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XXI.
Melchior

Ein glorreicher Sonntagmorgen war über Nacht mit einem blinkenden Tausegen in den Bergen eingezogen. Die alte Säge an der Lütschine stand still, und das Wasser, das in der Woche das schwere Rad treiben mußte, war durch eine Stellfalle vom Mühlbach abgesperrt. Doppelt fröhlich eilte es heute mit der Lütschine in das Tal hinaus. Der alte Birnbaum neigte seine Äste über die brausenden und brodelnden Wellen und kaum ein kühles Morgenlüftchen störte seine Blätter, die ruhig und duftig den kalten Tau tranken. Die Ziegen, die im Baumgarten an kurzen Strängen an den Bäumen angebunden waren, knabberten ohne zu meckern das Wenige ab, was die Sensen auf den gerade im Baumgarten gemähten Plätzen hatten stehen lassen.

Alles war still, jeder Halm und jedes Kraut, jedes Tier und jeder Mensch, jeder Fels und jeder Firn atmeten ruhig und stark die Kraft des neuen Tages, den die Sonne zur Welt gebracht, und in den kühlen Glanz des sonntäglichen Tals schaute oben herein die Jungfrau in ihrer ganzen silbernen Morgenschönheit.

Neben dem Haus des Sägers, weiter oben am Bach, stand ein anderes, noch schmuckeres. Dessen Fenster schauten über noch dichtere rote Nelkenbüsche hinab auf die Dorfstraße, seine Grundmauern waren noch massiver, und auf seinem breiten, fast flachen Schindeldach lagen noch schwerere Steine.

Unter der Haustüre auf dem oberen Treppenabsatz stand die Hausfrau, die Gritt, strählte sich das blonde Haar und schaute nach ihrem Mann, dem Melchior aus. Der ging durch die Morgenfrühe in Hemdsärmeln und mit einer Zigarre zwischen dem schwarzen Schnauz und dem breiten Vollbart drüben über der Straße in den Matten spazieren. Er machte kleine, sorgsame Schritte, denn der Weg war schmal, und an der linken Hand führte er sein jüngstes Bübli und an der rechten sein kleinstes Maidscheli.

Sonst rauchte der Melchior nur Pfeife, aber am Sonntag kamen die Zigarren an die Reihe, die er dann und wann von einem der Herren annahm, mit denen er als Führer hinaufging in die Berge. Er nahm nicht von jedem seiner Herren eine Zigarre. Es gab ihrer manch einen, der sie ihm mit nachlässiger Miene hinstrecken wollte, wie einem Knecht. Solche lehnte der Melchior immer fest und höflich ab mit der Bemerkung, er rauche lieber Pfeife, und dabei blitzte er den Spender aus seinen stahlgrauen kleinen Augen ruhig an, ob der ihn nun auch wohl verstanden hätte.

Aber die Zigarre, die er jetzt rauchte, die hatte ihm einer gegeben, den er wohl leiden mochte. Der war vor Jahren noch als flügges Studentlein einmal wochenlang drüben in einer Kammer der Säge gewohnt, und er, der Melchior, hatte damals mit ihm den Eiger gemacht, aber er nahm ihm damals nur die Hälfte des Führerlohns ab, weil der Student es sicher nicht zu dick hatte. Aber jetzt schien sich das geändert zu haben. Er war telegraphisch nach Interlaken gerufen und vom Montag nachmittag ab gleich auf eine ganze Woche verpflichtet worden. Und während der Melchior so mit seinen zwei Allerjüngsten im kühlen Morgen durch die Matten spazieren ging, überlegte er sich dies und jenes in dem vorgeschlagenen Tourenplan; denn es war nicht wenig, was sie vorhatten.

