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I.
Die Buckhäuser

Die Buckhäuser waren der letzte verlorene Posten einer »Gesellschaft mit beschränkten Grundsätzen«, die sich unter diesem ausdrücklichen Namen vor nun schon mehr als fünfzehn Jahren auf dem Gymnasium von Heitersberg, einer Universitätsstadt im Süden des Reiches konstituiert hatte. Das ungerade Dutzend der Oberprimaner, mit welchem diese seltsame Vereinigung ins Leben trat, war ein ganz besonderer Schlag von jungen Wahrheitssuchern. So sauer sie manchmal ihrem alten Direktor das Amt machten, wenn ihre Kenntnis der griechischen Syntax ihrem raschen Verständnis der ewigen Schönheiten des Homer nicht entsprach – der Alte konnte es zu seinem eigenen Verdruß nicht hindern, daß ihm nach dem Abitur die Tränen in den weißen Bart liefen, als er seinen »Olympiern«, wie er sie halb ironisch, halb liebend nannte, die letzten väterlichen Ratschläge zum Abschied mit hinaus ins Leben gab.

Aber da nirgends auf dieser Welt die Sonne allein scheinen kann, so war ihnen unter andern Lehrern auch ein Präzeptor beschieden, der sich in seinen Mathematikstunden zumeist in völliger Ratlosigkeit gegenüber den von der Lust am eigenwilligen Denken berauschten Jünglingen befand. Eines Tages, als sie sich durch die Bank geweigert hatten, einen ihnen absurd erscheinenden geometrischen Lehrsatz gerade in der Form zu beweisen, die ihnen der polternde Mathematiker aufzwingen wollte, wußte sich dieser nicht mehr anders zu helfen, als daß er die gesamte Oberprima für eine Gesellschaft beschränkter Simpel erklärte.

Diese nach ihrer Ansicht nicht geringe Schmähung nahmen die Beleidigten begierig auf und legten sich den Namen: »die Beschränkten« als einen Nom de guerre bei, den sie mit Ehren zu tragen gedachten wie einst die Geusen den ihrigen. Ihr Ehrgeiz war jene vielversprechende Art von Dummheit, die sich, ohne aufrührerisch zu sein, störrisch gegen alle nicht erfahrbaren Wahrheiten sträubt. Sie brachten mehr als einmal ihren unglücklichen Geometrielehrer in Verzweiflung durch ihre immer wieder neuen und triftigeren Gegengründe gegen dessen Lieblingssatz, daß zwei Parallele sich im Unendlichen schnitten.

Es soll nicht verschwiegen werden, daß die beschränkten Dreizehn aus ihrer freiwilligen Einsichtslosigkeit mit der Zeit eine Tugend machten, die sie zu leichtem Hochmut verführte. Auch kokettierten sie nicht wenig damit, daß sie sich alle mehr oder weniger als dekadent bezeichneten. Sie seufzten viel und mit Wichtigkeit unter allerhand eingebildeten Lasten, aber zu ihrer Ehre muß auch gesagt sein, daß sie ihre gewollte Beschränktheit auch in gutem Sinne zu einer selbstauferlegten Beschränkung machten. Sie huldigten einem strengen und in zahlreichen Sitzungen selbst verfaßten Komment der Schweigsamkeit und der Ehrlichkeit. Nur einmal in der Woche, am Samstagabend, trafen sie sich im Buckhaus, einer in der Nähe gelegenen Bauernwirtschaft, zu einem besonderen Zweck. Hier war es nämlich nicht nur erlaubt, die Verpflichtung zu knapper Sachlichkeit im täglichen Verkehr abzuwerfen, und sich durch den vollen Genuß uneingeschränkten Diskutierens von dem straffen Gesetz der Woche zu erholen, sondern es wurde auch geradezu gewünscht, daß jeder der Beschränkten seine Phantasie in freier Erfindung der unbefangensten Lügen schrankenlos walten ließ. Von jedem Buckhäuser wurde nur verlangt, daß er solchen Orgien der Unwahrheit mit dem gemessenen Ernst eines Zuhörers beiwohnte, der gewillt war, immer noch etwas Neues zu lernen und dafür dem Aufschneider, der sich gerade an der Reihe befand, seine dankbare Anerkennung nicht zu versagen.

