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XVIII.
Umweg

Vor der Schlucht, wo der Alvier nach seinem sonnigen, raschen Lauf durch die geblumten Matten des Brandertals sich auf einmal unter Höllenlärm in einem breiten Bett schäumend um große Kalkbrocken herumdrückt, wie in einem langsamen Besinnen, was nun werden solle, und sich dann plötzlich tobend in die dunklen Felsenklüfte hinabstürzt, da zweigt ein schlechter, steiler Pfad ab, der durch einen engen Tobel über Lawinenreste zur Sarottlahütte an der Zimba führt. Dort haust ein Hirte, der außer seiner Herde auch die bei ihm übernachtenden Besteiger der Zimba zu bergen hat, soweit sie in dem mit vier Matratzen ausgestatteten Schlafraum und der in den Felsen gehauenen Küche nicht selber zurechtkommen. Da oben verlebte Emil einige gepreßte Tage. Er stieg als ein versonnener Alleingänger auf den schartigen Grenzpfaden herum, ging dann und wann ins Dorf hinab, machte kleine Einkäufe und lag nachts wieder auf einer der vier Matratzen der Hütte.

Als er einmal einen Brief bei der Post aufgab, sagte das Postfräulein, eine schnippische alte Jungfer ohne Not und mit viel Wichtigkeit, das Fräulein Kirsten habe ihre Adresse hier gelassen und ihr die Erlaubnis gegeben, sie ihm, dem Herrn Doktor, aber nur ihm, mitzuteilen, wenn er danach fragte.

Aber Emil fragte nicht danach.

Er hatte es von jeher vermieden, seine eigenen Empfindungen und Gefühle mit neugierigen und eitlen Fingern auseinanderzuzerren, aber sein Verhältnis zu Lotte war ihm etwas so Neues und trotz der festen Belebung, die ihre Gegenwart in ihm ausgelöst hatte, von einer so peinigenden Verschwommenheit, daß es ihn immer und immer wieder beschäftigte und beunruhigte. Das Eigentümliche war, daß er die wenigen Male, wo er mit ihr gesprochen hatte, etwas wie von einer bewegten Lebensatmosphäre auf sich überströmen fühlte, daß aber in der Entfernung ihr Bild verblaßte und nicht viel mehr als ein Schemen übrig blieb, an dem er mit einer Mischung von Bewunderung und Mißtrauen hing. Er konnte ihre vornehme Zurückhaltung nicht mit allen Dingen in Einklang bringen, die, wie ihre etwas theatralischen brieflichen Abschiedsworte und jetzt diese Geschichte mit ihrer neuen Adresse, ihm wie geschickt verhüllte Aufdringlichkeiten erschienen. Und doch verriet ihre Gestalt und ihr Auge ein solches Maß von Seelengröße und vom Willen zu einem über dem Durchschnitt liegenden Leben, daß er sich bei der Erinnerung dieser nicht abzuweisenden Kleinigkeiten immer wieder wie ein Philister und Pedant vorkam, der über Strohhalme stolperte.

So quälte er sich herum in ritterlicher Unsichtbarkeit gegenüber Marianne und in unsicherem Tasten vor der ihn immer noch blendenden Geistigkeit Lottens und wußte nicht, wohin er sich wenden sollte.

Eine schlaflose Nacht brachte Rat. Er mußte wieder wandern.

War ihre plötzliche Abreise nach ihrem Sieg über ihn Rache oder verborgene Lockung?

Am anderen Morgen aber hatte er den Weg durch die Bürserschlucht unter den Füßen, und um zehn Uhr saß er im Schnellzug Wien–Zürich.

Und während ihn der Schnellzug hinüber ins Schweizerland trug und er durch die Schlachtenecken der Geschichte fuhr, wo einst mit Morgensternen und Hellebarden, steinernen Kanonenkugeln und siedendem Öl Tyrannen und Völker sich gegenseitig von ihren Rechten zu überzeugen gesucht hatten, tauchte in immer größerer Klarheit ein Bild vor ihm auf, an dem während des Polterns und Rüttelns des Eisenbahnzuges sein Herz allmählich wieder froh und frei wurde.

Er sah sich als Bub im Hausgang des väterlichen Hauses, wo drei altmodische, zartgetönte Stahlstiche in wurmstichigen Rahmen hingen. Diese Bilder stellten Landschaften aus dem Berner Oberland vor, und jahrelang hatten sie Emils häusliches Knabenleben mit einem Glanz umgeben, der wie aus einer fernen, paradiesischen und hoheitsvollen Welt die enge Alltäglichkeit seines Schülerdaseins umschloß. Mit den Wanderern, die in altfränkischen Kleidern, kurzen Hosen, langen Haarbeuteln und abenteuerlichen Reisetaschen ins Lauterbrunnental hineinschritten, bewunderte er den wie ein sanfter Wasserschleier niederwallenden Staubbach; mit den vornehmen Herrschaften, die auf Saumtieren am Rosenlauigletscher vorüber gegen das Well- und Wetterhorn hinritten, genoß er den Zauber des rosarot und bläulichgrün schillernden Eismeeres; und mit den Männern, die mit gerollten Mänteln um die Brust und unglaublich langen Stecken neben sich auf moosgepolsterten Felsen bei Mürren lagerten und in die Majestäten der Jungfrau, des Mönchs und des Eiger versunken waren, verrichtete auch er immer ein stummes Gebet an die Herrlichkeit der Alpennatur.

