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XXV.
Besinnen und Beginnen

Aus dem rasch aber glatt wie Öl seinem Ausfluß zutreibenden See steigen Mauern des Klosters Sankt Martin. Davor auf schmalem Erdbord stehen stolze Pappeln und demütige Trauerweiden. Aus einem Erkerfenster, wo sonst lebensfreudige und herrschsüchtige Äbte Auslug hielten, schaut ein froher, blondlockiger Knabe heraus und schießt in übermütigem Zeitvertreib mit einem Bogen und mit Rohrpfeilen auf die kleinen, schwarzen, wilden Enten, die alle Augenblicke unter- und wieder auftauchen. Den See herab in einem flachen Kahn treibt ein Mann, den der Knabe lange schon gern aufs Korn genommen hätte. Endlich gleitet das Schiff lautlos unter den überhängenden Trauerweiden gegen den Erker zu. Da legt der kleine Schelm auf den Mann im Boot an.

Emil – denn er ist es – bemerkt den Anschlag:

»Wart nur, Schlingel, ich krieg dich schon!«

»Umgekehrt ist auch gefahren,« ruft der Bub zum breiten Kahn hinab und im nächsten Augenblick schwirrt ein ungefährlicher Rohrpfeil scharf neben Emil vorbei ins Wasser.

»Dich soll aber doch – –!«

Emil vollendete den Satz nicht, sondern legte an der kleinen Stiege vor dem Kloster an, sprang aus dem Schiff, band es an einen der im Pflaster steckenden Pfähle ein und erkaufte sich für einen Franken den Eintritt.

Emil hatte keine sehr ruhige Nacht hinter sich. Er war in einem Wirrwarr unbestimmter Gedanken über sich selbst gestern am Abend in einem Dorfwirtshaus eingekehrt und erst gegen Morgen eingeschlafen. Bevor er seinen Studienfreund besuchte, um sich ihm für den Rest des Urlaubs zur Mitarbeit anzubieten, wollte er sich die bösen Grillengeister aus seinem Körper hinausrudern. Er mietete an der Lände ein Boot für einen ganzen Tag, nahm an Proviant mit, was er brauchte und ruderte los, dem Seeufer entlang, mit dem festen Willen, sich über alles zu freuen, was ihm in den Weg käme. So lag ihm auch jetzt weniger daran, dem kleinen Attentäter nachzustellen, als vielmehr das durch einen kunstsinnigen und unternehmungslustigen Professor restaurierte Kloster zu besuchen, um sich an den farbenfreudigen Malereien und den kunstvollen Eisengittern zu erlaben, die von dem hinter dem Kloster sich türmenden Städtchen einladend zum See herabwinkten.

Eine wortgewandte Schaffnerin öffnete Emil, und mit dieser Alten ging er durch den dunkeln Kreuzgang, der einen verwilderten Garten umschloß, genoß überall das schöne gotische Maßwerk und fühlte die unendliche Lebensfreude der Menschen, die diese Gemächer geschaffen und oft ein ganzes Dasein darauf verwandten, um auf einem einzigen langen Deckenbalken köstliches Blattwerk in Rundschnitzerei entstehen zu lassen. Er freute sich der Mönche, die ihres Abtes Lieblingsaufenthalt mit wohlgerundeten Frauenbildnissen geschmückt, denen sie nur zum Schein Namen aus der altrömischen Geschichte gaben; aber die Schaffnerin redete so in einem fort von den alten Äbten des Klosters und den Rittern der umliegenden Schlösser, als sei sie mit allen gut befreundet, daß Emil, unwirsch über ihr Geplapper, sich wieder dem Ausgang zuführen ließ.

Als er wieder ins Schiffchen stieg, schaute er sich noch einmal nach dem kleinen Buben mit dem Lockenkopf um, aber der hatte sich gründlich in Sicherheit gebracht. Ein Stück weit hatte Emil gegen die Strömung des Seeausflusses zu kämpfen, aber gegen Mittag kam er in ruhiges Wasser, zog die Ruder ein und ließ sich, während er sein Mittagsmahl einnahm, ruhig auf der weiten Fläche treiben. Das viele Schöne, das er gesehen, und die körperliche Arbeit hatten ihn wieder froher gemacht. Nur die eine Sorge quälte ihn jetzt, er könnte sich unter den frischen Eindrücken des Schulparadieses, in das er morgen einziehen wollte, bestimmen lassen und ganz aus dem Staatsdienst austreten.

Emils Stellung zu den Landerziehungsheimen war eine eigentümliche. Er wußte, das waren die Stätten, wo der Kinderlenz zu blühen sich anschickte, den alle aus einem großen Herzen lebenden Erzieher von jeher ersehnt hatten; er wußte, daß Landerziehungsheime die Grabstätten des alten Dogmenplunders waren, mit dem die Taglöhner der Volkserziehung das knospende Leben der ihnen anvertrauten Buben und Mädchen zudeckten; er wußte, daß dort Knaben und Mädchen in straffer Zucht, aber unberührt in ihrer spröden Seelenschöne aufwachsen konnten zu harten, feurigen Jünglingen und herben, stillen Jungfrauen, die dem Land einst Kinder, wirkliche Kinder schenken könnten.

