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V.
Die freien Frommen

Wer Michael Mahler war, das ist nicht leicht zu sagen. Die einen hielten ihn für einen zweifelhaften, ja gefährlichen Menschen; die anderen erblickten in ihm den Wegebereiter und Schrittmacher der kommenden Jahrhunderte; und die dritten zuckten über ihn die Achseln, womit sie sehr viel sagen wollten, in Wirklichkeit aber nur ihre Hilflosigkeit zugestanden.

Zu den ersteren gehörte Frau Wilhelmine Feuerstein, die Frau des Münsterpfarrers von Rheineck, zu den zweiten aber die alte Generalin Lange, die nach dem Tode ihres Mannes nach Heitersberg, der alemannischen Schwesterstadt von Rheineck, gezogen war. Dort wohnte sie mit ihrer einzigen Tochter Isy und einem Dienstmädchen in der vierten Etage eines der alten Häuser im Geheimratsviertel. Zu Lebzeiten ihres Mannes war sie die Seele der inneren Mission in einer der größeren Städte des Reiches gewesen; aber ihrem Feuergeist, der aus den Zügen ihres gotisch geschnittenen Kopfes unter dem vollen, schneeweißen Haar hervorleuchtete, war die Frömmigkeit des kirchlichen Protestantismus nach und nach zu nüchtern und seicht geworden, und jetzt zählte sie zu den treuesten Jüngerinnen Mahlers, den die einen einen Propheten und die anderen einen bedeutenden Geschäftsmann nannten.

Frau Lange hatte jeden Dienstag ihren Abend. Die Kniestockwohnung hatte zwar zum Teil schiefe Mansardenwände mit tiefen Fensternischen, aber unter den Händen Isys, der Malerin, war die Etage zu einem Nest vornehmer Behaglichkeit geworden, so daß die Gäste des Dienstagabends sich an der Gartentür schon sagten: Heute wird's wieder einmal Mitternacht!

Liesele, das Dienstmädchen, war eben daran, die belegten Brötchen für den Abend zu richten, als der Postbote ein Telegramm brachte. Frau Lange öffnete die Depesche und schickte gleich darauf das Dienstmädchen in ein Musikhaus mit der Bitte, sofort einen Klavierstimmer zu schicken, es handle sich um einen Ausnahmefall. Das Musikhaus ließ aber sagen, man bedaure außerordentlich, es sei jedoch zu spät für heute. Da gab es nun nichts anderes, als Isy zu schicken. Wenn sie mit ihrer schlanken, hohen Gestalt, der man wohl die Offizierstochter, aber nicht die Künstlerin ansah, mit ihren ernsten, adligen Zügen und dem streng um den Kopf gelegten Zopf in einen Laden kam, dann schwirrten die jungen Leute von allen Ladentischen nur so herbei und sagten: »Gnädiges Fräulein wünschen?«

Richtig schleppte Isy denn auch nach einer halben Stunde einen Klavierstimmer herbei, und während im Musikzimmer nebenan die Quinten zuerst unrein und dann unter der Hand des Stimmers immer reiner erklangen, lehnte sich Isy im Wohnzimmer über die Fauteuillehne der Mutter, die eine Zeitung las, und sagte:

»Mutter, du bist doch furchtbar gebildet. Ich schäme mich ordentlich vor dir, wenn wir Abend haben, und du weißt immer gleich so riesig klug Bescheid über alles. Wozu brauchst du eigentlich immer noch in diesen langweiligen Zeitungen zu lesen?«

Die Mutter bewegte kaum den leicht vorgeneigten Kopf auf dem straff gehaltenen Körper, aber ihr gütiges, scharfgeschnittenes Greisenantlitz leuchtete in einem freundlichen Lächeln auf:

»Du bist ein kleines Schaf! Ich lese doch nur den Essay von Bremer über die Lotte.«

Isy sprang mit einem großen Schritt um den Sessel herum, setzte sich auf die Armlehne, legte ihren Arm um den Arm der Mutter und sagte in kurzen, abgehackten Sätzen:

»Denk dir nur, Mutter! Noch so jung und man schreibt schon Aufsätze über sie! Über meine Bilder ist noch nicht einmal eine Zeitungsnotiz erschienen!«

Die Mutter schwieg. Ein Freier wäre ihr lieber gewesen als eine Zeitungsnotiz über Isys Bilder.

