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IX.
Das Menschheitsschloß

Sabinens stiller Jubel Über die rasche Erlaubnis des Vaters zu der Reise nach Schloß Brunn wich einer nervösen Ängstlichkeit, als sie im Schnellzug saß und den ganzen Tag durch das von grünen Halmenmeeren überwogte Land fuhr.

Was wollte sie eigentlich dort? Was sollte sie bei Menschen, die wahrscheinlich schon alles, woran sie litt, längst überwunden hatten und nun Freie waren? Oder war es vielleicht doch nur eine der Seelenanstalten, wo fromm geredet und sanft geseufzt wurde?

Das hatte sie aber doch schon alles bis zum Überdruß genossen.

Sabine unterbrach gegen Abend ihre Reise in einer großen Stadt und fuhr am nächsten Tag in aller Frühe der Endstation, einem kleinen Städtchen, zu, wo sie am Mittag eintraf. An der Bahn erwartete sie ein zweispänniger Wagen, dessen nicht gerade hochherrschaftlich aussehende Pferde von einem Kutscher mit einem alten Filz auf dem Kopf gelenkt wurden.

Die Gäule zogen an und trabten auf einer breiten Landstraße zwischen einem ruhigen Strom und steilen Weinbergen ihrem Ziel entgegen. Der Weg führte eine halbe Stunde lang in ungewisse Weiten. Sie begegnete keinem Menschen, außer einem einsamen Radler. Von einem Schloß war nichts zu sehen. Zwischen Straße und Strom blinkte die Eisenbahn im weißen Licht des nebligen Himmels. Den Blick über den Fluß hinaus verwehrte eine hohe Wand alter am Ufer hin gepflanzter Bäume.

Würde das Neue, dem sie entgegenfuhr, auch gut sein?

So fragte sie sich.

Da brach der hohe Baumwall jenseits des Wassers ab und ließ ihr Auge über weites Wiesenland bis an den Horizont gleiten. Die Straße, der Schienenweg und der Fluß bogen plötzlich in einer scharfen Kurve um einen hervorspringenden Weinberg, und auf einmal sah Sabine die gestaffelten Giebel der dreiteiligen Fassade von Schloß Brunn. Zu den Füßen der Burg duckte sich ein kleines Dorf, und mitten vor der Schloßmauer stand, alle Dächer weit überragend, eine mächtige Pappel und winkte wie zum Gruß.

Einige Minuten nachher tönten die Hufe auf dem Pflaster des Schloßhofs, und Sabine stieg aus. Kein Mensch war zu sehen. Alles schien stumm, leer und wie verzaubert. Nur ein alter Brunnen plauderte aus einer Mauer heraus. Endlich kam ihr mit elastischen Schritten eine schlanke Dame in einem Prinzeßkleid von gewählter Schlichtheit entgegen:

»Fräulein Feuerstein?«

»Jawohl.«

»Ich bin Fräulein Frenssen, die Hausdame.«

Die beiden Frauen schüttelten sich die Hände. Dann brachte die Kastellanin Sabine durch einen schweren Bogengang von dem äußeren in den inneren Schloßhof und bat sie, ihr über eine schwere Steintreppe in einen der Schloßflügel zu folgen. Bald befand sich Sabine in einem kühlen, weißgetünchten Raum. Auf die großen Steinplatten des Fußbodens malten schmale, in dicken Mauern liegende Nischenfenster breite Sonnenstreifen.

Dieses große Burgverlies nannte die Kastellanin das Zigeunerlager. Es war in der Mitte durch eine Tapetenwand von grobem Sackstoff getrennt. Vier Türen, auf denen keine Zimmernummern standen, sondern die vier Mondphasen frisch und fröhlich aufgemalt waren, führten in Einzelräume. Sabine wurde in das Zimmer zum zweiten Viertel des zunehmenden Mondes gebracht, von ihrer Begleiterin kurz auf die schöne Einsamkeit, die für vieles Fehlende entschädigen müsse, aufmerksam gemacht, und dann nicht ohne die Hoffnung, daß sie ein besseres Zimmer bekommen würde, sobald es mehr Platz im Schlosse gäbe, allein gelassen.