So war ihm das Berner Oberland mit seinen tief eingeschnittenen Tälern, aus denen sich senkrechte, glatte Granitwände mit darüber herabschäumenden Gießbächen und saftigen Weiden erhoben, das klassische Alpenland geworden, und als er in seinem ersten Semester zum erstenmal das gelobte Land der Alpen aufgesucht hatte, konnte auch der damals schon breit gewordene Strom von geräuschvollen Allerweltsreisenden und das wirre Leben einer auf rasches Nehmen eingerichteten Hotelindustrie das in der Jugend empfangene Bild der großzügigen und machtvollen Schönheit dieses Landes nicht trüben.

Der Zug raste vorüber, an Dörfern, Städten, Wäldern und an Matten mit läutenden Viehherden, und Emil sah die wenigen Tage seines ersten Aufenthalts im Zweilütschinertal wieder.

Dort wußte er an einem breiten schäumenden Wildbach einen Grasgarten mit einem alten Birnbaum darin. Durch dessen Zweige leuchteten die Firne der höchsten Eisberge, und an seinem stärksten Ast ruhte eine Schaukel, darauf er sich einmal während langer Feriennachmittage das Leben verschönt hatte.

Wie oft hatte er so stark geschaukelt, daß der alte Birnbaum sich schüttelte und ihm zuflüsterte: »Jetzt noch ein bißchen stärker, dann bricht's, und du liegst gerade in den Wassern des Staubbachs, den du fast so sehr liebst wie mich, und der in weißen, wallenden Schleiern sich von der Mürrener Alp herunterläßt ins Lauterbrunnental.«

Aber es brach nie etwas. Denn der Birnbaum im Grasgarten von Zweilütschinen war immer ein alter ehrlicher Kerl, und für feste Stricke hatte der Sägemüller schon gesorgt, dem der Birnbaum und der Grasgarten und die alte Säge gehörte. Die Säge aber sang zu dem Rauschen der Lütschine immer ihr eintöniges schönes Lied, während sie die knorrigsten Eichenstämme gleichmütig in schöne, gleichdicke Bretter schnitt.

Es gibt nichts Ruhigeres und Pflichthafteres auf der Welt als eine Sägemühle. Alles geht da seinen sicheren Weg. Der Stamm mag noch so krumm gewachsen sein, es hilft nichts, die Säge zeigt's ihm schon. Da ist keine Überstürzung, keine Illusion, keine Aufregung. Seelenruhig spuckt die Säge das Sägemehl aus, das sie zwischen die Zähne bekommt, und sagt bei jedem neuen Schnitt: »Ja, ja, chia, chia, das ist das Leben, mir geht keiner durch! Es kommt immer so, wie es muß!«

So sprach aus der Erinnerung die alte Säge von Zweilütschinen zu Emil, als er gegen Abend in einem von den Gästen der Hochsaison überfüllten Zug am Thuner See entlang und dann in den Interlakener Bahnhof einfuhr. Nachdem er sich vor einer ganzen Prozession von rot und grün lackierten Hotelomnibussen und vor einem ganzen Bataillon Hotelportiers gerettet hatte, hörte er plötzlich eine silberhelle Stimme hinter sich:

»Aber lieber Herr Doktor Himmelheber, da sind Sie ja!«

Er drehte sich um und sah in einem weißen Leinenkleid und mit einem Panamahut auf den aschblonden Haaren eine junge, kaum mittelgroße, sehr bewegliche Dame vor sich.

»Lotte ...«

»Ich finde das einfach namenlos fein und auch tapfer von Ihnen, daß Sie gekommen sind,« sagte sie zu dem durch diese Bewillkommnung fast hilflos werdenden Emil.

»Aber, Fräulein Kirsten – ich hatte ja keine Ahnung!«

»Nun, tun Sie nur nicht so ...« unterbrach ihn Lotte lachend; »einfach tadellos und himmlisch finde ich das von Ihnen!«

Da fiel Emil das Postfräulein in Brand ein. Er schwankte, was er tun sollte. Das Zartgefühl gewann die Oberhand über die Ehrlichkeit, und Lotte, die glückselig in ihrer nicht gestörten Täuschung war, überfiel ihn gleich mit Vorschlägen.

»Und jetzt, Herr Doktor, machen wir Hochtouren zusammen, richtige Hochtouren; Exzelsior-Hochtouren.«

Sie flatterte wie ein schöner Schmetterling um ihn herum, schleppte ihn in ihr Hotel und sah ihn mit unverhohlener Dankbarkeit aus ihren großen, strahlenden Augen an, und Emil ergab sich seinem vermeintlichen Schicksal, als er langsam und nachdenklich, aber nicht gerade unzufrieden mit Lotte die teppichbelegte Treppe ihres Hotels hinaufstieg.


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