»Warum kommt eigentlich Doktor Himmelheber nicht?« fragte Isy.

»Ich kann mir's nicht denken,« antwortete die Mutter.

»Aber ich habe eine Ahnung,« erwiderte Isy. »Er will sicher allen Gesprächen über seinen Konflikt mit der Universität und über seinen neuesten Aufsatz in der ›Hochwacht‹ ausweichen.«

Da sagte Frau Lange: »Der Artikel ist ja nicht gerade für junge Mädchen geschrieben, aber was er darin sagt, ist gut und bedeutend. Ich verstehe den Lärm nicht. Die Menschen sind so namenlos kleinlich. So schreibt ein ganzer, reiner Mann. Mir scheint es einfach nötig, daß einmal über all diese Dinge gesprochen wird. Ich will ihm das auch schreiben.«

»Ach ja, Mutter, tu das,« sprach Isy. »Ich mag ihn furchtbar gern. Er ist ein so ganz anderer Mensch als diese anderen – Herren alle!«

Isy stockte plötzlich. Die Mutter schwieg wieder. Dann begann Isy von neuem:

»Ich bin auch sehr gespannt auf Lotte. Vor drei Jahren sah ich sie zum letztenmal, und jetzt regnet es schon Gold und Lorbeeren auf sie.«

Da klingelte es. Zu gleicher Zeit meldete der Klavierstimmer, daß er fertig sei.

»Gott sei Dank,« seufzte Isy auf, »das klappt ja wie geölt!«

Lieschen kam herein: »Herr und Frau Doktor Wilhelmi.«

Die Generalin rief dem gleich eintretenden Besuch im Aufstehen entgegen:

»Ei, ei, Herr Doktor, wie Sie sich fein gemacht haben! Natürlich nicht wegen der alten Generalin Lange, sondern wegen der jungen Pianistin Kirsten.«

»Falsch geraten, Frau Generalin,« verteidigte die Frau Doktor, eine kleine, dicke Blonde mit geflochtenen Ohrenschnecken, einer Stumpfnase und einem Gesicht, auf dem Mutterwitz und Hausmütterlichkeit miteinander wetteiferten. »Mein Mann kommt eben von der Sitzung des medizinischen Kongresses, daher der Gehrock!«

»Ja, ja,« ergänzte trocken der Gemahl, ein dürrer Vierziger mit einem klugen, spöttischen Gesichtsausdruck. »Ich hab' aber auch gewußt, daß heute eine musikalische Nummer zum Langeabend kommt, die eine Dame von schätzenswerter Schönheit sein soll. Frau Lange hat's mir gestern auf der Straße gesagt.«

»Da sehen Sie, liebe Frau Doktor,« lachte die Frau Generalin. »So sind die Männer!«

Es klingelte wieder.

Gleich darauf hörte man eine hohe, helle Stimme zu Lieschen sagen:

»Aber Lieschen, geben Sie doch auf meinen Hut acht!«

Das war fast wie ein Trompetensignal in dem friedlichen Hause. Ein solcher Ton ward sonst bei den Langes nie vernommen. Dann schritt eine kaum mittelgroße junge Dame mit großen Augen, in einem ausgesucht eleganten, aber einfachen Kleid mit blonden, über der schönen Stirn gescheitelten Haaren herein, machte zwei Sätze auf die Generalin zu, küßte ihr die Hände, nahm Isy, die sich hinablehnen mußte, wie eine große Puppe in den Arm, gab ihr einen schallenden Kuß auf die Wange und drehte sich dann gegen das Doktorpaar mit der Bitte an Frau Lange:

»Willst du mich nicht vorstellen, liebe Tante?«

Das heißt man auftreten! dachte Isy, die doch davon auch etwas verstand.

»Das ist aber ganz furchtbar lieb von Ihnen, daß Sie nun doch kommen, Herr Professor!«

So begrüßte Frau Lange einen kleinen älteren Herrn, dem seine Beleibtheit und Schwerfälligkeit nichts von der Würde nehmen konnte, die das milde Gesicht mit dem großen, weißen Vollbart ausstrahlte. Die Gesellschaft, die sich schon gesetzt hatte, erhob sich wieder wie vor jemand ganz Besonderem, und als der alte Herr mit sorglich kleinen Schritten auf Frau Lange zuging, lag während der Begrüßung der beiden alten Menschen etwas wie ein stummer Klang von Großem und Unirdischem in der Atmosphäre des kleinen Raums.