Nur ein Gebiet gab es, wo die Dreizehn keinen Spaß verstanden. Das war die Frauenfrage, oder, wie sie es etwas gewichtig nannten, das Problem des Weibes. Aber alles jugendlich lächerliche, was den genialischen Oberprimanern anhaften mochte, fand seinen schönen Ausgleich in einer nicht gewöhnlichen inneren und äußeren Sauberkeit. Auf ihren gemeinsamen Ausflügen durch Wald und Feld, oder während ihrer spaßhaften und ernsten Wortgefechte im Buckhaus wurde nie ein gemeines oder auch nur zweideutiges Wort gehört. Die Frau war ihnen etwas Ernstes und Hohes, und sie waren mutig genug, die Weiberverachtung ihres aristokratischen Lieblingsphilosophen, den sie als Frühreife mit fröhlicher Unbefangenheit neben dem radikalsten Nationalökonomen lasen, als einen beklagenswerten Flecken auf dessen Schild zu betrachten. Dabei betrieben sie so eifrig das Turnen, Schwimmen, Rudern und Spielen in freier Luft, daß ihre Gesichtszüge frei waren von den Spuren der nächtlichen Kämpfe, die den Schlaf der meisten Pennäler umlagern wie vampirhafte Gespenste. Bei aller eingebildeten Entartung empfanden diese stämmigen Söhne von Bauern und diese gesunden Nachkommen tüchtiger Bürgerfamilien das unabweisbare Bedürfnis des werdenden Mannes, die Frau liebend und verehrend als das Symbol des Höheren über sich zu erheben.

Aus diesen Gründen aber schworen sie sich, so spaßhaft das auch erscheinen mag, daß keiner von ihnen einmal heiraten würde. Denn sie hielten sich samt und sonders nicht für würdig, die Welt und die Menschheit mit ihren Nachkommen zu bevölkern und zu beschweren. Mit dem Gelöbnis dauernder Ehelosigkeit und der Abmachung, sich alle drei Jahre im Buckhaus wieder zu sehen und ihre inzwischen gemachten Erfahrungen auszutauschen, waren sie in den Mauleselferien auseinander gegangen.

Dann hatte das Leben begonnen, einem jeden von ihnen nach seiner Art und seinen Bedürfnissen auszuspielen und ihn in seinen Reigentanz zu nehmen. Und das Leben tanzte mit den dreizehn Beschränkten immer weiter auseinander, setzte da einen auf einem schönen Posten ab, strich dort einen aus der Liste des Daseins und ließ einige Abtrünnige in einem behäbigen Ehehafen landen.

Als sie sich zum fünften Male in dem strohbedeckten Bauernwirtshause zusammenfanden, da waren es gerade noch die Vier, die auch nach der Gymnasialzeit einige Semester lang zusammen auf den Hörbänken der gleichen Universität gesessen und von dort aus mit seinen Sinnen und reinen Fingern ins Leben um sich herum getastet hatten. Allen Vieren waren die Erschütterungen der großen Fernbeben, die in immer deutlicheren Wellen durch die Stationen und alle Gebiete der Kunst und des Wissens zitterten, nicht entgangen, und in den fünfzehn Jahren ihrer Lehr- und Wanderjahre hatten sie sich zu der Einsicht bekehrt, daß sie alle noch recht passable Kerle seien, denen sich eine Frau wohl anvertrauen dürfe.

Aber welche?

Das war ihr schwerstes Problem.