Alles das wußte Emil. Aber er war immer in allererster Reihe ein Mensch des Volkes. Er litt darunter, daß sich die besten der Lehrer in diese wenigen freien Erziehungsanstalten, wo nur die Söhne und die Töchter begüterter Eltern den Unterricht als eine Lust und nicht als eine Last erleben durften; er litt darunter, daß diese Kräfte den nicht wenigen jungen Menschen verloren gingen, die noch nicht abgestumpft und abgebrüht sich der an ihnen verübten Erziehung und Ausbildung nicht willenlos hingaben, sondern verzweifelt ausschauten nach einem, wenigstens einem Lehrer, an dem sie sich halten konnten und der sie hielt.

So war es auch ihm, Emil, einst gegangen.

In der Volksschule war es der Schwab, der flinke kleine Unterlehrer, der ihn hinaushob über die Qual der kehleeintrocknenden, endlosen Schulstunden inmitten von sechzig anderen Kindern. In den ersten Klassen des Gymnasiums war der Dewitz sein Stab und sein Trost. Das war ein ostpreußischer Lehramtspraktikant, über den die Klasse immer in zwei feindliche Lager gespalten war. Die einen lachten über den Dewitz wegen seines ostpreußischen Dialekts, und die anderen prügelten die ersteren, weil diese über ihren Lieblingslehrer nicht gelacht haben wollten. Dann hatte er ein halbes Jahrzehnt lang Spießruten laufen müssen an einer Reihe verstaubter Pedanten und würdeloser Plagegeister hin, bis er sich in der Prima bei dem »Alten« fast wie bei einem Vater geborgen fühlen konnte. Und auf der Universität endlich war der »alte Sokrates«, wie sie ihn hießen, der Weißherr, seiner Seele Former gewesen.

Emils Schiffchen lag mitten auf der blauen, von Sonnenschauern überleuchteten Flut. Die Ruder hingen wieder tief und untätig an den Bootsseiten und machten nur in ihren rostigen Haken ein leises, knarrendes Geräusch, wenn der Wind das Fahrzeug trieb.

Da überkam es ihn, was es doch für ein Großes sei, sich in der Menschen Herzen für ihr ganzes Leben so einschreiben zu können, wie es diese drei Lehrer, ohne es zu wissen, in seinem Herzen getan. Als ob die Helligkeit vom makellosen Himmel sich über ihn senkte, so brach es auf ihn herein, daß er das Reich, das er suchte, in Wirklichkeit verlassen hatte. Tätigsein und Wirken, das war's, was er brauchte. Das Leben, die Wahrheit und das Glück, die ließen sich nicht erdenken, nicht erträumen, nur erschaffen. Und er, Emil Himmelheber, konnte nun einmal nur schaffen und wirken unter der Jugend. Er war durchgebrannt, das Leben zu suchen, wo es doch rings um ihn herum in vielen Dutzenden von jungen Menschen nur darauf wartete, erschlossen zu werden. Er, der Herr Dr. phil. Emil Himmelheber, Privatdozent, war ein Esel gewesen, daß er vor lauter Bäumen den Wald nicht gesehen hatte und vor theologischer Kabinettspolitik und zitterigen Regierungsbedenken das Feld geräumt hatte.

In einem frohen Aufruhr stand er im heftig schwankenden Schiffchen auf, sandte wie über wiederentdecktes Land einen dreifachen Jauchzer in die glühende Sommerluft, und einige Fischer, die mit ihren schwarzen Kähnen auf dem Wasser lagen, schüttelten nachdenklich ihre bärtigen Köpfe über die sonderbaren Menschen, die es doch heutzutage auf der Welt gäbe.

Und während sich Emil von neuem fest ins Zeug legte und mit langen Ruderschlägen im steten kraftvollen Rhythmus sein Schifflein der immer näher rückenden langen Landungsbrücke des Dorfes zutrieb, sang sein immer freier werdendes Herz ein neues Lied von dem begnadeten Manne der unbegrenzten Möglichkeiten, das Lob- und Preislied von des Deutschen Reiches neuen Schulmeistern.

Noch drei Monate mußte er aushalten. Dann würde er sie wieder vor sich haben, seine Hörer, und zu ihnen reden von der Schönheit und Gewalt aller Dinge und der Reinheit und Kraft der Menschenseele. Und in seinen frischen Plänen dachte der Privatdozent Emil Himmelheber nicht im geringsten daran, daß er nicht ausgezogen war, um ein Königreich hoher Gedanken, sondern um sein Weib zu suchen.


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