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XII.
Marianne

Zwischen dem Gasthaus zur Gemse und der Hütte des Schuhmachers Achleitner floß der Bach, über den Bach führte ein schmaler Steg mit einem Geländer auf beiden Seiten, und auch links und rechts vom kleinen Fußweg von der »Gemse«, der hinab an den Bach und hinauf zum Schuhmacher Achleitner führte, waren die Matten durch große Holzzäune geschützt. Die waren aber nicht so dicht, daß die zwei schwarzen Krausköpfe der Gemswirtin, die dreijährige Pipa, der zweijährige Franzl nicht da und dort ein Loch entdeckt hätten, durch das sie hindurchschlüpfen konnten, um zwischen Gras und Blumen herumzulaufen, Sträuße zu pflücken und diese, anstatt sie der Mutter zu bringen, von der Brücke aus im Bach schwimmen zu lassen.

Emil hatte eines morgens dem Spiel der Kinder zugeschaut. Eine halbe Stunde später sah die Gemswirtin den Schreiber beim Schuhmacher, mit welchem Namen ihre Schwiegermutter Emil böslich bedachte, den Steg mit Latten so instand setzen, daß Pipa und Franzl auch in Zukunft noch Blumen im Bach schwimmen lassen konnten, aber nun selbst außer Gefahr waren, einmal mitzuschwimmen.

Eine Stunde, nachdem Emil am Brückchen hantiert hatte, fiel es Marianne auf einmal heiß ein, daß die Absätze ihrer Sonntagsschuhe gesteckt sein müßten, als ihr bei diesem Gang Emil so entgegenkam, daß sie sich gerade auf dem Steg hätten treffen müssen, da schlug ihr das Herz ganz ungewohnt fröhlich unter dem Busen, den ein dunkelviolettes, aber schmuckloses Tuchkleid straff umspannte. Aber beide, sowohl Emil als Marianne, hemmten ihre Schritte, als sie sich sahen, weil jedes das andere zuerst über die Brücke kommen lassen wollte. Emil war aber mit der Einteilung seiner Schritte bedächtiger und ruhiger zu Werke gegangen und stand noch nicht ganz am Brückenende, als die Gemswirtin das Geländer des Steges schon in der Hand hatte. Emil winkte ihr zu, sie solle zuerst hinüber kommen. Denn für zwei erwachsene Menschen war der Steg zu schmal. Aber auch als Marianne drüben war, gab es zwischen den beiden engen, groben Wiesenzäunen noch ein ziemlich nahes, verschämtes Drängen, wobei Emil sah, wie das kleine Kreuz der Granatkette am schönen, freien Hals der Gemswirtin unter dem oben dicht anliegenden Rand ihres Kleides fast ganz verschwand. Erst als die beiden aneinander vorbei waren, drehte sich Marianne um, als fiele ihr erst jetzt etwas ein. Sie gab Emil einen überaus anmutigen Blick aus ihren dunklen Augen und dankte ihm dann, weil er so väterlich an ihre Kinder gedacht und so gut vorgesorgt habe, daß kein Unglück geschehe.

»Väterlich« hatte sie, ohne etwas zu denken, geradeso herausgesagt. Aber als sie das Wort von ihrer eigenen Stimme hörte, schoß ihr ein Blutstrom in die Wangen, und Emil sah es.

Marianne verstand sonst gut mit den Fremden zu reden. Sie war, wie viele Bürgerstöchter aus dem Vorarlberg, in einem Nonneninternat erzogen worden, und ihre wenn auch nicht umfassende Bildung besaß doch jene gewisse Tiefe, und Festgegründetheit, die man bei den Frauen aus dem sogenannten Bürgeradel des Vorarlberges und des Bregenzer Waldes häufig entdecken kann. Sie sprach langsam, mit anmutiger Sicherheit und dabei in einem dunklen, vollen Alt, der die Zeichen ihrer halbromanischen Abstammung, ihre dunkle Hautfarbe und ihre hohe, volle Gestalt wie zu einer rassenhaften Einheit zusammenschloß. Ihres Großvaters Haus stand drüben, jenseits der Zimba, wo die schwarzen Bauernfrauen auf den Feldern die Pfeifen rauchen und nach alter Tradition vom fünfunddreißigsten Jahre an keine Kinder mehr bekommen, um auch mit Vierzig noch schön zu sein.

