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XXIV.
Schuhmacherphilosophie

In dem melancholischen Bummelzug, der durch die Hitze der letzten Junitage der deutschen Grenze entgegenfuhr, saß Emil und schaute stundenlang über die vorübertanzenden abgemähten Matten hin.

So war es nun ein ansehnliches Häuflein von Glück und Pein, von Seligkeit und Scham geworden, was er in den langen Wanderwochen seit dem April auf seinem Haupt vereinigt hatte. Aber während die Eindrücke von Mariannens reifer Weiblichkeit, Lottens funkelnder Spröde und Melchiors stummem Untergang vor seinen Sinnen langsam verblaßten, wuchs in ihm die Klarheit darüber, daß bis jetzt seine Flucht aus Amt und Heimat ohne Früchte geblieben, und daß sein Ringen nach einem stärkeren Dasein und festerem Herzen erfolglos gewesen war. Mit dem neuen Menschen, den er sich hatte anziehen wollen, sah es noch recht windig aus, und mit seinem Weib, das er sich hatte erringen wollen, nicht minder. Andererseits gewann die Gewißheit, daß er so fadenscheinig an Rock und Seele vor seiner Mutter nicht erscheinen dürfe, die Oberhand über den schon leise nahenden Entschluß, durch einen, wenn auch nicht rühmlichen, so doch redlichen Rückzug die Wege nach dem gesuchten gelobten Land für immer zu verlassen.

So sprang er an einer Knotenstation resolut aus dem Zug und fuhr anstatt nordwärts nach Rheineck ostwärts einem See zu, an dessen Ufern das Landerziehungsheim seines alten Schulfreundes stand. Dort winkte ihm das, was ihn wenigstens für einige Zeit aus seiner grillenfängerischen Qual mit sich selbst erlösen würde: Arbeit.

Der rasch gefaßte Entschluß machte Emil das Herz um vieles leichter, aber – so fragte er sich – würde die Arbeit, der er doch nun schon so manches Jahr wahrhaftig nicht aus dem Weg gegangen war, ihm auch über die letzte Frage weghelfen, an deren Lösung ihm sein Schicksal zu hängen schien? Als er an jenem Frühlingsmorgen seine Mutter, seinen Garten, Anna und das Mädchen vom Turm hinter sich gelassen, da lebte er allen Ernstes des Glaubens, er müsse sich das so mühsam und mit aufrichtigem Ernst erdenken. Und nun hatte er erfahren müssen, daß das Leben so frei ist, sich uns, die Menschen, so zu erdenken, wie es ihm gefällt, und daß die Welt uns streichelnd umarmt oder erdrückend umspannt, so wie es ihr gerade für den Augenblick gut und nötig erscheint; ja, daß Leben und Welt von diesem ihrem Recht selbst in den Zeiten unserer aufrichtigsten Selbstbestimmung ausgiebigsten Gebrauch machen.

Emil sah durchs offene Fenster bohrend aus dem Zug ins Weite und befragte sich, was es für eine Hilfe gäbe gegen diese Macht der Außenwelt, die zuerst bittend und fordernd mit allem ihrem sanften und herben Weh an uns herantritt und so, wenn wir helfen wollen, uns widerstandslos in ihre Netze einspinnt.

Da hielt der Zug im Bahnhof einer größeren Stadt. Es stiegen viele Leute ein, und als der Zugführer das Signal zum Weiterfahren gab, hörte Emil auf einmal eine Stimme hinter sich:

»Grüß Gott auch, Herr Doktor! Alleweil noch in die Berg'?«

Zugleich spürte er einen Finger, der leise auf seine Schulter tippte, und als er sich umkehrte, stand vor ihm eine hagere, himmelhohe Gestalt mit einer Hakennase und einem feinen Lächeln um den schmalen Mund.

Freudig verwundert rief Emil aus: »Grüß Gott, Achleitner; wie kommt Ihr hierher?«

»Ganz mit natürlichen Dingen ist's zugegangen, Herr Doktor! Alle Jahr' komme ich hierher auf die große Ledermesse und kauf' zusammen, was ich brauch' für das Fußwerk der Brander. Weit ist's nicht von uns in die Ostschweiz, und das Leder, wenn auch nicht billiger, so doch besser als das österreichische.«

»Und wie geht's im Brandertal, Achleitner?«

»Ha!« lachte der Gefragte, »den einen gut, den anderen schlecht, je nachdem, wie sie's treiben.«

»Kommt's denn wirklich immer nur da drauf an, wie man's treibt?« fragte Emil den Achleitner mit leichter Ungehaltenheit.