Alles das war in einem sehr frischen Tempo gegangen und doch nicht ohne Liebe. Sabine sah sich in ihrer Zelle um und fand außer einem Bett mit schloßenweißer Leinwand alles vor, was ein nicht zu anspruchsvoller Mensch in seinem Zimmer braucht. Durch die vergitterte Fensternische sah sie in das lichtgrüne Heckengewirr eines großen Parkes. An der Wand war ein schiefes Schreibbrett angebracht, und als Sabine sich von der Reise etwas erfrischt hatte, setzte sie sich zuerst auf den alten Bauernstuhl vor dem primitiven Pult und schrieb einige beruhigende Zeilen über ihre glückliche Ankunft an den Vater.

Dann ging sie hinaus in den Schloßhof, wo der Wind im Laub einer hohen Platane wühlte. Vor dem silberhellen Baumstamm standen bequeme Holzstühle im Halbkreis. In einem derselben nahm Sabine Platz. Sie sah den hellen und dunkeln Wolken zu, die am Himmel über die verwitterten Kreuzblumen hinzogen, und gerade so trieben in ihrem Herzen allerhand Hoffnungen und Zweifel hintereinander her. Immer noch zeigte sich kein Mensch von den Gästen, und langsam nisteten sich in Sabinens Kopf krause Gedanken von verhexten Schlössern und versunkenen Städten ein, als auf einmal eine kräftige Männerstimme sie aus ihren Träumereien weckte:

»Doktor Mahler.«

Sabine drehte sich um und sah einen mittelgroßen Mann in weißen Beinkleidern und einem rohseidenen Kittel vor sich stehen. Er sah sie aus guten, braunen, tiefen Augen freundlich an und streckte ihr die Hand zum Gruße hin.

»Ich habe Sie unterwegs begegnet, Fräulein Feuerstein! Ich fuhr auf dem Rad nach Roßfeld.«

Sabine erinnerte sich an den Mann auf dem Rad. Aber so schlicht, fast alltäglich, hatte sie sich den Doktor Mahler doch nicht vorgestellt. Der Schein des Alltäglichen zerrann aber schon, als Mahler nur die üblichen Fragen nach ihren Eltern, nach ihrer Vaterstadt und auch nach dem Wetter in Süddeutschland an Sabine richtete.

Was war das nur, was dieser Mann mit dem soldatischen Gesicht und der unsoldatischen Haltung an sich hatte? War es nur Energie, nur die unauffällige Gewandtheit des Überlegenen, oder noch etwas anderes? An wen erinnerte sie nur dieser Kopf mit dem kurzgeschorenen gelichteten Haar, der kleinen Felsenstirn, dem gewaltigen Schnauzbart und dem viereckigen Kinn?

»Sie können in zwei Tagen das italienische Zimmer haben,« sagte Doktor Mahler. »Da werden Sie sich wohler fühlen als im Zigeunerlager.«

Dann ging er mit einem kurzen: »Auf Wiedersehen!«

Die ersten Tage ihres Aufenthaltes auf Schloß Brunn kostete es Sabine nicht wenig Mühe, den vielen Eindrücken, die auf ihr empfängliches Gemüt einstürmten, festen Widerstand entgegenzusetzen. Denn kaum war Doktor Mahler im Tore des Schloßhofes verschwunden, als die Schloßgäste in bunten Scharen von ihren Nachmittagsspaziergängen zurückkamen und mit einem Leben voll harmloser Heiterkeit die alten Mauern erfüllten. Erst jetzt merkte Sabine, wie einsam ihr Leben in der Familie oder mit dem Vater auf dem Landhaus in den letzten Jahren gewesen war. Das hatte sie versonnener und befangener gemacht, als sie es selber wußte. Alle die vielen Fragen, die sie auf dem Herzen hatte, ließ sie nun in sich verschlossen, und wenn sie einmal in den allerersten Tagen sich versucht fühlte, mit Doktor Mahler, dessentwegen sie hergekommen war, über ihr Innerstes zu reden, da schien es ihr, als ob er heimlich seine Hand auf ihren Mund hielte und fest und beruhigend sagte: »Nur stille sein, es kommt alles!«