Am allermeisten plagte diese Schicksalsfrage Emil Himmelheber, den hochgewachsenen Alemannensohn, der als Privatdozent der Literatur eine für seine jungen Jahre angesehene Stellung einnahm, als begehrenswerter Bräutigam stark umworben war, aber zum Verdruß seiner alten, nicht unvermöglichen Mutter, bei der er immer noch im ererbten Haus des Vaters wohnte, allen Angriffen auf sein schönes Junggesellentum geschickt und zäh auswich. Er war der Erstangekommene auf diesem letzten Tage der Buckhäuser gewesen und hatte schon lange allein im Herrgottswinkel der kleinen Wirtsstube mit den gebräunten Holzwänden gesessen und Auslug gehalten nach denen, die da noch kommen sollten. Als erster nach ihnen hatte Anton Gutmann, der evangelische Dorfgeistliche seinen runden mit spärlichem Haarwuchs geschmückten Kopf zur Tür hereingestreckt, und genau so freundlich und etwas langweilig gelächelt, wie er das zum Ärger des Mathematik-Professors schon in der Oberprima konnte. Dann war stolz wie ein Spanier Konrad Ergelett, der Redakteur, mit seinem wohlgepflegten Spitzbart und seinem Zwicker auf der energischen geraden Nase angerückt und ließ gleich eine Probesalve seiner klugen Witze los. Und schließlich tat sich die Tür zum dritten und letzten Male auf und herein trat behäbig mit beiden Händen in der Hosentasche Theodor Beutler, der Landarzt, und seine kleinen lustigen Augen unter den buschigen Augenbrauen guckten immer noch so milde skeptisch in die Welt, wie während der vergangenen fünfzehn Jahre.

Bald war das Gröbste ausgetauscht über die Freuden und Leiden der Ämter, die nun die vier Buckhäuser alle erst seit dem letzten Zusammensein angetreten hatten. Nachdem unter Mitwirkung eines guten klaren Weins sich die Fäden zwischen dem letzten Quartett der Beschränkten wieder angesponnen hatten, klopfte Emil Himmelheber ans Glas, strich die in die Stirne hängenden Haare zurück und sprach:

»Liebe Buckhäuser! Die Ecke Deutschlands, in welcher wir uns nun zum fünften Male versammeln, seitdem wir als langohrige Muli in die Welt hinausgetrabt sind, ist ein merkwürdiges Stück Erde. Meint ihr, daß der schönste deutsche Fluß, der Rhein umsonst einen so zärtlichen Ellbogen um diese Gefilde macht? Mitnichten! Der Rhein weiß, daß hier heiliges Land ist. Hier, wo man nie sicher ist, ob Deutschland schon aufgehört und das Gebiet der Helvetier angefangen hat, wohnen dicht beieinander zwei Völker. Wenn man's genau nimmt, sind es drei. Im Grund aber ist es nur eines, das Volk der Alemannen. Viel Unruhe verbinden die Menschen der oberen Rheinecke mit einem träumerischen Geist, der die Sterne vom Himmel holen will, sich aber meist damit begnügt, auf einem hohen Berg sitzen zu bleiben und dort die Wonnen einer erhöhten Irdischkeit mit Kunst und Behagen zu genießen. Es gibt aber auch zum Glück manche Ausnahmen unter ihnen. Diese Männer machen Ernst und ruhen nicht, bis sie einen leibhaftigen Stern in Händen halten. Sie sind die geborenen Sucher, gehen darauf aus, Himmel und Erde in eins zu fassen, und laufen nur Gefahr, bei ihrem starken Hang zur Einsamkeit auf die Frage: Was ist ein Stern? – eine falsche Antwort zu geben. Und solcher Alemannen Viere, deucht es mir nach allem, was ich nun in der letzten Stunde in gegenseitiger Wechselrede von eurem Leben und Wirken und von unserem Raten und Taten vernommen habe, sind wir. Wir haben in dem eitlen Kleinheitswahn unserer Jugend geglaubt, rebellischen Verzicht auf das leisten zu müssen, was die Erde erst zu einem schönen Garten voll strotzender Blütenbäume macht. Wir haben vermeint, es sei größer, Sterne Sterne sein zu lassen und haben geglaubt, mit weisem Lächeln den Gang und Untergang der Welt mit ansehen zu sollen. Das war, liebe Freunde und Buckhäuser, ehrlich gedacht, aber zugleich auch hinreichend dumm. Denn in dem halben Menschenalter, das seither verflossen ist, haben wir Vier doch wohl gesehen, daß Kerle wie wir es noch gut aufnehmen können mit manchen von den Selbstzufriedenen, die da glauben, der Nachwelt nicht genug Setzlinge hinterlassen zu können. Darum sage ich: Kommt, wir wollen es aufgeben, die klugen Junggesellen zu spielen und wollen ein jeder in den nächsten drei Jahren ein Weib freien. Denn schaut, was ein rechter Stern ist, der hat immer einen Himmelskameraden auf der Reise durch die ewigen Räume. Die schönsten Sterne sind, das weiß jeder rechtschaffene Astronom, die Sonnenehen. Und was ein Stern ist, das sieht ein Mann am besten an den Augen des Weibes, und das Weib an den Augen des Mannes. Also auf, Buckhäuser, und heiratet!! Und in drei Jahren wollen wir hier wieder zusammenkommen, ein jeder mit seiner Eheliebsten, und wollen einen Sternen- und Stirnenbund der letzten Buckhäuser schließen, uns zur Freude und dem Alemannenlande zum Lob! Ich habe gesprochen und leere das Glas auf das Wohl unserer Zukünftigen.«