Da rief die Gritt ihren Mann zum Kaffee. Sie war jetzt fertig gestrählt und steckte schon im schwarzsamtenen Bernermieder, auf dem sich die silbernen, dünnen Ketten gar schmuck ausnahmen. Die Gritt selber war eine stattliche Frau, etwas schlanker und größer als ihr Mann. Während sie mit ihrem Gesicht von der fast strengen Regelmäßigkeit der Oberländerinnen, ihren nicht sehr beweglichen Augen und ihrer aufrechten Haltung auffiel, lag über der kleineren Gestalt Melchiors der Schutz der Unscheinbarkeit. Bevor er ins Haus trat, saß er auf der Treppe ein wenig ab, um einen Eispickel zu betrachten, den ihm sein Ältester eben mit einer Entschuldigung für die Verspätung vom Schmied brachte, und nur die eiserne Wachsamkeit auf seinen ausgemeißelten Zügen, als er den Pickel auf den Knien hielt und Spitzhacke und Haue und die in den Holzstiel eingelassenen Bänder aufmerksam prüfte, verriet etwas von seiner starken Männerseele.

»Was ist's für einer, mit dem du gestern in Interlaken draußen ausgemacht hast?« fragte die Gritt beim Kaffee, nachdem die fünf Kinder ihre Schüssel zweimal vollgehabt und die drei großen zum Hüten der zwei kleinen in den Garten hinausgeschickt waren.

»Es ist noch ein Frauenzimmer dabei,« sagte der Melchior, ohne die eigentliche Frage zu beantworten, und kratzte sich hinter dem Ohr. »Aber,« fuhr er fort, »es ist die erste, bei der ich's mir nicht lange überlegt habe, ob ich zusagen sollte.«

Dann schaute er ein wenig vor sich hin auf den Tisch und erzählte weiter:

»Ihn kennst du ja. Weißt du, das ist der, der vor ein paar Jahren immer drüben auf der Schaukel unterm großen Birnbaum gegautscht hat. Er ist ein guter Gänger schon damals gewesen. Sie ist ein kleines leichtes, aber ein bizzli viereckiges und herzhaftes Frauenzimmer. Sie habe schon viel gemacht, hat er mir gesagt. So sieht sie auch aus.«

Die Gritt schwieg. Wenn nur die Wybervölker einmal ab den Bergen bleiben wollten! dachte sie.

Da unterbrach Melchior ihre Gedanken:

»Doktor Himmelheber heißt er, kannst du dich nicht erinnern?«

Die Gritt nickte.

»Es dünkt mich, es sei noch ein ganz Ordentlicher gewesen,« meinte sie.

Melchior bestätigte das und beruhigte dann die Gritt: »Mit dem Frauenzimmer halt' ich es so: zuerst machen wir ein paar leichtere Sachen, dann seh' ich schon, was sie kann. Wenn's mir nicht paßt, dann stellen wir sie halt einfach irgendwo ab.«

Er nahm einen Schluck Kaffee und fuhr dann unter dem Eindruck der Erinnerung an die Unterredung mit den beiden fort:

»Aber ein Paar Augen hat die im Kopf, sag' ich dir, und ist überhaupt fest beieinander. Ausgerüstet sind sie alle beide wie Leute, die schon etwas verstehen von den Bergen.«

»Zwei noble Menschen sind's allweg!« bestätigte er mehr sich selber noch einmal als seiner Frau.

Die Gritt war ganz erstaunt über die Gesprächigkeit ihres Mannes, der sonst seinen Touristen gegenüber sehr kühl und kritisch und auf bergsteigende Frauenzimmer immer schlecht zu sprechen war.

Während Melchior mit seiner Frau in Zweilütschinen beim Kaffee saß, gingen die zwei, von denen sie sprachen, durch Interlaken und kauften ein.

Emil hatte es nicht länger als einen Tag in Interlaken ausgehalten. Lotte aber hatte bleiben wollen, weil sie das Leben dort interessant und anregend fand, besonders aber, weil sie ganz entzückt war von Emils duldsamem Lächeln und oft auch verhaltenem Beifall über die geistvollen, boshaften Bemerkungen, die sie über die barbarische Eleganz des Fremdenpublikums und über die pöbelhafte Stillosigkeit der meisten Interlakener Neubauten machte. Das hätte sie gern noch länger genossen. Aber als Emil bei einem Spaziergang auf dem Höhenweg die schöne Nußbaumallee von Interlaken sah, wie die Stämme der uralten, herrlichen Bäume mit riesengroßen, grell bemalten Hoteltafeln benagelt waren, kehrte er um und erklärte, er werde sofort packen und nach Zweilütschinen in seine alte Säge abreisen.