Emil hatte die junge Witwe schon am Tage seiner Ankunft im Brandertal entdeckt, und seine Sinne hatten Gefallen gefunden an ihrer klaren, unverdorbenen Frauenschönheit. Er war auf seiner zweimonatigen Wanderschaft zwar einer Absage an die Pfeife treu geblieben, aber die Heiligung seines Körpers so weit zu treiben, daß er sich nach arbeitsschweren Tagen, wo der Schweiß geflossen war, abends auch die Freude eines Glases Landwein versagte, das schien ihm billigerweise wider Natur und gesunden Menschenverstand zu gehen.

So war er denn schon öfters zwischen Tag und Dunkel in der Wirtsstube zur »Gemse« zu Gast gewesen. Während er behaglich seinen Tiroler trank und ihm gegenüber Marianne am Büfett stickte, war schon mehrere Male ganz offen wie ein ehrlicher Makler der Gedanke an ihn herangetreten, ob es denn so uneben wäre, Gemswirt in Brand zu werden und für stadtflüchtige Gelehrte und Künstler und höhere Schulmeister langsam eine große Herberge zu schaffen, darinnen jeder Gast noch etwas mehr bedeutete als nur eine zahlende Zimmernummer. So hätte er im Sommer genügende Anregung und könnte im Winter unter diesen letzten Stammesausläufern der Alemannen in vielen Dingen, wo es not tut, Wandel schaffen.

Marianne hatte ihm immer selber seine drei Dezi Tiroler gebracht. Das sah die Schwiegermutter, und es waren schon mehrere scharfe Bemerkungen gefallen über diese auffällige Freundlichkeit. Aber Marianne hatte jedesmal eine deutliche, ruhige Antwort gegeben, die vermuten ließ, daß sie ihre Ansicht über die geplante Dauer ihrer Witwenschaft geändert habe. Es hatte ihr zwar nicht an Freiern gefehlt. Unter den reichen Bauern waren es nicht wenige, die nach leicht zu durchschauenden Reden ganze Nachmittage lang in der »Gemse« saßen und ein schönes Stück Geld verzehrten. Aber Marianne hatte, zur Zufriedenheit der Schwiegermutter, die gerne allein regierte, die werbenden Gäste nie selbst bedient. Sie ertrug die leichte Haustyrannei der Huberin, weil bis jetzt der Richtige noch nicht gekommen war.

Emil schien ihr aber der Richtige zu sein. Ihr Franz war ein stiller, freundlicher, tapferer Mann gewesen. Sein jähes Ende in den Bergen hatte ihr fast das Leben gekostet. Aber mit gesunden, frohen Menschen hat der Tod kein leichtes Spiel, und als Marianne drei Monate nach dem Unglück das leibhaftige Ebenbild ihres Mannes zur Welt brachte, da kehrte langsam die Versöhnung mit dem Leben in ihrem Herzen wieder ein. Die hartkantige Schwiegermutter ersetzte für das Haus, für das Feld und die Wirtschaft während des ersten Jahres schon ein wenig den Mann. Aber nach und nach war es doch einsam und einsamer um die Gemswirtin geworden, obwohl alles nicht nur blieb, wie es gewesen, sondern der Hausstand in immer bessere Ordnung kam und die Zahl der Fremden mit jedem Jahre wuchs.

In einem solchen Überwallen des Gefühls ihrer Einsamkeit war sie hinüber zum Schuhmacher Achleitner gegangen. Der alte Schuhmacher war Mariannens Vertrauter, Beichtiger und Ratgeber, wie noch so vieler anderer alter und junger Menschen im Dorf. Sie war von den zu fleckenden Absätzen schon bei dem reparierten Steg angekommen und überlegte sich gerade einen schicklichen Übergang zu ihrem eigentlichen Anliegen, als der Alte sie unterbrach:

»Also wegen dem Doktor bischt kommen, Marianne, und ob ich wohl meinte, daß ihr zusammen ein sauberes Paar gebt?«

»Was, Doktor ist er auch noch?« sagte Marianne betreten und vergaß darüber ganz, Achleitner zu fragen, woher er eigentlich das wissen könne, was sie zu ihm geführt. Anstatt jeder Antwort ging der Alte bis an die nächste Tür, bückte sich noch ein wenig tiefer, als er sonst immer in seiner niederen Hütte mußte, holte aus Emils anliegendem Zimmer einen Brief, den eben der Briefträger gebracht hatte, und gab Marianne die Adresse zu lesen.