Isy nistete sich wie ein Vogel bei dem neuen Gast ein, der einen Ehrenplatz auf dem Sofa angeboten bekam. Frau Lange stellte vor:

»Fräulein Lotte Kirsten, meine Nichte, eine Berühmtheit.«

Es lag zum ersten Male eine Prise gutmütigen Spotts in ihrem Ton. Dann fuhr sie, auf den alten Herrn deutend, fort:

»Herr Professor Bernauer, Isys Lehrer.«

Diesmal schwebte etwas wie Dank und Huldigung in ihrer Stimme.

»Und leider auch eine Berühmtheit,« ergänzte der alte Herr lächelnd. Dann gab er Lotte Kirsten herzlich die Hand. Während er die ihre eine Weile in der seinen hielt, sah er ihr mit jener milden Eindringlichkeit, die bei einem Greis und bildenden Künstler nichts Störendes an sich hat, forschend in die Augen. Lotte hielt stille stand, aber es war ihr doch noch nicht oft passiert, so ruhig und überlegen und doch so freundlich auf Herz und Nieren geprüft zu werden.

Es klingelte wieder, und dann noch einmal, und als die Abendgesellschaft zusammen war, da sagte Frau Lange:

»Lotte, willst du uns vor oder nach Tisch spielen?«

»Kinder, ich habe ja nur eine zweistündige Fahrt hinter mir, aber ich hab' einen schrecklichen Hunger. Gebt mir um's Himmels willen etwas zu essen, einen Happen Brot, ein Ei, eine Sardine, und etwas Warmes zu trinken, dann stehe ich zur Verfügung.«

»Na, dann mal schleunigst zu Tisch,« lachte Frau Lange, »sonst erleben wir noch eine Ohnmacht.«

Man setzte sich.

Es gab zu den belegten Brötchen Tee, Bier, schwache Bouillon und Mockturtle.

Lotte erbat sich Mockturtle.

»Köstlich!« sagte sie, als sie die starke heiße Brühe schlürfte; »da wird man wieder lebendig!«

»Was, noch lebendiger willst du werden?« fragte Isy mit gut gespielter Verwunderung.

Alle lachten.

Da sagte zur Abwehr des Heiterkeitsausbruches einer der zuletzt angekommenen Gäste, ein Mann in mittleren Jahren, dessen scharfblickende Augen durch einen überaus freundlichen Mund in ihrer Unbestechlichkeit gerade noch erträglich gemacht wurden:

»Es ist schade, daß wir Herrn Doktor Himmelheber nicht bei uns haben.«

Da wurde es auf einmal stille, ganz stille. Fast wie eine Herausforderung auf ihr persönliches Bekenntnis empfanden die Teilnehmer der Abendgesellschaft das ausgesprochene Bedauern über die Abwesenheit des Privatdozenten Emil Himmelheber, der bisher ein häufiger Gast bei den Abenden der alten Generalin gewesen war.

»Sie haben ganz recht, Herr Groß!« erwiderte Frau Lange, »mir fehlt Herr Doktor Himmelheber auch sehr.«

Während sie das sagte, prüfte sie ihre Gäste der Reihe nach mit ihren klaren, grauen Adleraugen. Niemand widersprach, nur ein altes Fräulein mit etwas außergewöhnlich energischem Gesicht und in einer seltsam altmodischen Toilette konnte als Antwort ein leises Hüsteln nicht unterdrücken.

»Wer ist denn dieser Doktor Himmelheber?« fragte Lotte.

»Ein Privatdozent an der Universität,« gab Frau Lange zur Auskunft, »ungewöhnlich klug und tüchtig, aber vielleicht doch noch nicht ganz ausgereift.«

»Der Herrgott wird ihn schon zurechtschnitzen, wie er ihn haben will,« meinte der alte Professor bedächtig schmunzelnd.