Da erinnerte sich Lotte daran, daß seine Mutter ihr einmal erzählte, wie Emil, so geduldig und gut er sei, doch ganz maßlos werden und außer sich geraten könne, wenn ihm etwas im Grunde wider den Strich gehe, und wie er sie einst gezwungen habe, eine Ware im Laden nicht mehr weiterzuführen, weil er die Reklame, die an jeder Haustüre dafür gemacht wurde, so schändlich fand. So hatte Lotte es für gut gehalten, nachzugeben, und sie war mit ihm einig geworden, den Sonntag und die darauffolgende Nacht auf der Schynigenplatte zu verbringen und mit dem Führer am Montagnachmittag in Meiringen zusammenzutreffen.

Zu den schönsten Stunden der Alpenwanderung gehören immer die der Vorbereitungen. Lotte hatte es sich ausgebeten, für den Proviant sorgen zu dürfen. Als sie dann miteinander über den Brienzer See fuhren und Emil der Sicherheit halber, die er als geschulter Hochtourist auf Alpenwanderungen ungern entbehrte, seinen Rucksack untersuchte, war er überrascht von der sachlichen Kenntnis, mit der Lotte ihre nicht geringen Traglasten praktisch und mit kluger Berücksichtigung des Gewichts zusammengestellt hatte, und wie sich allerhand feine Leckerbissen in den Taschen versteckt vorfanden.

»Ja, ja,« lachte Emil fröhlich wie ein großer Junge, »das alte Rezept in der Behandlung der Männer ist halt immer noch das bewährteste.«

»Welches?« fragte Lotte.

»Füttere die Bestie!« antwortete Emil und grinste.

»Untier!« rief sie ihm zu, aber der Ton ihrer Stimme verriet ihr Vergnügen an diesem Untier.

Am Montag trafen sie in Meiringen ihren Führer.

»Wie ist nun der endgültige Plan?« fragten Lotte, Emil und Melchior zugleich mit dem angriffslustigen Eifer, der das Glück beim Beginn einer jeden Hochtour ausmacht.

»Ich denk',« meinte Melchior, »wir fangen einmal hübscheli langsam an und sparen die größte Arbeit aufs Ende der Woche.«

Lotte stampfte mit dem Fuß auf die Erde:

»Natürlich die langweiligen Männer, anstatt gleich aufs Ganze zu gehen. Zuerst machen wir den Weg aufs Finsteraarhorn, genau so wie ihn 1811 Meyer von Aarau gemacht. Ich möchte einmal etwas anderes als die ewigen Allerweltstouren. So etwas wie eine historische Tour! Und dann gleich auf die höchsten Gipfel des Oberlandes, und das auf dem schwersten Weg!«

Sie stand fast herausfordernd vor den beiden Männern, und ihre Augen blitzten voll Wagemuts.

Melchior lächelte ein wenig.

»Nur nit g'sprengt, aber immer hü! sagen sie bei uns im Oberland, Fräulein – – wie ist Ihr Name?« ergänzte er fragend und etwas verlegen.

»Heißen Sie mich einfach Fräulein Lotte!« antwortete sie kurz.

Melchior sah sie prüfend an, überschaute kühl ihr Lodenkleid, ihre Stiefel, ihren Pickel, ihr Seil, und meinte dann gelassen:

»Wie Sie wollen! Der Name ist auf alle Fälle leicht zu behalten.«

»Also,« rief Lotte, »dann gehen wir zuerst auf die Grimsel und von dort aufs Finsteraarhorn über den Südostgrat, ich habe alle Karten, auch Zschokksche von 1830, bei mir.«

»Ich bin der Ansicht des Führers,« warf Emil fest dazwischen. »Melchior von Gunten wird sich zuerst einmal mit uns einlaufen und uns auf unsere Bergtüchtigkeit hin kennen lernen wollen. Das finde ich ganz in der Ordnung. Entweder man nimmt einen Führer und hört dann auf seinen Rat, oder man macht eine führerlose Tour. Ein Drittes gibt es nicht.«

Lotte sah Emil beinahe zornig an: »Natürlich, ich bin in der Minderheit, die Herren Männer halten wieder zusammen!«

Als sie die Talstraße erreicht und langsam gegen Rosenlaui aufstiegen, ging Melchior voraus. Er machte das immer so, wenn er zu dritt, und besonders, wenn eine Dame bei der Partie war. Er hatte mit Emil vereinbart, daß sie für heute bis zur Dossenhütte gehen und morgen über die Wetterhörner nach Grindelwald absteigen würden. Emil hatte das Rosenlauital seiner harmonischen Romantik wegen als Ausgangspunkt gewählt und hatte Lotte, die das Tal noch nicht kannte, auf dessen Schönheiten aufmerksam gemacht.