»Da kannst selber schauen, da steht's schwarz auf weiß.« Dann fügte er hinzu: »Das ist einer von den ehrlichen Verdruckten, die nach weniger ausschauen wollen, als sie sind.«

Da sank Mariannens Hoffnung um ein ganzes Klafter tiefer.

»Dann werd' ich solchene Gedanken schon aufgeben müssen,« sagte sie ernst. »Denn daß ein Doktor eine Wirtsfrau heiraten tät, das hat man auf der Welt noch nicht gesehen.«

»Von wegen dem hätt' ich nun gerade keine große Angst. Um eine, die er gern hat, ließ der Doktor, wenn's in meinem alten Kopf noch richtig bestellt ist, auch einen Titel fahren. Denn er ist nämlich nur, was man einen Doktor der Philosophie heißt, kein Doktor zum die Leut kurieren.«

Marianne atmete wieder ein wenig auf; aber so leicht, wie's ihr war, als sie kam, wollte es ihr doch nicht mehr werden. Und der Achleitner tat auch nichts dazu, ihre sinkenden Hoffnungen wieder aufzurichten.

»Schau, Marianne,« sagte er und setzte sich auf seinen Schusterstuhl, »in Heiratssachen ist's schon schwer zu raten, aber« – und er legte sich den großen Stein auf die Knie – »in Liebessachen noch viel schwerer! Und bei dir handelt es sich schon um eine ausgemachte Liebessache!«

Er sah mit einem scharfen Ruck des Kopfes zu Marianne auf, der die Röte wieder durch die Haut des braunen Halses mit dem feinen Flaum darüber bis in die Nackenhaare stieg.

»Siehst, du g'schtehst's ja selber,« sagte Achleitner und fuhr dann, ohne eine Antwort abzuwarten, weiter: »In Liebessachen hab' ich aber noch meiner Lebtag nie dreing'redet, nit einmal auf allgemeines Verlangen! Das ist immer gerade so, als wollt' man einem von den neumodischen Fuhrwerken einen Bengel zwischen die Räder werfen. Solchem muß man seinen Lauf lassen. Einerlei, ob es sich jetzt um ein kleines oder ein großes Automobil, um eine siedigheiße, oder nur um eine stark lauwarme Liebe handelt. Teilweise gibt es einen Zusammenstoß, teilweise kommen s' auch aneinander vorüber, und wenn die Räder auch von Gummi sind, drunter g'raten möcht ich doch auf keinen Fall!«

Er blinzelte ein wenig schelmisch.

Marianne lachte und sagte: »Ihr seid mir auch noch einer, Achleitner!«

Der Achleitner legte ein Stück Leder auf den Stein, tat einige scharfe Hiebe darauf und sprach dann mit ernster Stimme langsam und deutlich die Sätze:

»Wenn du mich aber fragen tätst wegen der Heirat, dann sag' ich dir: Es hat noch selten gut getan, wenn einer aus seinem Land hinausgeheiratet hat. Da draußen, wo der Doktor zu Hause ist, werden auch schon genug Weibsleut auf ihn warten. Bis er sich hier bei uns eingewöhnt hätte, ging's ja vielleicht nicht gar so lang, denn er ist von einer anpassenden Natur. Aber bis das Tal und die Brander Bauern sich an ihn gewöhnt hätten, weißt, Marianne, das nähme schon ein paar Jahre.«

Er tat wieder ein paar Hammerschläge und fuhr fort:

»Und weißt, der hat seinen eigenen Kopf, das kann ich dir sagen! Ich mag ihn gut leiden und hab' noch nie einen solchen Fremden in der Stube drüben gehabt, aber« – und er sah Marianne prüfend an – »kennst du ihn denn eigentlich, Gemswirtin?«

Jetzt wurde Marianne wieder lebendig:

»Achleitner,« sagte sie, »bös dürft Ihr mir nicht sein, aber bis ihr Mannsleut einen Mann langsam ausstudiert habt, und eine Prise in die Nase steckt, und hinter den Ohren gekratzt, und zwanzigmal hm, hm gesagt, haben wir Frauensleut ihm schon lang durch seine Augen in sein Herz einig'schaut.«

Sie erhob ein wenig ihre Stimme zu ihrer volltönenden Klarheit und sagte zum Schuster:

»Der Herr Himmelheber« – sie sagte nicht Doktor – »ist ein guter Mensch und ein Charaktermensch und ein sauberer Mensch, und vielleicht nur ein bissel ein zu gelehrter Mensch für mich. Aber was er zu viel davon hat, tät er sich doch bald abgewöhnen in Brand, und der Rest käme doch mir zugut« – sie zögerte ein wenig – »und den Kindern – und vielleicht dem ganzen Tal.«

Der Schuhmacher gab keine Antwort daraus, hieb fest und gemessen aufs Leder und ließ, als Marianne sich zum Gehen anschickte, sich nur noch dahin verlauten:

»Ich hab' dir's ja schon gesagt, Gemswirtin, hier handelt sich's um eine regelrechte Liebe, da lasse ich die Finger davon!«

Sprach's und klopfte weiter!

Marianne trug ein viel schwereres Herz hinüber in ihr Haus, als sie es herüber gebracht.

Dort rief sie gleich dem Knecht, er solle das Maultier satteln, sie müsse hinauf in die Douglashütte. Die Marei müsse so etwas wie die Sucht haben, erklärte sie der hinzukommenden Schwiegermutter, die auch meinte, man hätte schon lange wieder einmal nachschauen sollen, wie alles droben laufe.

Der Stall des Gasthauses zur Gemse lag auf der anderen Seite der Straße, und Emil konnte nicht sehen, wie der Knecht das Maultier sattelte, ihm einen Sack Hafer vor den Sattel band und dann der Gemswirtin in den Sitz half. Unterwegs war er dem Briefträger begegnet, der mehrere Sendungen für ihn hatte. Ein leichter Mißmut überflog sein Gesicht, als er einen dicken Brief mit der Handschrift seiner Mutter sah. War es schon wieder vorüber mit ihrer guten Laune? Er steckte die Briefe in die Tasche, um sie abends zu lesen. Gegen unwillkommene Gemütsbewegungen kannte er von jeher nur ein Mittel. Er mußte sie verlaufen. Und eine Viertelstunde nachher hatte er den Weg nach der Sonnenlagant unter den Füßen. Er wählte den steilsten Anstieg und hatte das Tal schon tief unter sich, als er auf einmal die Gemswirtin den Saumpfad heraufreiten sah. Marianne hatte Emil schon seit einer halben Stunde über sich entdeckt. Sie trug einen großen weißen Strohhut, dessen breiter Rand vor ihren Augen auf und ab schwankte und sie hinderte, zu Emil hinaufzusehen. Darum hatte sie schließlich den Knecht, der mit einem Stecken das Maultier von hinten antrieb, vorausgeschickt, damit sie keinen Beobachter hinter sich hatte, wenn sie immer wieder zu Emil hinaufblickte. Der wurde alle Augenblicke zwischen den Bäumen und den Felsen sichtbar, und Marianne konnte sich an seiner hohen Gestalt nicht sattsehen.

Als Emil die Reiterin bemerkte, die über die blendenden Sonnenstreifen und die blauen Schattenbänder ritt, wie der zerrissene Fels auf der Seite des Saumpfades sie auf das Geröll des Weges warf oder fallen ließ, hatte er es auf einmal nicht mehr so eilig. Auch Mariannens Plan war gleich gemacht. Sie hatte zu Hause die Tropfen und den Tee für die kranke Marei auf der Hütte oben vergessen, und als sie sah, daß Emil ihr so frei und vertraut wie noch gar nie zuwinkte, schickte sie den Knecht heim, das Vergessene zu holen, sie würde auf der Sonnenlagantalp auf ihn warten, und wenn er sich tummle, könne er in zwei Stunden wieder zurück sein.