Isy konnte sich nicht enthalten, das Bekenntnis abzulegen:

»Ich für meinen Teil finde ihn schon jetzt recht gut geschnitzt,« und halblaut unterrichtete sie die immer neugierigere Lotte:

»Groß, mächtiger Schädel, Lockenkopf, aber bitte, keine Schmachtlocken, breiter, aber feiner Mund, mittelgroßes, aber fein ausgearbeitetes Kinn ...«

»Das ist ja der reinste Steckbrief!« lachte Lotte heraus und fragte: »Wie alt?«

»Dreiunddreißig!«

»Du bist gut unterrichtet! Besondere Merkmale?«

»Pfeift auf ziemlich viel auf der Welt, zum Beispiel auf die öffentliche Meinung!«

»Und was ist das für ein Aufsatz, den er geschrieben hat und der die öffentliche Meinung so entsetzt?«

»Über das Buch Tobias, über das er im vergangenen Semester unter anderem gelesen.«

»Was ist das, das Buch Tobias?«

»Das kennst du doch, im Alten Testament!«

»Oh,« rief die lustige Frau Wilhelmi mit den Ohrenschnecken über den Tisch herüber, »das ist wohl der, der den Fisch gefangen hat?«

Alles lachte nachsichtig, aber freundlich, weil Frau Wilhelmi als einzige im Kreis das Buch Tobias nicht kannte.

»Eigentlich hat nicht Tobias, sondern sein guter Engel den Fisch gefangen,« belehrte Professor Bernauer die junge, verlegen gewordene Frau.

Man lachte wieder. Nur das alte Fräulein mit dem energischen Gesicht widmete sich demonstrativ den Lachsbrötchen.

»Bitte, erzählen Sie die Geschichte, Herr Professor,« bat die kleine, lustige Doktorfrau.

»Das geht nicht gut in Gesellschaft, meine Liebe,« klärte sie ihr Mann, der Psychiater, auf und verzog komisch das Gesicht.

Da ergriff das energische alte Fräulein das Wort, und ihre Stimme hatte einen trockenen, harten Klang, als sie in biblischem Stile sprach:

»Man soll Sodom kein Trost sein! Den Aufsatz des Herrn Doktor Himmelheber in der ›Hochwacht‹ finde ich empörend. Es ist ein bedenkliches Zeichen, daß in bisher gut gesinnten Zeitschriften so etwas abgedruckt wird.«

»Ich finde es wundervoll, was Herr Doktor Himmelheber in dem Aufsatz sagt,« erwiderte fest, doch ohne Schärfe die alte Generalin und fuhr weiter: »Es ist nach meiner Meinung höchste Zeit, daß über diese Dinge, bei denen es sich um das Wohl der ganzen Nation handelt, von reinen Männerlippen deutlich geredet wird. Nur muß man auch beim Hören reine Ohren und beim Lesen reine Augen haben!«

Das energische alte Fräulein biß die Zähne zusammen und überlegte es sich, ob sie je wieder einmal zu den Langeabenden kommen sollte. Die waren ja alle auch schon auf dem Wege des Verderbens. Aber schließlich nahm sie doch noch ein Lachsbrötchen.

Während dieses Gesprächs war Lotte ruhig dagesessen und hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört.

»Aber nun finde ich, du solltest uns etwas vorspielen,« sagte die Generalin.

Man ging ins Musikzimmer.

Lotte nahm an dem großen, schwarzpolierten Flügel Platz. Im gleichen Augenblick war sie eine andere geworden. Ihre Gestalt bekam etwas Ruhiges, Geschlossenes. Kerzengerade, mit herabgedrückten Schultern saß sie auf dem Klavierstuhl. Ihr prachtvoller Kopf mit dem dichten, hellblonden Haar ruhte sicher auf dem wundervollen Hals, und ihre hellen Augen schienen über den Flügel hinaus wie ins Weite. Ein stiller, fast demütiger Ernst trat in ihre Züge. Dann schlug sie den ersten [Takt] der Pathetika an und mit königlicher Klarheit und Würde erfüllten schon die ersten Takte das kleine Musikzimmer. Der Meister selber, Ludwig van Beethoven, schritt mit kühner Gelassenheit und verhaltener Trauer durch den Raum.

