Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XV.
Zwischenspiel

Es war schon gegen Mittag, als Marianne zum viertenmal vorsichtig an der Tür des eigenen Schlafzimmers klopfte. Da sie wieder keine Antwort bekam, öffnete sie leise eine Türspalte und sah Emil im Bett ihres verstorbenen Mannes, das dicht neben dem ihren stand, ruhig schlafen. Aber die vier polierten Nußbaumbretter ihres eigenen Bettes enthielten nur noch den Rost, weil am Abend vorher die Matratze, die Kissen, die Leintücher und die Decken zu provisorischen Betten für sie und die Kinder ins Zimmer der Schwiegermutter gebracht worden waren.

Marianne schloß die Tür wieder sorgsam.

Er mußte unmenschlich gearbeitet haben, dachte sie, daß der Schlaf ihn so weit in den Tag hinein nicht losließ.

Eine Viertelstunde nachher erwachte Emil am Lärm und Kindergeschrei vor seiner Türe. Franzl und Pipa, die bis dahin von der alten Magd streng gehütet worden waren, damit sie nicht ins alte gewohnte Schlafzimmer liefen, waren durchgewitscht und hatten eben zu dem Onkel stürmen wollen. Das Fest, daß er, wie die Mutter ihnen geheimnisvoll erzählt hatte, in ihrem Bett schlief, wollten sie würdig feiern, als Marianne sie gerade noch auf der letzten Stufe ertappte und sie schreiend und protestierend in die Küche hinabzog. Der Lärm, den es dabei absetzte, hatte Emil geweckt, und nun lag er ruhig und offenen Auges in dem wachsenden Erstaunen, das jeden unvermutet in einer neuen Situation erwachenden Menschen nach einem langen Schlaf immer beunruhigt oder erfreut.

Emil war beunruhigt. Die Empfindung einer weichen Gefangenschaft legte sich um ihn herum wie etwas, das ihm den Atem nehmen wollte. Er erinnerte sich noch, wie er todmüde von der Brandstätte zurückgekehrt war und sich willenlos von Marianne in das Schlafzimmer hatte führen lassen, das sie für ihn ausräumte. Lichter waren in der allgemeinen Verwirrung keine mehr aufzutreiben gewesen. Die Pensionäre hatten schon jeden Kerzenstumpf für sich beschlagnahmt. Fast zornig über den seinetwegen gemachten Auswand an Mühe und Arbeit hatte Emil erklärt, irgendwo auf dem Heustock nächtigen zu wollen. Aber Marianne hatte ihn mit einer wortlosen und beglückten Demut, die er durchs Dunkel in ihren Augen scheinen sah, gebeten, doch nach allem, was er in dieser Nacht getan, mit ihrem Zimmer vorlieb zu nehmen. Das hatte sie mit einer so zarten Glut in der verhaltenen Stimme und mit einer so keuschen und bedingungslosen Hingebung in der Gebärde gesagt, daß Emil anstatt jeder Antwort Marianne in die Arme schloß und sie wild küßte. Diesmal versagte Marianne die Antwort nicht. Aber während ihre Lippen heiß zurückgaben, was er ihr sanft und fest gewährte, spürte sie durch die geschlossenen Lider hindurch, wie ein gewaltiges Wetterleuchten das Zimmer fortwährend fast bis zur Tageshelle erfüllte, und erschreckt von der Möglichkeit, von den Pensionären des Anbaues gesehen zu werden, war sie aus dem Zimmer und hinüber zu ihren Kindern geflohen.

Alles das durchlebte Emil noch einmal in den wenigen Minuten, während er in dem fremden Bett wachend lag. Eine ungewohnte Beengung erfüllte sein Herz, und er brauchte keinen Stolz über seine Tat zurückzudrängen, deren Ruf wie ein Lauffeuer das ganze Dorf durcheilte. Es war ihm peinlich, auf einmal in den Mittelpunkt des Lebens in diesem stillen Tal gerückt worden zu sein.

Aber es war noch mehr. Die Erinnerung an das Erlebnis mit Marianne, ja selbst die enggestellten Möbel in Mariannens Zimmer, das alte Eichenbüfett mit dem alten Vorarlberger Zinn, die reichgeschnitzten Tiroler Bauernstühle und das auch für die Vorarlberger Patrizierstube erstaunlich feine Piano, alles das schien mit unerwünschter Heimeligkeit sich an ihn heranzudrängen und ihn festzuhalten.

