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Zwanzigstes Kapitel

Es schien aber doch, als ob die Kirche nicht den Einfluß auf Herrn Purtaller hatte, den Frau Köpke sich von ihr versprochen hatte. Wenigstens ereignete sich eines Tages etwas, was darauf schließen ließ. Es war mittlerweile Winter geworden, viel Schnee war gefallen und ein leichter Frost herrschte. Da kam Herr Purtaller die breite Straße herunter, den Hut etwas im Nacken, ein Paket unterm Arm, das Kuverts enthielt, die er mit Adressen zu versehen hatte, und mit einem vergnügten Lächeln auf dem kleinen Gesicht.

Herr Purtaller hatte einen absonderlichen Gang. Er ging nicht wie andere Leute, sondern setzte beharrlich ein Bein über das andere. Zwei kleine Jungen, Krabben von fünf oder sechs Jahren, gingen hinter ihm her und bemühten sich, diesen Gang nachzuahmen. Die Leute blieben stehen und belustigten sich. Es sah auch zu drollig aus, wie die kleinen Racker genau die Bewegungen des Herrn Purtaller nachahmten. Bald gesellten sich ein paar größere Jungen dazu, sie bewarfen Herrn Purtaller mit Schnee. Andere Kinder kamen und es wurde ein Lachen und Johlen.

Herr Purtaller wandte sich um und sah verwundert das Gefolge, das nun stehen blieb.

»Kinder,« lallte Herr Purtaller, »Kinder –«

Er blieb im Anfang seiner Rede stecken, und Gelächter und erneutes Schneeballwerfen antwortete ihm.

Herr Purtaller war schon ganz weiß besternt, da kam Max Köpke mit ein paar Freunden des Weges. Kaum hatte er Herrn Purtaller erkannt, als er auch über die Straße stürzte und auf die schreienden Kinder zufuhr; die wichen vor dem großen Jungen mit der roten Gymnasiastenmütze eine Strecke zurück.

»Bande,« schrie Max. »Kommen Sie, Herr Purtaller, was machen Sie denn? Das geht doch nicht.«

Und er nahm Herrn Purtaller unterm Arm und entführte ihn seinen Verfolgern.

»Sien Vadder, dat's sien Vadder,« rief die Horde hinter ihm her.

Max war blutrot, als er so mit Herrn Purtaller durch die Straßen zog. O, wie schämte er sich.

Donna Donia, Donna Donia,
Don Rodrigos Herze blutet.

O, wenn sie jetzt Donia träfen! Wie sollten sie ungesehen ins Haus kommen!

Glücklicherweise war es Frieda, die ihnen öffnete. Mit einem Schrei fuhr sie zurück.

»Halten Sie doch das Maul,« zischte Max sie an.

»Na nu,« rief Frieda. Max war doch sonst nicht so grob. Aber sie begriff schnell und flüsterte:

»Gehen Sie nur rasch hinein, Madame ist in der Küche.«

Aber Herr Purtaller schien durch Friedas Flüstern gereizt zu sein.

»Sprechen Sie nur laut,« stotterte er, »Sie meinen wohl –«

Max schüttelte ihn am Arm und machte: Scht, Scht!

Aber Frau Köpke kam gerade aus der Küche, hörte Herrn Purtallers laute Stimme und fragte:

»Was ist denn los?«

»Ich – ich –,« lallte Herr Purtaller, »erlauben Sie mal – ich –«

»Donia, wo ist Donia?« rief Frau Köpke in ihrer Angst.

Donia war glücklicherweise nicht zu Hause, und Max und Frieda konnten Herrn Purtaller ungesehen die Treppe hinaufbringen.

Max bemühte sich, Herrn Purtaller seines Rockes zu entledigen. Aber es gelang ihm nicht, und er setzte den Alten in die Sofaecke und fragte, ob er ein Glas Wasser wolle. Und da Herr Purtaller nur unzusammenhängende Reden führte, ließ er ihn mit einem höchst mißbilligenden Blick allein.

Als Donia nach Hause kam, wollte man sie nicht zu Herrn Purtaller lassen.

»Dein Vater ist nicht wohl,« sagte Frau Köpke.

»Nicht wohl? Es ist doch nichts Schlimmes?« fragte Donia ängstlich.

»Es ist nicht gefährlich, er wird sich wieder erholen. Nur ein paar Stunden Ruhe.«

Donia war doch besorgt. Der Vater war nicht mehr jung. Warum waren denn alle so niedergeschlagen, wenn es nichts Schlimmes sei? Alle hatten sie so sonderbare Blicke, auch Frieda.

Als Herr Purtaller auch abends nicht erschien, konnte sie es nicht länger aushalten.

»Sagt es mir doch, bitte, bitte, nicht wahr, er ist krank, er ist sehr krank?«

Frau Köpke beruhigte sie.

»Ich sage ja, es ist nichts.«

Aber Frieda fühlte Mitleid mit Donias großer Angst und sagte treuherzig:

»Es ist wirklich nichts, Fräulein, Sie können sich wohl schon denken, was es ist. Aber das kann ja jedem mal passieren. Das kommt in den besten Familien vor.«

Einen Augenblick starrte Donia sie verständnislos an. Dann aber stieg ihr eine heiße Blutwelle ins Gesicht.

