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XIX.
Michael Mahler

Ohne es zu wollen, war Sabine nach den ersten zwei Wochen ihres einsamen Schauens und Lauschens auf Schloß Brunn die Vertraute der meisten Gäste Michael Mahlers geworden. Ihre Arbeit brachte sie mit allen Gästen zusammen. Sie trug bei den zwei Mahlzeiten das Essen auf und servierte während des Frühstücks. Ihr sonniger Blick war immer ein Trost und eine Freude, wenn sie beim Herumreichen der Speisen dem und jenem zunickte. Junge Männer aber hielt sie in einem freundlichen Abstand.

Romane, die zum Schrecken der Mutter zu Hause ihre Lieblingslektüre waren, brauchte sie jetzt keine mehr zu lesen, um das Leben kennen zu lernen, das die Mauern des Pfarrhauses vor ihr verbargen. Sie erlebte sie. Oft konnte sie sich in ihren wenigen freien Stunden nicht mehr retten vor Bekenntnissen und Hilferufen und nach Trost suchenden Herzen. Schiffbrüchige der Ehe waren in diesen Hafen eingelaufen, Menschen mit unglücklicher Berufswahl, Zweifler an sich selbst; aber nicht die tragikomischen Gestalten, die, zermürbt, sich schon ihrem Schicksal ergeben hatten, sondern Kämpfende und Ringende, die im Wirrwarr der Geschehnisse die Sicherheit des Auges und der Hand verlernt hatten. So vergaß Sabine über ihrer Arbeit und über fremdem Leid ihr eigenes mit der Mutter, mit Hans und mit ihrer großen Einsamkeit. Aber eines Tages, als sie frei hatte, konnte sie von all der Qual verängstigter Seelen nichts mehr hören und ging in die dunkle Ecke der Rüstkammer, wo sie auf einer Bank hinter einem Tisch in verborgener Kühle ausruhte von der Hitze des Tages und dem vielen, was auf sie einstürmte.

Die Rüstkammer war ein Juwel unter den zahlreichen schönen Räumen des Schlosses. Auf niederen Säulen ruht ein weißgetünchtes Gewölbe mit weitem Schwibbogen. Die Wände waren mit Holz getäfelt, und auf den Brüstungen der Täfelung standen alte Zinnkrüge und Majoliken. Laubgewinde schmückten die Kapitäle der Pfeiler. An den Wänden entlang liefen Bänke, und auf eine der hintersten setzte sich Sabine mit müdem, vollem Herzen. Hier würde sie niemand finden. Das traf denn auch zu, aber nicht das Umgekehrte, daß sie niemand finden würde.

Die Rüstkammer war ein Durchgang vom inneren Schloßhof auf eine efeuumsponnene Terrasse. Auf einmal hörte Sabine Schritte. Ein junger Mann trat ein mit einem Mädchen. Sie führten sich an der Hand, und wenn Sabine auch ihre Gesichter nicht sehen konnte, so kannte sie die beiden doch an ihren Stimmen. Die zwei kamen herein und waren damit der Außenwelt für einen Augenblick, wie sie meinten, entrückt. Als sie in der Mitte der Rüstkammer standen, hemmten sie ihre Schritte. Sabine hörte ihr Herz laut pochen. Dann durchzog ein süßer Wohllaut wie von zwei sich berührenden Lippenpaaren das alte, seit Jahrhunderten nur von Waffengeklirr erfüllte Gewölbe. Sabine fühlte sich wie in Wohlgeruch gehüllt. Etwas so Seliges und Heiliges hatte sie noch nie erlebt. Zwei Erdenkinder, Mann und Weib, waren vor ihr für einen Augenblick aufgelöst in die zarteste Einheit Mensch.