Als der Knecht den Weg zurückging, blieb das Maultier stehen und schaute sich nach einer Weile regungslosen Verhaltens nach dem in raschen Schritten dem Tal zueilenden Burschen um. Marianne wurde unruhig, aber trotz aller begütigenden Worte und Klopfens am Halse machte das Tier Anstalten, dem Knecht wieder nachzulaufen. Emil sah von oben Mariannens Verlegenheit und fürchtete, das Maultier könne sich bergab in Galopp setzen. Er ging also rasch einen Teil des Weges zurück und stieg dann direkt zwischen Felsen und Baumwurzeln ab, um dem Maultier den Weg abzuschneiden. Das hatte in der Tat kehrt gemacht, lief aber in so gemächlicher Gangart und so vorsichtig Schritt für Schritt den Saumpfad hinab, daß es seine schöne Last Emil gerade entgegentrug. Als dieser es am Zaum nahm, drehte es sich willig um und ließ sich ruhig führen.

Das sei nun wieder ein merkwürdiger Zufall, meinte Marianne vom Tier herab zu Emil, und sie setzte hinzu: »Fast wie auf dem Steg am Bach!«

»Nur daß es sich diesmal um eine Eselsbrücke handelt,« sagte Emil, dem gerade kein besserer Witz einfiel. Marianne verstand das nicht ganz, da erklärte ihr Emil, daß man in den Gymnasien gedruckte Übersetzungen der alten Schriftsteller aus dem Lateinischen und Griechischen ins Deutsche, mit denen sich die faulen Schüler behülfen, auch Eselsbrücke heiße, daß er aber jetzt eine andere gemeint habe.

»Da sollten sie aber heute einmal alle Eselsbrücken lassen und ihre eigene Sprache sprechen,« erwiderte Marianne, der ihr Sitz im Sattel und das Gefühl, einen so seltenen Führer ihres Saumtieres zu haben, wieder ihre gewohnte anmutige Sicherheit gab.

Emil erwiderte nichts, sondern sah nur zurück zur schönen Bürde auf des Maultiers Rücken und bekam eine strahlende Antwort aus Mariannens Augen.

So zogen die drei dahin, das Maultier, der deutsche Privatdozent und die Gemswirtin, durch die göttliche Schönheit der Alpenlandschaft, und als sie sich der Sonnenlagant näherten, da schien es allen dreien, als habe das kleine Wäldchen auf den saftigen Matten noch nie so schattig und so einladend dagelegen wie heute; Marianne, weil sie schon lange nicht mehr so leichten Sinnes und so frohen Mutes durch die Welt geritten war. Emil, weil es ihn dünkte, auf diese Art könne er sich schon mit der Rolle eines Eselstreibers zufriedengeben, und dem Maulesel, weil sein Führer ihm nicht nur alle paar Schritte überaus zärtlich auf den Hals klopfte, sondern ihm auch bei jedem Ausschnaufen ein Stück Zucker ins Maul schob und er sich einer solchen Behandlung von seiten seiner Treiber nie erinnern konnte.

Die Menschen sind seltsame Geschöpfe und sehen kaum einmal die Welt, wie sie wirklich ist. Wenn aber die Liebe in ihre Herzen einzieht, dann erhöht sich auch der Glanz des wirklich Schönen; der Himmel wird blauer, die Wasser murmeln traulicher, die Winde flüstern geheimnisvoller und die schattigen Bäume inmitten einer heißen Sonnenglut winken eindringlicher als sonst einmal.

Die Sonnenlagant ist die letzte, in der Schuttwildnis der Scesaplana vorgeschobene grüne Oase, und gerade als ob der üppige Frieden des fruchtbaren Landes noch einmal ein letztes Fest feiern wollte, so liegen die welligen Matten der Alp mit ihrem duftigen, grünen, dichten Berggras zu Füßen der hellen Kalkmauern und des blinkenden Brandner Ferners. Einige Grenzwächter begegneten unterwegs dem seltsamen Paar und schauten sich verwundert nach dem neuen Eselstreiber der Gemswirtin um. Ein wandernder Maler, der gerade sah, wie Emil das Maultier mit Marianne im Sattel unter das Laubdach des Wäldchens führte, machte sich rasch eine Skizze zu einem modernen Bild, dem er den Namen »Flucht nach Ägypten« zu geben gedachte.