Das also war es! O diese Schande, diese Schmach! Daher alle diese sonderbaren Blicke.

Eine flammende Empörung stieg in ihr auf und sie ging zum Vater.

»Ist es wahr,« rief sie zitternd, »sag, ist es wahr?«

Herr Purtaller war nicht gewohnt, so von seiner Tochter angeschrien zu werden. Er war sehr kleinlaut, sein Schweigen gestand seine Schuld ein.

»Pfui, pfui,« rief Donia, »das tust du mir an? Schäm dich, schäm dich!«

Die Tränen wollten ihr aus den Augen stürzen, als Herr Purtaller mit einer theatralischen Geste aufsprang.

»Du sprichst zu deinem Vater. So spricht man nicht zu seinem Vater! Du vergißt dich! Du hast kein Recht, so zu sprechen.«

Und als Donia ihn überrascht ansah, steigerte er sich in eine künstliche Entrüstung hinein und sprach von seinem Elend, von seiner Verlassenheit, seiner Ausgestoßenheit.

»Wo wohnt dein alter Vater? Unterm Dach wohnt er. Während die feine Tochter in der Beletage lebt wie eine Prinzessin. Am Gnadenknochen muß ich nagen. Unter Kontrolle wie ein kleines Kind. Keinen Hausschlüssel, kein Glas Bier. Sonntags in die Kirche laufen, beten und singen. Scheinheilig tun. Wie ich diese ganze Fatzkerei belache! Aber lehre sie mich kennen, diese reichen Leute mit ihren Wohltaten!«

»Papa,« unterbrach ihn Donia hart, »du versündigst dich.«

»So, so, versündige ich mich? Natürlich versündige ich mich.«

Herr Purtaller stieß ein häßliches Lachen aus.

»Womit versündige ich mich? Daß ich solche Wohltaten annehme? Ganz recht, liebes Kind. Aber du versündigst dich mit und noch zehnmal mehr als ich.«

»Ich verstehe dich nicht,« sagte Donia, mit ihren Tränen kämpfend, »aber das ist ja alles Unsinn, was du sagst. Du meinst das ja gar nicht so.«

»Unsinn,« kreischte Herr Purtaller, der einen gelinden Wutanfall bekam, »Unsinn? Du wagst es, deinem Vater Unsinn vorzuwerfen? Mir, der ich fünf Jahre auf der Universität studiert, der ich auf der Kanzel gestanden, ein Theater geleitet habe, der ich, ich darf es sagen, Jahre hindurch mit meinem Wissen und Können dich und deine Mutter ernährt habe?«

Donia trat an ihn heran und legte ihre Hand auf seinen Arm.

»Papa, reg dich doch nicht so auf. So meine ich es ja gar nicht, beruhige dich doch.«

Aber er schleuderte ihre Hand mit einer heftigen Bewegung des Armes von sich.

»Ich will reden, ich muß reden, ich ersticke,« schrie er.

Donia aber trat totenblaß zurück, und mit einem ängstlich traurigen Blick auf den Tobenden verließ sie Herrn Purtaller.

In ihrem Zimmer brach sie zusammen.

»O, wie soll ich mich unten wieder sehen lassen,« jammerte sie. »Was wird Frau Köpke sagen. Wie kann ich noch in diesem Hause bleiben?«

Ihre Gedanken liefen durcheinander. Dabei sah sie immer den roten Geranienstock am Fenster des Vaters vor sich. So einen Geranienstock hatte die Mutter auch. Die Vergangenheit stand vor ihr auf. Das kleine Dachzimmer, wo die Mutter gestorben war. Die Zeit nach ihrem Tode. Der Vater trat mit einem Rausch in das Zimmer. Auf einmal tauchten Max, Herr Peters und Herr Mellini auf. Alle sahen sie an, und da war auch Hanna mit kalten höhnischen Blicken.

Donia schlug die Hände vors Gesicht.

Frieda klopfte an.

»Fräulein möchte zum Tee herunterkommen.«

Donia antwortete nicht. Was sollte sie auch antworten?

Frieda klopfte lauter.

»Fräulein, Fräulein!«

»Ja, ja,« hauchte Donia, und Frieda entfernte sich.

Aber Donia konnte sich nicht entschließen, hinunterzugehn. Da kam Frau Köpke selbst. Sie sah Donia weinend auf dem Bett sitzen und ahnte sogleich den Zusammenhang.

Sie faßte sie um und wollte sie emporheben. Aber Donias Scham widerstrebte.

»Mein Vater, mein Vater!« jammerte sie in sich hinein. »Frieda hat mir alles erzählt.«

»Die verdammte Deern,« schalt Frau Köpke, »die soll doch! Ich sag ja, da verlaß sich einer darauf. Dann bleib nur oben,« fuhr sie weich fort, »ich schicke dir eine Tasse Tee herauf und iß auch nur ein bißchen. Morgen sprechen wir in aller Ruhe darüber. Das ist alles nur halb so schlimm.«


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