Mit einem Satz sprang Emil aus dem Bett, kleidete sich rasch an und stand bald unten in der Wirtsstube, wo ihn zum erstenmal auch die alte Huberin mit unverhohlener Hochachtung begrüßte und gleich anerkennende Worte an ihn richten wollte: »Ja, im Unglück und bei solchen Gelegenheiten könnt man halt sehen, was ein Mann ist«, wollte sie sagen, aber Emil ließ sie nicht weiter reden, sondern ging zur hinteren Saaltür hinaus, um zunächst einmal nach des Achleitners Haus und nach seinem eigenen Zimmer zu schauen, über den angeschwollenen Bach waren schon wieder starke Balken mit Dielen darauf gelegt. Drüben im Hause sah es bös aus. Keine Scheibe war ganz geblieben, der Keller stand unter Wasser und in seinem Zimmer lag in der Nässe des geschmolzenen Hagels Papier, Kleider und alles durcheinander auf den Dielen.

»Das sei noch gar nix,« sagte der Achleitner, der eben hereinkam und fürs Gröbste Ordnung machen wollte. Die Brander seien trotz allem am besten weggekommen, aber drunten im Montafon hätte das Wasser Dutzende von Häuser mitgenommen, viel Vieh sei ersoffen und die Kirschen und die Birnen und die Äpfel von Schruns und Tschagguns seien für dieses Jahr gegessen.

Die Telephonleitungen waren auf weite Strecken hin zerstört, und Emil sah, wie die Schwerfälligkeit der Älpler nicht geeignet war, der in vielen Häusern schon heranziehenden Not zu steuern.

Als er wieder in die »Gemse« hinüber kam, empfing ihn die Huberin mit der Nachricht, die Hälfte der Fremden wolle schon heute abreisen, da wäre er doch der Mann dazu, um denen solche dumme Gedanken auszutreiben. Jetzt gerade erst, wenn es einmal kühl sei, würde es schön im Brandertal. Marianne, die hinzukam, hörte mit einiger Beschämung die geschäftigen Reden der nicht sehr feinfühligen Schwiegermutter, aber Emil sah ihr an, daß sie mit dem Inhalt dessen, was die Huberin vorbrachte, einverstanden und nicht ohne Besorgnis für die nächsten Wochen war.

Da kam der Achleitner zur Tür herein.

Ob er niemand wisse, der Zither spielen, oder jodeln, oder sonst Musik machen könnte, fragte Emil. Da mußten zunächst einmal ein paar Konzerte veranstaltet werden, bis kräftigere Hilfe drunten von den Städten käme.

»Da fehlt es nicht in Brand,« meinte der Achleitner und redete vom Pfarrer, vom Grenzinspektor und vom Schulmeister, von denen ein jeder schon ein richtiger Künstler sei. Und dann, setzte er hinzu, solle ja in der »Gemse«, wie's in der Zeitung letzthin geheißen, eine ganz großartige Künstlerin wohnen.

Ei natürlich, warf die Huberin dazwischen, das kann niemand anders als das Fräulein Kirsten sein, die in Numero elf im Anbau wohne. Sie habe sie schon einmal, wo niemand im Hause war, spielen gehört. Das habe ganz anders gefingerlt, und sei überhaupt eine scharmante Person. Und da fehle es auch nicht bei ihr, schloß die Huberin, indem sie den Daumen und den Zeigefinger der rechten Hand aneinander rieb.

Heute aß Emil zum erstenmal in der »Gemse« zu Mittag an der Tafel, und er pries heimlich die sorgliche Mutter, die ihm wider Wunsch und Willen seinen feinsten Abendanzug in den Koffer gepackt hatte. »Auf alle Fälle«, hatte sie dazu geschrieben, denn der Mensch könne nie wissen.

Lotte saß als älteste Pensionärin an dem einen oberen Ende der hufeisenförmig gestellten Tische, und Emil hatte seinen Platz unten, gerade ihr gegenüber. Sie hatte von seiner Tat schon gehört, konnte aber nicht anders, als mit verhaltenem Ingrimm aus ihren weitgeöffneten, streng bernsteingelben Augen den Mut bewundern, mit dem er, der heimliche Liebhaber dieser Nacht in einer fremden Frau Gemach, noch hier den Ehrenmann spielte.

Ihr Staunen wuchs aber zur Verblüffung, als Emil nach dem Mittagessen sich ihrem Platz näherte, sich höflich verneigte und um eine kurze Unterredung wegen eines geplanten Wohltätigkeitskonzertes für den heutigen Abend bat.


 << zurück weiter >>