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XIII.
Der Kranz

Emil Himmelheber lag langewegs mit ausgebreiteten Armen auf dem dürftigen Graspolster zwischen Geröll und Alpenrosengebüsch und ruhte aus. Er war seit dem frühen Morgen auf den morschen Schrofen des Gavalljochs herumgeklettert. Hunderte der weißen Sterne, die dort auf schwanken Stengeln sich im Silberflaum über Abgründe neigten, hatte er mit sorgsamen Händen gebrochen. Und hier, wo die satten Farben und das reine Leben von tausend Alpenblumen über dem harten, wüsten Felsboden blühten, hatte er die Edelweiß mit einer Last Enziane und Alpenrosen um einen geschälten Latschenzweig zu einem gewaltigen Kranz gebunden, der nun rund und fest wie aus Immortellen neben ihm im feinen Berggras lag. Ein feuchter, um die untere Seite des Kranzes gebundener Mooswulst hielt die Blumen frisch. Emil hatte zerrissene Hände, aufgeschürfte Knie und fühlte sich zerschlagen in allen Knochen. Der Kulturmensch hatte noch nicht ganz Abschied von ihm genommen. Aber trotzdem galt es, bald wieder aufzustehen und den letzten Gruß für Anna hinab ins Tal zu bringen, wenn die Blumen noch einigermaßen frisch auf ihrem Grab in Heitersberg ankommen sollten.

Nach langem Überlegen band er den Kranz an die Haue des Pickels und hängte ihn an dem Schaft freischwebend über die Achsel, so daß die Blumen nicht zerdrückt wurden. Die steilen Felswände rings um ihn fingen schon an, in warmen Tönen zu glühen, und der Abend begann zu sinken. Auf einmal hörte er über sich in den Felsen auf einem schmalen Grasband ein schneeweißes Lämmchen kläglich määhen, und hoch über diesem stand die Mutter und blökte und lockte das verstiegene Kleine. Den Hirten hatte Emil schon vor einer Stunde seine Herde an ihm vorüber zur Hütte treiben sehen, und es war nicht mehr daran zu denken, daß er noch kommen würde, die zwei Verlorenen zu suchen.

Da gab es kein langes Besinnen.

Das Felsband brach dicht vor dem kleinen Tier ab und war zu schmal, als daß es sich hätte umdrehen und den Weg zurückmachen können. Emil sah, daß, wenn er hinaufkäme, er das Lämmchen nur umzudrehen brauchte, dann würde es den Weg allein zurück schon wieder finden. Aber der Einstieg in den Fels war nicht leicht. Er klammerte sich an die nächsten Vorsprünge mit weit gespreizten Armen und fing an, an der senkrechten Wand schief hinaufzupendeln. Dann kletterte er um eine Felsennase herum, wo er sich kaum noch mit den Zehenspitzen und den eingekrallten Fingern halten konnte. Ordentliche Griffe waren auf keiner Seite mehr zu sehen. Nur ein Latschenzweig wuchs aus einer Spalte. Er probierte zuerst, und der Zweig hielt stand. Mit einem Schwung war er auf dem letzten Steinvorsprung und hangelte dann wieder leicht an der Wand schief hinauf. Aber das Mutterschaf blökte oben immer aufgeregter. Es schien Angst für das Junge zu haben, dem Emil immer näher kam. Unruhig lief es hin und her und fing an, abzusteinen. Emil hörte, wie das Herz laut gegen seine Rippen pochte. Um ihn herum schlugen schon die Steingeschosse, die das um sein Junges besorgte Tier mit den Füßen oben herabwarf, an den Rändern und Felszacken auf und zerstäubten unter häßlichem Pulvergestank. Jetzt war keine Zeit mehr, sich Vorwürfe wegen des unnötigen Wagnisses zu machen, und mit einem Arm als Schutz über dem Kopf lief Emil auf einem nun ganz breiten Band zur Stelle, wo gerade über ihm das Schäfchen schrie. Da donnerte eine ganze Salve von Steinen herab. Emil packte das kleine Tier mit einem Griff im Nacken und stellte es umgekehrt auf das Band, auf dem es nun auch gleich anfing, der Mutter entgegen in die Höhe zu laufen. Im nächsten Augenblick spürte Emil einen dumpfen Schlag auf dem Kopf, und dann schwanden ihm die Sinne.

Als er wieder zu sich kam, sah er in ein Paar strahlende, weit offene Augen. Lotte Kirsten stand vor ihm, in der Hand den für Anna bestimmten Kranz. Aber viele der Edelweißsterne, der Enzianglocken und der roten Alpenrosendolden hingen zerfetzt und zerschlagen um den Reifen aus Latschenholz. Durch die große Steinschlagsalve, bei der das Mutterschaf einen kleinen Felsblock losgetreten hatte, war der von Emil vor dem Einstieg an eine Felsenkante aufgehängte Kranz hinabgerissen und mit dem Pickel zusammen in einer Geröllawine bis zur Sohle des Felseinschnitts hinabgeschleift worden.