»Aha, da wären wir ja schon wieder mitten drin in der hohen Philosophie, wie immer in Brand,« sagte der Achleitner mit gutmütiger Neckerei, bot eine Prise an und nahm dann selber eine. Aber erst, als er mit Bedacht und Genuß seine Nase in ein mächtiges Taschentuch geschneuzt, gab er launisch und gemessen die Antwort:

»'s wird wohl so bleiben, solang als die Welt steht, daß so, wie man's treibt, so geht's.«

Er nahm noch eine Prise und fügte dann mit schelmischer Trockenheit hinzu:

»Dem Brander Hauptlehrer zum Beispiel geht's ganz gut.«

»Wie kommt Ihr grad auf den, Achleitner, wie hat's der trieben?«

»Der heiratet auf Martini die Gemswirtin,« sagte der alte Schuhmacher und sah dabei Emil mit seinen heiteren, grauen Äuglein gespannt an.

Da ging ein frohes Atmen durch Emils Brust: »Was Ihr nicht sagt! Wie mich das freut! Schau, schau, der hat noch Courage gehabt!«

»Freili hat er sie g'habt! Vom Schulmeister zum Gemswirt ist schon ein ganz schöner Sprung!«

»Wie hat er das nur angefangen, der Herr Amethystus Finneisen?«

»Ganz gescheit hat er's angefangen. Zerschten hat er die Huberin sterben lassen. Die hat kaum acht Tage nach Ihrer Abreise der Schlag gerührt. Und dann hat er fest zugegriffen.«

»Ja, ja,« meinte Emil nachdenklich, »fest fassen und leicht lassen, wenn man merkt, daß es nichts war, das ist die Hauptsache –!«

»Oder,« ergänzte der Achleitner, »gleich die Händ' da weglassen, wo sie nichts zu tun haben. Das ischt noch probater und erspart manch blaues Aug'!«

»Ja, Achleitner, wenn einem aber die blauen Mäler von denen geschlagen werden, die einen zuerst um Hilfe angehen?«

Der Zug fuhr jetzt durch ein Tunnel, und als es wieder Tag geworden war, antwortete der alte Schuhmacher:

»Ja, ja, das kenn' ich schon, bin auch einmal jung gewesen, Herr Doktor! Wissen's, wie in solchen Fällen meine Mutter selig gesagt hat? Da hat's an den saubern Augen g'fehlt, hat sie g'sagt.«

»Das versteh' ich nicht ganz, Achleitner!«

Der Zug hielt an einer Station, und es stiegen so viele Passagiere aus, daß die beiden ungestörter miteinander reden konnten, als bisher.

»Meine Mutter,« begann der Achleitner wieder, »isch alleweil, so was man eine gescheite Frau heißt, gewesen. Bub, hat sie g'sagt, die Augen sind die Hauptsach' beim Menschen. Dadrauf mußt achtgeben, denn schau: Es gibt halt dreierlei Sorten von Leut' auf der Welt. Die mehrsten sind die mit den schieligen Augen und den harten Herzen; die denken nur immer an sich und wollen alleweil geholfen haben. Die wenigeren sind die mit den guten Herzen, aber den lieben dummen Augen. Die möchten am liebsten grad überall helfen, aber kommen nie dazu, weil's immer die Nasen in der Luft haben und so über jeden Stoan im Weg stolpern. Und die allerwenigsten sind die mit den guten Herzen und den scharfen saubern Augen; die schaugen überall geradewegs durch, lassen sich kein X für ein U vormachen, wollen nicht überall helfen, aber wo sie es tun, da ist g'holfen.«

Emil schaute nachdenklich zum Fenster hinaus und meinte:

»Eure Mutter war eine gescheite Frau, Achleitner!«

»Das will i meinen, und wo ich aus der Lehr in d' Welt naus bin, hat s' g'sagt: Schau, Bub – hat s' g'sagt –, daß du ein ganzer Mann gibst mit einem guten Herz, aber auch mit einem Schneid dazu und sauberen Augen, und nicht so ein Dreiviertelsmanderl, wie sie überall in der Welt umenand stehen.«

Der Zug fuhr in einen großen Bahnhof ein, und Emil mußte aussteigen, um auf einer Seitenbahn seinem Ziel entgegenzufahren. Er sagte dem Achleitner herzlich Lebewohl, gab ihm die besten Grüße und Wünsche für die Marianne mit und sah bald die helle Fläche eines großen Sees, an dessen Ufern ihn der Zug hintrug. Der Abend brach herein; aber bis er an dem kleinen Stationsgebäude eines Dorfes ausstieg, konnte er die Bauernweisheit von Achleitners Mutter nicht loswerden und war sich nicht ganz klar darüber, ob auch er wirklich nicht mehr zu den Dreiviertelsmanderln gehörte.


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