Die alte Wirtin mit der goldgestickten Wälderkappe auf dem schneeweißen Haar, wischte sich mit der Schurzecke eine Träne aus dem Auge. Eine so schöne Rede hatte sie noch nie in ihrem Leben gehört. Still lag das Buckhaus im Märzendunst und in der dunkeln Wirtsstube hörte man nichts als das Ticken der Wälderuhr und das vorsichtige Klingen von vier Gläsern. Dann aber unterbrach die trockene Frage des Landarztes Theodor Beutler das bedeutungsvolle Schweigen:

»Aber was für eine?«

»Es gibt für jeden Mann nur eine Frau auf der Welt, eben die seine. Er muß sie nur suchen und finden!« gab Emil Himmelheber zur Antwort und zog dabei seinen festgeschnittenen Kopf mit dem glattrasierten Gesicht ein wenig zwischen die Schultern, während ein schelmisches Lächeln um seinen Mund lief. Dann setzte er etwas ernster hinzu: »Das ist nämlich mein Glaube.«

Konrad Ergelett, der Redakteur, äußerte sich dahin, eine solche Ansicht sei zwar erhebend, ja geradezu himmelerhebend, aber zu wenig von der fruchtbaren Lauge des Wirklichkeitssinnes durchtränkt. Der Pfarrer Anton Gutmann meinte, so, wie der Himmelheber die Sache sich denke, stimme es ja mit verschiedenen Stellen in der Heiligen Schrift überein; aber es gäbe wohl ein langes Suchen, wenn man's damit gar zu genau nähme. Der Doktor Beutler ließ nichts Bestimmtes verlauten, sondern brummte nur einige Andeutungen in den Bart, die von den drei anderen dahin verstanden wurden, daß zwischen Genie und Wahnsinn eben doch unleugbare Zusammenhänge beständen.

Daraufhin lachte der Privatdozent Emil Himmelheber mit den breiten und doch nicht unfeinen Lippen und den hellen Kinderaugen einen Schollen, wie ihn eben der Himmelheber schon in der Prima als einziger gelacht hatte. Es war ein volles wie eine Explosion herausplatzendes Hohoho, das den Gegner mehr entwaffnete, als erzürnte. Dann folgte eine Salve atemraubender Gluckser und sich im hintersten Gaumen überschlagender Jauchzer, welche die Buckhäuser derart ansteckten, daß sie laut mitlachten. Der Doktor Theodor Beutler aber konnte sich nicht anders helfen, als daß er konstatierte, der Himmelheber sei eigentlich nur pathologisch zu verstehen, wenn er im Grund nicht so verflucht gesund wäre.

Da trank Emil Himmelheber auf des Mediziners ferneres geistiges Wohlbefinden einen gewaltigen Schluck, was den Anlaß zu verschiedenen anderen Gesundheiten gab. Und während der Bestand der leeren Flaschen im Herrgottswinkel mählich wuchs, wurde es den Buckhäusern sonnenklar, daß man über Nebensächlichkeiten sich nicht zu entzweien brauche, wenn man in der Hauptsache so einig wäre wie sie. So erneuerten sie denn das alte Gelübde, sich in drei Jahren im gleichen durch weise Reden und frohe Beschlüsse geweihten Raum der alten Schenke wieder zusammenzufinden, diesmal aber zu Paaren.

Eine schöne Frühjahrsmondnacht stieg über das weite Tal herauf, als die letzten vier Buckhäuser mit vollen Herzen, warmen Köpfen und in lauten Gesprächen den Weg durch den Wald nach der Stadt zu einschlugen. Schlafende Vögel flatterten da und dort auf, und manches verspätete Bäuerlein sah den Vieren kopfschüttelnd nach.


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