»Haben Sie Schmerzen?« fragte Lotte, die heute eine Spitze bestiegen und auf der Heimkehr den Kranz mit dem Pickel gefunden hatte.

Emil griff an den Nacken, wo ihm das warme Blut ins Hemd floß. Er war nun wieder ganz bei sich. Ein nicht gerade großer Stein hatte ihn an den Hinterkopf getroffen. Die Hautschwarte war gerissen, aber ohne die vorhergegangene schwere Ermüdung während des ganzen Tages hätte ihn der Stein wohl kaum betäubt. Er war gerade auf Latschengebüsch gefallen, dessen federnde Kraft den Sturz so abschwächte, daß kein Glied verletzt war. Mit einem Satz sprang Emil auf, nahm Lotte den Kranz ab und sagte höflich:

»Ich danke Ihnen sehr.« – Dann schaute er den Kranz an, und es hätte nicht viel gefehlt, daß ihm vor Wut die Tränen gekommen wären. Nun besann er sich auch noch auf das Schäfchen und sah sich im Fels nach ihm um. Die Mutter und das Junge waren verschwunden und jetzt wohl in Sicherheit.

Lotte nestelte ihren Rucksack auf und holte Verbandzeug hervor. Aber Emil wehrte ab.

»Das ist gar nicht der Mühe wert!« meinte Emil, wischte sich das Blut mit dem Taschentuch ab und der Ehrgeiz des Alpinisten erwachte in ihm. Er erzählte von dem verstiegenen Lämmchen, und sie hörte ihm mit verhaltener Bewunderung zu. Aber es wollte zu keinem Klingen kommen in der wortkargen Zwiesprache der beiden, und auf einmal unterbrach Emil sich kurz:

»Sie müssen mich entschuldigen. Gnädigste, es ist nicht meine Absicht, heute abend noch nach Brand hinabzugehen; wenn ich Sie aber auf die Douglas-Hütte begleiten soll, mit Vergnügen!«

»Es ist ja nur zwei Stunden bis Brand, ich bin gewöhnt, allein zu gehen,« antwortete Lotte und verabschiedete sich. Während Emil den Weg mit dem zerschlagenen Kranz wieder in der Richtung der Viehhütte nahm, wo er die letzte Nacht verbracht hatte, trug Lotte ihre kühle, gehobene Stimmung durch den Abend hinab ins Tal, und wenn sie der Gedanke an ihr gesuchtes und nicht gefundenes Abenteuer peinigen wollte, dann lebte sie sich mit der Gewaltsamkeit, die ihr nicht schwer wurde, in eine gewisse Genugtuung über die entdeckte Liebschaft zwischen Emil und der Gemswirtin hinein. Sie glaubte sogar dem Schicksal Dank dafür zu schulden, daß es ihr eine neue Enttäuschung am Manne erspart hatte, und fand es auch gar nicht mehr nötig, ihren ersten Plan einer raschen Abreise auszuführen.

Und doch ertappte sie sich manchmal auf der Frage, was es eigentlich war, was sie an diesem Manne reizte, und was sie an ihm haßte. Vielleicht war es der Ärger über ihren Stolz, der ihr verboten hatte, sich Emil mit der Nachricht zu nähern, daß sie viele seiner Freunde und Verehrer, ja sogar seine eigene Mutter kannte. Und doch wäre sie wohl der Mensch gewesen, sich den Weg zu ihm anders zu bahnen als auf diese ihrer nicht gerade würdige Weise. Nein, das war es nicht.

Was war es dann aber? fragte sich Lotte, denn sie haßte alle Unklarheiten an sich und war immer entschlossen, alle Gedanken sauber zu Ende zu denken. Und da entdeckte sie nun, daß die ganze Haltung des Mannes, von dem sie sich so viel versprochen hatte, eine Pose war, wenn auch eine feine Pose. Das ärgerte sie. Er hatte seinen ernsten Wirkungskreis verlassen, biederte sich jetzt bei den Bauern an und log sich ein edleres Leben vor. Und das gerade haßte sie, die herbe Lotte Kirsten, die immer nur auf das wirklich Große und wirklich Einfache ausging, wie ihr die Leute schon so oft gesagt hatten.

Jawohl, er war sicher ein Schauspieler, dieser Doktor Himmelheber, ein Komödiant der Schlichtheit!

So sagte sie sich und war erfreut über ihren Scharfsinn. Erst spät am Abend kam sie in der »Gemse« im Brandertal an.

Aber als sie am Nachmittag des anderen Tages Emil mit einem noch größeren Kranz aus unzähligen Edelweiß und Enzianen und Alpenrosen den Weg von der Sonnenlagant her gegen das Dorf zukommen sah, geriet ihr Herz von neuem in Verwirrung. Es war doch viel mehr an diesem Menschen, als sie sich's vorreden wollte. Und sie beschloß noch längere Zeit zu bleiben. Aber wohl war es ihr auch nicht bei diesem Beschluß.

Da kamen ihr die Elemente zu Hilfe.


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