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XVII.
Abschied

Noch immer rieselte ein sanfter Landregen durch die Nacht herab übers Tal. Marianne war schon einige Male aufgestanden, um Licht zu machen, nach der Uhr zu sehen, oder auch zu schauen, ob der Tag noch nicht graute. Eine ganze Stunde später als sonst schien endlich die feuchte Dämmerung durch ihre Fenster, und vor den Bergen hing es ringsum von schweren, nassen Wolkenfetzen. Pipa und Franzl schliefen fest mit weit um den Kopf gelegten Ärmchen in den Kissen der Mutter, die ihr Bett am Abend aus einem süßen, sehnsüchtigen Gefühl heraus in die Bettstatt gemacht, in der Emil die Nacht vorher geschlafen hatte. Aber als sie nach Mitternacht, nach dem lauten Abend, über dessen Einträglichkeit sich die alte Huberin nicht genug hatte die Hände reiben können, hinauf in ihr Zimmer gekommen war, da bettete sie die schlafenden Kinder an den Platz, den sie sich selbst zugedacht hatte, und durchwachte auf ihrem gewohnten Lager, aber auf den Kissen der Kinder eine zweite Sturmnacht.

Die Kühe, die sich während des gestrigen Tages langsam von selber wieder im unbeschädigten Stalle eingefunden hatten, fingen an zu muhen und an der Kette zu zerren, und als das Maultier, hungrig, immer stärker gegen die Wandverschalung trat und drunten in den Büschen am rauschenden Bach die erwachenden Vögel zu piepsen begannen, da wußte Marianne, was für ein bitterer Tag ihrer wartete.

Sie ging hinab in den ersten Stock und wurde von der früh aufgestandenen Schwiegermutter mit der Mitteilung überrascht, daß Fräulein Kirsten ganz zeitig einen Wagen nach der Bahnstation hinab bestellt und gerade im Begriff sei, abzureisen; ihre Rechnung sei bezahlt und das Trinkgeld sehr gut ausgefallen.

Das Wetter sei ihr zu schlecht – setzte die Huberin erklärend hinzu und blinzelte derweilen die Schwiegertochter lauernd an. Als diese nicht antwortete, schloß die Huberin grob tröstend:

»Der Herr Doktor Himmelheber bleibt natürlich noch hier.«

Marianne antwortete nichts, nur ihr Mund schloß sich schmerzhaft, und ihr Herz krampfte sich zusammen im Sträuben gegen eine Hoffnung, die noch einmal ihr Haupt erheben wollte.

Vor der Haustüre sah Marianne Lotte Kirsten gerade noch mit frischem, gut ausgeschlafenem Gesicht einsteigen. Die Künstlerin sagte der Gemswirtin mit warmer Leichtigkeit Adieu, wünschte ihr alles Gute und fuhr dann, noch einigemal zurückwinkend, die Dorfstraße hinaus, gerade als ob sie hier die ganzen Wochen nichts anderes als gelegentliche Sommerfrischlerin wie alle die anderen Pensionäre gewesen wäre.

Marianne verlor angesichts dieser rätselhaften, plötzlichen Abreise denn doch die bittere, innere Sicherheit, zu der sie ihr Herz schon niedergebeugt hatte. Sie wußte nichts zu alledem zu sagen; aber wie um sich jeden Rückzug selber abzuschneiden, begab sie sich entschlossen in den langsam in Bewegung geratenden morgendlichen Wirtschaftsbetrieb, erteilte in der Küche einige Befehle für das Mittagsmahl, sah nach dem Vieh im Stall und machte sich nach dem Kaffee mit einem aufgespannten Schirm auf dem verregneten kleinen Pfad hinab an den Bach, der immer noch mit schäumenden schmutzigen Wassern zwischen Gebüsch und Matten dahinschoß.

Emil sah sie oben von seinem Fenster beim Achleitner herauskommen und wollte rasch hinabgehen, um ihr über den vorläufig gelegten Steg zu helfen; aber bevor er zum Haus hinaus war, hatte Marianne die schwankenden Balken schon betreten und war mit festen, kurzen Schritten ans andere Ufer gekommen.

»Zu Ihnen hab' ich g'rad kommen wollen, Herr Doktor Himmelheber!« sagte sie ruhig und einfach zu Emil.