Sabine schloß die Augen und hörte das Paar nur noch durch die Tür auf die Efeuterrasse treten. Als die letzten Schritte vor dem Türchen verhallt waren, sprang sie im Glück der Scham auf und lief mit glühendem Kopf und pochenden Pulsen in den Park und durchs große Parktor hinab in den Grund. Und während sie dahinstürmte, sahen ihre Sinne nicht die breitausladenden Bäume und nicht die dichten Hecken am Weg, sondern nur das Bild eines Mannes, der auf der höchsten Altane eines Münsters stand mit wild durchwühlten Kleidern und zerzaustem Haar um die hohe Stirn. Und sie dachte, was sie schon so oft gedacht, daß es etwas grenzenlos Beruhigendes und unbeschreiblich Entzückendes sei, wenn man glauben könne, daß die Menschen, deren bitterstes und süßestes Schicksal es ist, im Geschlecht getrennt auf der Erde zu erscheinen, irgendwo und irgendwann, gerade ihre restlose Ergänzung durch einen, durch den anderen Menschen finden zu können.

Und Sabine hatte diesen Glauben und dazu noch den anderen, daß nur der findet, der nicht sucht.

So ging sie weiter.

Hinter dem Schloß stieg ein wirres Hügelgewoge auf. Stille Wiesengründe lagen im heiteren Rahmen von Laubwäldern, und großschollige Felder breiteten sich in leichtgeschwungenen Flächen unter dem Himmel. Von unten her sahen die Ackerfelder mit ihren schwach gebogenen Konturen aus wie Teilschnitte aus der Kreislinie der Erdrinde. Ein Bauer mit einem vor den Pflug gespannten Ackergaul zog über die Erdkante, und Sabine sah in seiner Silhouette das Symbol des Menschen, der sich müht im Schweiße seines Angesichts. Manchmal erhob sich ein Rabenflug aus den Bäumen, und in der silbernen, dunstigen Luft zog ein Raubvogel langsam seine Kreise.

Da sah Sabine drunten im Wiesengrund den Doktor mit seiner Frau und seinen vielen Kindern gehen. Er hatte sie schon entdeckt und winkte ihr, herabzukommen. Als Sabine vor dem kleinen Kreis stand, fragte sie Doktor Mahler:

»Nun, wie steht's, Fräulein Feuerstein?«

Durch solche Fragen setzte Mahler Sabine immer noch mehr in Erstaunen, als durch seine tiefsten Vorträge, die er jede Woche einmal in einem alten Rittersaal hielt. Dieser Mensch besiegte sie durch seine Einfachheit und Schlichtheit, die sie so sehr vermißte bei den Amtsbrüdern ihres Vaters und manchmal sogar bei diesem selbst. Da war keine christliche Brüderlichkeitssprache, keine gesalbte Baßstimme, kein Tremolo der Seele, sondern nichts als die Mensch gewordene Unscheinbarkeit.

Als Sabine, halb lachend, halb besorgt, dem guten Doktor Mahler ihre Besorgnis mitgeteilt hatte, daß die Menschen auf Schloß Brunn sie überschätzten und daß, wenn das so fortgehe, sie fürchte, größenwahnsinnig zu werden, lachte Mahler sie aus:

» Seien Sie größenwahnsinnig, Fräulein Feuerstein,« sagte er ruhig.

Sabine fand die Antwort zwar sehr ermutigend, aber bekannte, daß sie sie nicht ganz verstehe.

Da ließ Doktor Mahler seine Frau mit den Kindern allein nach Hause gehen und meinte zu Sabine, sie hätten schon lang einmal einen Spaziergang zusammen machen sollen.

Sabine war zuerst etwas enttäuscht von der fast unbeholfenen Art Mahlers, sich stoßweise und wortkarg zu äußern.