Aber Lotte fand sich enttäuscht und bezeichnete die Landschaft, die ja im Farbendruck in der guten Stube eines jeden zurückgezogenen Wurstermeisters hinge, trivial.

So gingen sie zunächst in einer stark abgekühlten Stimmung dem tosenden Bach entgegen, dessen Wellen manchmal wie weiße Lämmer zwischen den scharfen Granitblöcken, manchmal wie strähnige dunkle Mähnen unbeweglich über den abgewaschenen moosigen Felsen zu hängen schienen. Die üppige grüne Umrahmung des Wildbachs durch dunkle Nadelbäume erhöhte den Genuß, wenn zwischen den schwarzen Wipfeln immer wieder das Zwillingspaar des dunklen Wetter- und des hellen Wellhorns, umflogen von den kleinen Wölkchen, im sanften Schimmer des blauen Himmels erschien. Die verwirrende Romantik des sturmdurchzausten Waldes, die im schäumenden Wasser liegenden entwurzelten Bäume mit ihrem gebleichten Geäst und die wilden, blumenbewachsenen Felsen wurden immer wieder durch eine beruhigende Umrahmung zusammengehalten. Selbst Melchior, der sonst selten etwas über landschaftliche Eindrücke auf seinen Touren verlauten ließ, wandte sich einmal zurück und meinte, es sei halt beim Eid im Rosenlauital am schönsten im ganzen Oberland.

Lotte blieb stumm. Erst als sie nach einer kleinen Ruhepause im Wirtshaus von Rosenlaui die Felsen des Dossengrats erreicht und Lotte, zwar unter Benutzung der am Einstieg angebrachten Leiter, aber unter Nichtbeachtung der weiter oben eingelassenen Drahtseile, es vermieden hatte, den beschwerlichen Aufstieg sich durch fremde Hilfe zu einem ungefährlichen machen zu lassen, erst dann wurde sie wieder zugänglich, und die drei erreichten gerade bei Einbruch der Nacht die Hütte und waren angenehm überrascht, trotz des schönen Wetters keine anderen Gäste dort anzutreffen.

Als sie Rucksack, Seil und Pickel abgelegt hatten, stellte sich Melchior dicht vor Lotte hin, lüpfte halb mit verhaltener Schalkhaftigkeit, halb mit gebührender Ehrerbietung den schwarzen Filz und sagte:

»Nix für ungut, Fräulein Lotte, jetzt glaub' ich's!«

Lotte nahm auch die verspätete Anerkennung noch mit strahlendem Gesicht auf, aber als sie sich nach Emil umsah, den sie gar zu gern gefragt hätte, was er nun zu ihrer Technik sage, war er schon mitten drin in der schweigsamen Tätigkeit des Holzspaltens und Feueranmachens. Erst als Lottens Gaben auf dem Tisch standen und der Tee in den Aluminiumtassen dampfte, wagte sich so etwas wie Hüttenstimmung zwischen die drei, flatterte aber bald wieder wie ein scheuer Vogel davon.

Lotte legte sich zuerst schlafen auf einer der Matratzen des Oberstocks, wie Melchior das nannte, und dann legten sich die beiden Männer in dem Verschlag darunter zur Ruhe. Bald hörte Emil das lange Atemziehen des Führers, während über ihm Lotte alle paar Minuten die Lage änderte. Er selbst lag mit offenen Augen, die ins Dunkel der dumpfen Hüttenluft schauten. Seine Erinnerung wanderte zurück zu ähnlich ruhelosen Nächten. Er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, was geschehen würde, wenn der Führer nicht mit in der Hütte wäre. Eine schwüle Ärgerlichkeit lag ihm im Blute. Er ärgerte sich über diese Abhängigkeit. Aber es half nichts. Je weiter es in die Nacht hineinging, desto heftiger wurde seine Empfindung, daß seine Unsicherheit und sein Mangel an Wärme ihn in den Augen Lottes lächerlich mache.

