen gestanden und hatte leuchtenden Auges hinabgeschaut und nichts gefürchtet. Wenn sie jetzt dachte, es könnte ihr eines der infamen kleinen Geschosse aus den menschenfeindlichen Höhen in der Nacht, in der Einsamkeit das Leben auslöschen, dann wollte sie wieder Furcht anfallen. Aber auf einmal sah sie, wie durch das Dunkel zwei helle, klare Männeraugen in stummer Verwunderung sie anschauten. Da ging es wieder.

Auf einmal lag etwas Weißes im Weg. Wohl ein alter Schneefleck, dachte sie und hieb nachlässig zur Probe auf die weiße runde Fläche. Aber unter dem Schlag des Pickels sprühte ein reiches rotes Funkenbukett auf. Sie hatte auf einen weißen Kalkbrocken geschlagen. Das freute Lotte so, daß sie das Feuerwerk noch ein paarmal aufsprühen ließ. Die Funken fuhren ihr auch ins Herz und gaben ihr den alten Mut wieder. Nach einigen Schritten aufwärts empfing sie ein schwacher, aber eisiger Wind. Sie stand oben auf der Jochhöhe. Drunten im Schoß der starren Steinwände glänzte der Lüner See, und einige Sterne rissen Zackenlichter in die schwarze Wasserfläche.

Eine halbe Stunde brauchte Lotte aber doch noch, bis sie in die Stube der Douglashütte eintreten konnte, die wie ein Festungsfort in der Nacht über dem See lag. Mitten in dem rauchigen Trubel eines bergfahrenden Gesangvereins aß Lotte zu Nacht und ging dann zu Bett. Als dem unermüdlichen Männerchor zur vorgeschriebenen Feierabendstunde vom Bewirtschafter der Hütte endlich Einhalt geboten wurde, begleitete die eintönige Musik des Hammers am Quellwerk drunten am See die schweren Gedanken Lottes. Sie lag noch lange wach und erlitt die peinliche Ernüchterung aller Menschen, die auf enthusiastische Schilderungen hin eine Persönlichkeit besuchen und in der Empfindung einer schon vorhandenen Bekanntschaft einen weniger warmen Empfang bereitet bekommen, als sie ihn zu erwarten sich für berechtigt hielten.


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