So ging Sabine, ohne Bekanntschaften zu suchen, durch die Reihen der Gäste, strich in dem hügeligen Park auf und ab, den eine ganze Gesellschaft bemooster steinerner Göttergestalten bevölkerte, saß nachdenklich auf den stillen Terrassen, wo man über Zinnen und Mauern hinaus den Blick ins weite Land hatte, oder wanderte über Stiegen und Höfe, wo dunkle reichgeschnitzte Schränke die Blicke auf sich zogen.

In diesen ersten einsamen Tagen mitten in einer bewegten Gesellschaft merkte sie gar nichts davon, daß ihre Erinnerung an Hans, an ihren Vater und ihre Mutter, und an alles, was ihre Not in den letzten Zeiten von Woche zu Woche gesteigert hatte, wie spurlos in ihr versank. Sie empfand auch gar nicht das Bedürfnis, ihrem Vater oder Hans über das viele zu schreiben, was hier so ganz anders war als draußen in der Welt. Hier waren keine Dienstboten, sondern Helferinnen, wie sie genannt wurden. Schon in aller Morgenfrühe hörte Sabine diese fröhlichen Mädchen mit ihren Sandalen an den nackten Füßen auf den Pflastersteinen des inneren Schloßhofes klatschen und lachend und singend den dunkeln Bogengang in den äußeren Schloßhof hinaus laufen. Sie empfand es so wohltätig, daß hier die tyrannische Sitte des Vorgestelltwerden nicht herrschte und man, ohne für unhöflich gehalten zu werden, schweigsam neben seinen Tischnachbarn bei den Mahlzeiten sitzen konnte, die in einem festlich weißen, kleinen Saal mit der Aussicht auf Strom und Wiesenland eingenommen wurden. Alles das und vieles andere nahm sie mit freudiger Selbstverständlichkeit hin als erklärliche Äußerungen eines Lebens, das sich zwar verbarg, das sie aber nichtsdestoweniger deutlich verspürte. Dabei entging ihr nicht das geschraubte Wesen mancher Gäste, die sich ihr mit geheimnisvollen Mienen als langjährige Vertraute des Schlosses nahten. Alle diese Seelenschnüffler lehnte sie mit höflicher Entschiedenheit ab, um sich desto freier denen zu öffnen, deren Zurückhaltung ihr wohl tat und hinter deren fröhlichem Stillsein sie nicht mit Unrecht Reichtümer des Herzens vermutete. Oft hätte sie solchen Mädchen, durch deren heimliche Augen beim Vorübergehen blitzhaft ein Leuchten brach, ganz leise sagen können: »So, du bist auch da?« oder so etwas, was sich ihr aufdrängte, ohne daß sie über solche Regungen sich hätte nüchterne Rechenschaft geben können. Aber am meisten stand ihr doch immer die knorrige Gestalt Doktor Mahlers vor Augen, und ein alter, von einem Minnesänger gedichteter Vers, dessen verblaßte Buchstaben sie immer wieder an der Wand ihrer von Efeu überwucherten Lieblingsterrasse las, schien ihr wie geschrieben auf den Mann, um den alles dieses Leben in der alten Burg kreiste:

Nun weiß ich wohl, wo Treue lebet
Mit Wahrheit und mit allem ihr Gesinde,
Danach mein Gemüte strebet; –
Da will ich hin, wo ich den Hof
Von Bronnen finde. –


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