Ein lautloses Stillschweigen war der größte Dank, den die Zuhörer der Künstlerin bezeigen konnten. Nur die alte Generalin trat zu ihr an den Flügel, streichelte ihr sanft über das Haar und über den rechten Arm und sagte:

»Möchtest du uns später nicht auch noch etwas improvisieren? Das höre ich eigentlich am liebsten von dir.«

»Gerne, liebe Tante, wenn ihr mir zehn Minuten Zeit laßt!«

Lotte setzte sich zu dem alten Professor Bernauer aufs Sofa, plauderte mit ihm und erwies sich dabei als eine gute Kennerin der Bibel.

»Nun, was werden wir zu hören bekommen?« fragte die Generalin ihre Nichte.

»Eine Legende!«

»Was für ein Stoff?«

»Tobias!«

Da ging Verwunderung und Erwartung über alle Gesichter, und alle, mit Ausnahme der kleinen Doktorsfrau, verstanden, was Lotte nun den großen schwarzen Flügel erzählen ließ.

Einige Takte im Balladenstil eröffneten in nüchternem, klarem C-Dur das Spiel:

»Es war ein Mann mit Namen Tobias aus einer Stadt von Obergaliläa über Aser an der Straße zur linken Seite dem Meer.«

Dann fingen die Finger der linken Hand einen leichten Wanderrhythmus an, und man sah den jungen Tobias auf der Brautschau mit dem Engel Rafael als Gefährten dahinschreiten zu Raguel, dem Vater der schönen Sara, »der Männertöterin«. Eine herbe Melodie in A-Moll erzählte von den sieben Freiern, die jedesmal am Morgen nach der Brautnacht tot auf dem Lager gefunden und dann von Raguel, der sich nachgerade an dieses Geschäft gewöhnt hatte, im Garten begraben worden waren.

Da fing aber in hellen, hohen Tönen auf einmal der Engel an zu reden, und Sara, die von der Magd eine Mörderin geschimpft worden war, erschien im Lichte einer reinen Jungfrau, die eine flammende Waberlohe schützte gegen wilde Männergier. Wie von einem schönen Alt gesungen vernahm man Saras Stimme aus ihrem Gebet:

»Entweder bin ich ihrer oder sie sind meiner nicht wert gewesen, und du, o Gott, hast mich einem andern Manne vorbehalten.«

Und in den Baßoktaven hörte man Raguels Erdschollen auf die toten Freier fallen.

Aber ganz lichthaft und klar arbeitete sich nun die Unterweisung des Engels an Tobias heraus, wie er sich zu verhalten habe: »Drei Nächte mußt du mit der Braut in der Kammer sein und dich dennoch ihrer enthalten.«

Unter den zarten Klängen eines Brautmarsches führte jetzt Tobias die Braut Sara in die zugerichtete Kammer, und Raguel fing im Garten an ein Grab zu schaufeln. Man vernahm seine Baritonstimme:

»Schicke hin eine Magd und laß sehen, ob er auch tot sei, daß wir ihn vor Tag begraben.«

Aber der Flügel hellte unter Lottes Fingern aus der Mollkantate in eine feierliche Dur auf:

»Denn die Magd schlich in die Kammer, fand Tobias und Sara gesund und frisch und schlafend beieinander, und alsdann befahl Raguel, daß sie das Grab wieder fülleten, ehe es Tag war. Und am vierten Tage nahm der Engel Rafael vier Knechte Raguels und zwei Kamele und zog mit den beiden zu Tobias' alten Eltern nach Galiläa an der Straße zur linken Seite dem Meer.«

Lottes Improvisation klang aus in ein heroisches Marschmotiv, als ob sie ihre Zuhörer aus edler Resignation über die Tragik des Daseins hinaufführen wollte zur Höhe eines freien Heldenlebens. Es lag wie ein feierlicher Bann über allen, als sie geendet hatte. Man beglückwünschte sie zu ihrer Kunst, aber die Unterhaltung ging nun nicht mehr so flüssig wie an andern Abenden vonstatten. Man sprach fast nur von Emil Himmelheber, und zwar in einem dumpfen Widereinander der Gefühle, und trennte sich zum ersten Male vor Mitternacht.

»Den Menschen muß ich kennen lernen!« sagte Lotte zu Isy, die sie nach dem kleinen Gastzimmer begleitet und noch mit ihr geplaudert hatte.

»Ich muß! Verstehst du das?« wiederholte sie.

»Verrücktes Huhn!« antwortete Isy, gab ihr aber einen für ihre spröden Gewohnheiten zärtlichen Kuß und ging hinaus.


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