Dieser stand fest und gerade vor ihr, aber ein Stück Schuldbewußtsein lag in seiner Stimme, als er erwiderte:

»Und wenn du, Marianne, nicht gekommen wärst, so wäre ich jetzt gerade hinüber gekommen. Wir müssen miteinander sprechen.«

Sie mußten zuerst durch die Werkstatt des Achleitner, und als dieser die beiden eintreten sah, fiel ihm ein, daß er ja der Postmeisterin noch das Maß zu einem Paar Schuhe zu nehmen habe. Emil bat Marianne, in dem alten geschnitzten Lehnstuhl, der eine Zierde seines Zimmers war, Platz zu nehmen.

Sie setzte sich kerzengerade hinein, legte die beiden Arme ruhig auf die beiden Armlehnen und wartete eine kleine Weile. Dann sagte sie, indem sie Emil ansah:

»Ich hab' Sie um etwas bitten wollen, das fast wie eine Unverschämtheit aussehen könnte, wenn meine Bitte nicht eine Ehre für Sie wäre ...«

Emil überhörte das »Sie« und wartete.

»... fortzugehen von Brand,« beendigte Marianne fast streng ihren Satz. Emil hielt ihre Worte und ihren Blick ruhig aus, dann sagte er:

»Marianne, du bist gut zu mir. Ich hab' dir zuvorkommen und dir sagen wollen, daß ich es um deinetwillen für nötig halte, zu gehen.«

Da schoß Marianne das Blut in den Kopf, und gleich nachher wurde sie kreidebleich. Kalt und stolz kamen die Worte aus ihrem Munde:

»Das habt ihr gut eingefädelt, du und Fräulein Kirsten.«

Emil sah sie erstaunt, erschreckt und verständnislos an.

Marianne erschrak nun selber über ihren Ausbruch, und entschuldigend setzte sie hinzu:

»Fräulein Kirsten ist doch schon den Morgen abgereist!«

Emil sah sie sprachlos an.

Da kam der Achleitner noch einmal zurück und gab Emil einen Brief, den die alte Huberin eben für ihn hatte herüberschicken lassen. Emil erbrach das Schreiben, las die wenigen Worte und gab sie dann Marianne.

Der Brief war auf einer feinen Karte mit den Initialen Ch. K. in der Ecke geschrieben und lautete:

»Es grüßt den Ringer aus enger Behaglichkeit zum freien Licht

Lotte Kirsten.«

Unter dem Namen stand noch wie ein Fanfarenmotiv mit regelmäßiger aufrechter Schrift das Wort: » Excelsior«.

»Ich habe dir unrecht getan,« bat Marianne mit verborgener Achtung in der Stimme, aber ohne Demut und Entgegenkommen.

»Gegen das Unrecht, das ich dir zugefügt, Marianne, ist das nichts,« erwiderte Emil dumpf und grimmig.

»Was war dein Unrecht?« fragte Marianne mit neugieriger, grausamer Sachlichkeit.

Da sprang Emil auf wie ein Mann und brüllte heraus:

»Daß ich dich küßte ohne Ernst, daß ich dich umarmte ohne Recht, daß ich dir Hoffnungen machte ohne die ganze eigene Gewißheit meiner Liebe zu dir, das« – und seine Stimme wurde milder –, »du gütige, feine, treue Frau, war mein Unrecht an dir, und ich weiß nicht, wie ich das gutmachen soll.«

»Sei still!« bat sie ihn, sah ihn an und liebte ihn wieder.

»Mach dich nicht schlechter, als du bist, da hast du noch weniger Recht dazu. Ihr Männer seid einmal so; geh! – dann wird alles wieder gut für dich und mich!«

Emil schüttelte den Kopf. Er könne jetzt gerade unmöglich gehen, wo die Geschäfte mit der Sorge um die Wasserbeschädigten noch nicht erledigt seien, aber er wolle noch ein paar Tage hinauf auf die Sarottlahütte an der Zimba sitzen, dort zurechtkommen und dann abreisen.

Da ging sie auf ihn zu, nahm seinen Kopf ruhig zwischen ihre beide Hände, küßte seine Stirn, dann seine beiden Augen und dann seinen Mund und sagte zu ihm: »Bist halt doch ein guter, guter Mann!« Und er ließ es alles ruhig geschehen wie ein schuldiges Kind. Dann hörte er die Türe knarren, und als er zum Fenster hinausschaute, sah er sie sicheren Schrittes über den Steg hinüber zur »Gemse« gehen.


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