»Kümmern Sie sich doch nicht darum, ob Sie nach Ihrer Meinung überschätzt werden. Was geht das Sie an? Die Menschen haben Sie einfach lieb! Und das geht Sie schließlich auch nichts an.«

Sabine mußte lachen, aber plötzlich zog ihr ein schmerzhafter Schatten um den Mund. Nun hatte ihre Mutter und so viele andere Menschen über drei Jahrzehnte an ihr herumgebessert, gehobelt und gefeilt, und sie selbst hatte in edlem Wettbewerb schließlich dabei mitgemacht, und nun kam da ein Mann und sagte:

»Lassen Sie doch den Kram, Sie sind ein ganz trefflicher Mensch und wissen es nur nicht. Leben Sie doch wie ein Kind in den Tag hinein. So wie ich. Ich kann vom tiefsten Schmerz erschüttert werden und in der nächsten halben Stunde froh und übermütig sein. So leben die Kinder.«

Und wie Doktor Mahler so zu ihr sprach und sie unter den Laubbögen des hellen Buchenwaldes dahingingen, da kam es leise über Sabine wie eine dunkle Ahnung, daß dieser Mann nichts sagte, als was sie längst dunkel fühlte. Sie sah, daß, was die Menschen Charakter nennen, in Wirklichkeit nur ein Schauspiel vorgetäuschter Tugenden war, und daß sie glücklich gewesen, solange sie voll gläubiger Torheit, aber aus aufrichtigem Herzen in den Tag hinein gelebt hatte, bis ihr die Mutter die ganze Würdelosigkeit eines solchen Lebens klarzumachen wußte.

Doktor Mahler schien ihre Gedanken zu erraten, denn es war wie ein Fortspinnen ihres eigenen Sinnierens, als er sagte:

»Sehen Sie, Fräulein Feuerstein, das ist der grundlegende Unterschied zwischen der Kirche, auch zwischen Ihrer Kirche und mir. Die Kirche hält den Menschen von Grund aus für schlecht und will ihn gut machen. Ich halte den Menschen von Grund aus für gut und will ihm nur zu diesem Erlebnis von seiner eigenen Güte verhelfen. Alles andere geht dann von selbst.«

Sabine war es ganz eigentümlich zumute. Sie hörte Doktor Mahler wie aus weiter Ferne zu sich sprechen, und doch ging er dicht neben ihr her im sommerlichen Walde.

»Was soll ich tun, Herr Doktor?« fragte Sabine plötzlich ganz unvermittelt, nachdem sie eine Weile neben dem kleinen Mann mit dem großen Schritt ganz still hergegangen war.

» Selbständig werden um jeden Preis, Fräulein Feuerstein! Suchen Sie sich irgendeine Stellung in der Welt und werden Sie unabhängig von der Zucht Ihrer Mutter.«

»Was kann ein Mädchen von meiner Herkunft anfangen?«

»Gehen Sie doch in irgendein Landerziehungsheim, dazu sind Sie wie geschaffen.«

»Ich habe einen Vetter, der ist Leiter eines Landerziehungsheims.«

»Warum gehen Sie nicht hin?«

Sabine blieb Doktor Mahler die Antwort schuldig. Sie wußte nicht, warum sie das nicht schon lange getan hatte. Bald darauf trennten sich die beiden.

»Adieu, kommen Sie nicht zu spät zum Kaffee,« sagte Doktor Mahler und schüttelte Sabine die Hand.

Sabine kam aber doch zu spät. Sie wanderte weiter durch das grüne Hügelgewoge und die hellen Wälder, und während sie weiter wanderte, war es ihr, als ob etwas Neues in ihr fortglimmte. Ihr war, als ob dieser Mann heimlich eine Zündschnur angebrannt, die bis in ihr Herz hineinreichte und dort einen Feuerschein aufflammen ließ, in dem sie ihr ganzes Leben und ihre ganze Zukunft anders sah als bisher. Nebelhüllen fielen vor ihren Augen. Sie geriet aus einem Klarsein ins andere, und als sie endlich aus einer Waldlichtung gerade über dem Schloß nach langem Wandern heraustrat und sie im Abendschein das Land zu ihren Füßen sah, da schien ihr die ganze Erde und sie sich selber neu geworden.


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