Merkwürdig! Emil selbst war, während er im Sonnenbrand mit seinem langen Bergstock und seinem großen Strohhut dahinschritt, einmal der gleiche Gedanke durchs Gehirn gezuckt, und aus seinem bilderreichen Gemüt heraus hatte er in Mariannens Arme bereits ein kleines Kind gelegt. Aber im gleichen Augenblick fühlte er, wie das Phantasiebild unrettbar in der Bergwildnis zerfloß.

Unter den Bäumen stand ein roh gezimmerter Tisch mit Bänken davor. Da hielt Emil an, und als er Marianne aus dem Sattel half und diese sich mit Willen ungeschickter dabei benahm, als es sonst in ihrer Natur lag, da hielt er die weiche, volle Last ihres Körpers in den Armen nicht streng zurück, sondern zog sie an sich und drückte ihr einen herzhaften heißen Kuß auf die roten Lippen. Mariannens schöner Mund wölbte sich nicht zur Antwort. Sie sagte auch nichts, sondern sah den kühnen Führer nur mit einer Art beglückten Erstaunens an.

Gerade als ob nichts Neues zwischen sie getreten wäre, so ging nun jedes der beiden den kleinen Obliegenheiten des Augenblicks nach. Emil band das Maultier an einen Baum, wo es auch weiden konnte, und Marianne stellte auf dem Tisch ein kleines Mahl zurecht aus dem wenigen, was sie für sich und den Treiber mitgenommen hatte.

Kaum aber hatten sich beide gesetzt, als eine hohe, silberne Frauenstimme vom Bösen Tritt her sich über das Wäldchen der Sonnenlagantalp hinschwang. Wie eine Lerche jubelte die freie Menschenstimme und hielt manchmal die höchsten Töne so lange an, bis das Echo an den hohen Felswänden den Ton aufnahm und weitertrug. Das Lied der unbekannten Sängerin verstummte bisweilen und erhob sich dann wieder von neuem. Marianne und Emil hielten es für ein günstiges Zeichen, daß sich gerade in diesem Augenblick ein Mensch von der Höhe herab so in ihre liebenden Herzen hineinsang, und als Emil seine Rechte auf Mariannens Linke legte, ließ sie es ruhig geschehen und legte Emils Linke auf ihre Rechte. Dann saßen sie mit verschränkten Armen und auseinander gelegten Händen stumm einander gegenüber und hörten das Lied immer näher kommen.

Auf einmal klangen die Schritte von Bergschuhen auf den Steinen, und stolz und frei wie ein Mensch aus einer anderen Welt sah Emil, der mit dem Gesicht gegen den Bösen Tritt zu saß, Lotte den Weg herabsteigen und gerade die Richtung auf das Wäldchen nehmen. Marianne war von ihrem Glück umfangen wie ein Kind, und sie lud Lotte mit fast wohlwollender Miene ein, sich zu ihnen zu setzen. Lotte nahm dankend an und überschaute aus kühlen, sonnenklaren Augen die aufsprossenden Wonnen der beiden. Nur Emils gehobene Stimmung störte ein zwiespältiges Empfinden, seitdem er Lotte so königlich hatte herabsteigen sehen. Er suchte vergebens nach einem schicklichen Unterhaltungsstoff und war froh, als viel früher, als sie es erwarten konnten, der Knecht mit dem Vergessenen zurückkam, das ihm ein von der alten Huberin nachgeschickter Geißbub auf der Hälfte des Weges entgegengebracht hatte.

Marianne bestieg nun wieder das Maultier und ritt weiter den Saumpfad hinauf. Lotte ging ins Tal hinab, und Emil zog, nachdem die beiden Frauen verschwunden waren, die Briefe aus der Tasche. Jetzt waren sie zur Ablenkung von dem Zwischenfall ganz gut. Aber wie erschrak er, als er in dem Schreiben der Mutter eine ausführliche Schilderung von dem ganz unerwarteten Tod Annas und eine genaue Beschreibung ihres Begräbnisses lag. Er konnte sich eines beelendenden Schamgefühls nicht erwehren. Erst als er aufbrach, mit dem Entschluß, der toten Jugendgespielin und Freundin Edelweiß, Alpenrosen und Enzian zu einem gewaltigen Kranz für ihr Grab zu pflücken, wich das leise Grauen, das er einen Augenblick vor sich selbst empfunden hatte.


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