Gegen Mitternacht hörte er, wie Lotte sich vom Lager erhob, ankleidete, die kleine Leiter herunterstieg und die Hüttentür öffnete. Aber anstatt des erwarteten kühlen Luftstroms drang ein warmer Dunst zur Hüttentür herein. Und Emil merkte, daß seine Schlaflosigkeit auch noch andere als seelische Ursachen gehabt hatte. Er stand gleichfalls auf und trat vor die Hütte. In den Lüften wehte und seufzte es, und manchmal tönte es aus der Ferne wie Donnersalven, aber der Sternenhimmel über den beiden Menschen war ganz klar. Dunkel ragten die Felswände und Steintürme in den leisen Sternenschimmer hinein, und der Sturm schien sich nur oben am Himmel abzuspielen, so wenig fühlten die beiden etwas vom Wind um die Hütte herum. Auf einmal aber ging ein Schreien und Singen los wie aus tausend Kehlen verdorbener Kinderseelen, der heiße Wind griff mit tausend Fingern an die Türen und Läden der Hütte, an die Dachsparren und Schindeln und rüttelte und zerrte und tobte wie eine unsichtbare, losgelassene Furie.

»Föhn!« sagte Emil.

»Der uns den Tag verderben wird und vielleicht die ganze Woche,« setzte scharf und trocken Lotte hinzu.

Da rasselte Melchiors Wecker. Bald darauf trat der Führer auch hinaus in die Nacht, meinte aber, es sei kein Grund, den Mut zu verlieren. Es käme manchmal ein kurzer Föhn, der aber bald wieder heimginge.

Mit einiger Verspätung marschierten die drei, nachdem Melchior und Emil noch alles in der Hütte gut in Ordnung gebracht hatten, ab, dem Dossengrat zu. Im Nordosten zeigte sich der erste rote Schein des Tages. Aber als sie vor der breiten Steinrinne standen, durch die sie nach der Gletscherwanderung hinauf zum Kessel steigen mußten, blieben sie wie gebannt stehen. Das erste Morgenrot setzte nicht nur überall im Umkreis Hörner und Grate in Glut, sondern von manchen Gipfeln lohten auch Flammensäulen auf, als ob die ganze Bergwelt in Brand geraten wäre. Der Sturm blies noch in den allerobersten Regionen und jagte Wolken von Pulverschnee, der sich vom letzten Neuschnee her an den Nordhängen locker erhalten hatte, an den Wänden hinauf, und im Schein der blutigrot aufgehenden Sonne wehten diese vom Föhn aufgestäubten Wolken wie die zerrissenen Schlachtenbanner einer im Feuer aufgehenden Welt.

Emil und Lotte waren wie erstarrt von der drohenden Gewalt dieses Schauspieles, und auch Melchior meinte, so hätte er das noch nie gesehen. Dann stiegen sie auf zum Hauptgipfel des Wetterhorns und zur Glecksteinhütte ab, von wo aus sie dann die Leitern in den Felsen nach Grindelwald hinab benutzten.

Aus den lodernden Gründen einer rätselhaften Unerforschlichkeit heraus war während der ganzen Tour wie von unsichtbaren Händen eine frohe, kühne Bergstimmung niedergehalten worden. Und der Vorhang vor den befangenen Gemütern Emils und Lottes rollte nur auf, wenn das Leuchten der Firne mit ihren blauen Schatten und die stumme Größe der erhabenen Bergwelt die Schleier durchbrach und sie bis ins Herz hinein grüßte. Aber auch dann verschwand der Glanz aus ihren Augen immer wieder rasch. Man ging mit gelangweilter Aufmerksamkeit über das Gletschereis und ärgerte sich über die eigene Unliebenswürdigkeit, die beide so gern geändert hätten, ohne daß es ihnen gelungen wäre. Man handhabte aus langer Übung fast mechanisch das Seil, kletterte mit gleichgültiger Sicherheit durch die Felsen, und keines von den dreien merkte, daß wie ein stummer, unsichtbarer Trommler den ganzen Tag über der Tod neben ihnen hergegangen war.


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