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Elftes Kapitel

Herr Purtaller kam sehr ernst nach Hause. Doch bevor er etwas sagte, hing er Hut und Mantel mit einer gewissen feierlichen Würde an den Haken, wobei er wiederholt seine Tochter mit vielsagenden Blicken ansah. Dann trat er zu ihr, legte ihr seine beiden Hände auf die Schultern und sagte gütig ernst:

»Donia, heute entscheidet sich deine, entscheidet sich unsere Zukunft.«

Donia sah ihn verständnislos an.

»Ja, entscheidet sich,« wiederholte er mit Nachdruck. »Unser Schicksal soll sich nun wenden und zwar durch dich.«

»Durch mich?« fragte Donia erstaunt.

»Ja, durch dich!« versicherte Herr Purtaller und räusperte sich, ehe er fortfuhr.

»Du hast bisher so in Unschuld und Kindlichkeit dahingelebt, bescheiden und ohne Ansprüche, aber du bist im Besitz eines Schatzes, liebe Donia. Ich möchte deine kindliche Unbefangenheit nicht zerstören, aber ich muß es dir sagen, muß es dir heute sagen.«

Donia war sehr gespannt.

»Du singst, liebe Donia. Du singst hübsch! Ich habe dich immer gern gehört. Und oft schon drängte es mich –«

Herr Purtaller machte eine Pause und sah tiefsinnig nach oben, als überlegte er, was er weiter sagen sollte. Dann fuhr er fort:

»Kurz, meine liebe Donia, du hast eine gottbegnadete Stimme. Der Himmel hat dich gesegnet, mein Kind. Du hast eine goldene Kehle, eine gol–de–ne Kehle.«

Er trat einen Schritt zurück und sah sie triumphierend an.

»Ach Unsinn,« sagte Donia und lächelte ungläubig.

»Traust du deinem alten Vater kein Verständnis zu?« fragte Herr Purtaller. »Dir winkt eine Laufbahn, eine Entwicklung, liebes Kind. Du weißt, ich war nicht immer ein armer, stundenlaufender Privatlehrer. Die Kunst hat auch mich an ihrem Busen getragen.«

»Ich meine, du bist nur beim Schauspiel gewesen?« warf Donia ein.

»Ganz recht. Aber die Musen gehen Hand in Hand, liebes Kind. Eine Freundin deiner Mutter, Gott habe sie selig; deine Mutter meine ich, die Freundin lebt noch, ich will es wenigstens hoffen. Sie sang also, diese Freundin. Sie war Hofopernsängerin. Eine Königin in ihrem Fach. Wie hieß sie doch gleich – Senta Sansoni. – Ganz recht, Senta Sansoni. Das heißt, eigentlich hieß sie Piesemann, Lottchen Piesemann.«

Donia lächelte.

»Du lachst, Kind; sie hätte auch diesen Namen geadelt. Aber immerhin, Senta Sansoni war klangvoller als Lottchen Piesemann. – Übrigens Donia Purtaller klingt gar nicht übel. Oder vielleicht noch besser Sidonia Purtaller.«

»Ach Vater, laß doch das!«

Herr Purtaller sah sie strafend an.

»Ich spreche im Ernst, Sidonia. Es ist mein heiliger Wille, daß wir sehen, was an deiner Stimme ist. Ich werde zu ihm – wie heißt doch gleich der Klavierlehrer von Fräulein Hanna –«

»Du willst doch nicht zu Herrn Peters gehen!« fuhr Donia auf. »Das will ich nicht! Das sollst du nicht!«

»Versündige dich nicht an deinem alten Vater, Sidonia,« sagte Herr Purtaller eindringlich. »Es ist zudem Pflicht, an die Zukunft zu denken. Ich bin alt, ich bin gebrochen, zerschellt an den Klippen des Schicksals. Soll ich ewig die Sorge um dich –«

»Vater, so meine ich es ja nicht!« rief Donia. »Aber ich fürchte mich so. Wenn er mich auslacht.«

Herr Purtaller erklärte das für völlig ausgeschlossen, und Donia sah, daß es sein fester Wille war, zu Herrn Peters zu gehen. Wenigstens wußte sie, daß sie ihn heute abend nicht mehr davon abbringen würde. So ergab sie sich vorläufig.

In der Nacht aber konnte sie vor dem neuen Gedanken nicht schlafen. Ihr war nicht unbekannt, wie hohe Gagen erste Sängerinnen oft bezogen, wie glänzend ihre Zukunft sich gestalten könnte, wenn sie wirklich eine gottbegnadete Stimme hätte, wie der Vater sagte. Aber die Mutter sollte auch so talentvoll gewesen sein, eine – »gottbegnadete Künstlerin –« eine »phänomenale Maria Stuart« eine »herrlichste Julia«, eine »unvergleichliche Jungfrau«. Aber was war ihr Schicksal gewesen? Bitterstes Elend. Freilich nur die niedrigsten Kabalen neidischer Menschen waren schuld daran, wie der Vater sagte. Aber wer würde sie, Donia, vor solchen Kabalen schützen?

Doch je länger Donia es sich durch den Kopf gehen ließ, je mehr erwachte ihre Sehnsucht nach einem besseren, reicheren Leben, erwachte auch ihre Eitelkeit. Es könnte ja doch sein, daß es ihr glückte. Warum sollte der Vater nicht zu Herrn Peters gehen? Sie wollte nicht mehr dagegen sein.

– Ein paar Tage später ging Herr Purtaller zu Herrn Peters. Herr Peters wohnte in der Kirchstraße, in einem dunklen schmalen Hause, ganz im Schatten der Jakobikirche. Herr Purtaller gab seine Karte ab, und Herr Peters empfing ihn. Sie hatten sich nie gesehen, trotzdem sie in demselben Hause unterrichteten.

»Purtaller. Vater von Donia Purtaller. Sie erinnern sich gewiß.«

Herr Peters machte eine Verbeugung, zeigte aber deutlich, daß er von Donia Purtaller nichts wisse.

»Sie haben sie singen hören, bei Frau Köpke,« sagte Herr Purtaller. »Ich komme, Sie zu fragen, was Sie von ihrer Stimme halten.«

Herr Peters erinnerte sich nicht, Fräulein Purtaller singen gehört zu haben.

»Ich erinnere überhaupt nicht, je eine Dame bei Frau Köpke singen –«

»Keine Dame, keine Dame,« unterbrach ihn Herr Purtaller, »ein Kind, ein Mädchen, meine Tochter.«

»Was soll sie denn gesungen haben?« fragte Herr Peters.

»Lang, lang ist's her.«

»Lang, lang ist's her?«

»Ich meine doch,« sagte Herr Purtaller. »Vielleicht war es auch »Ein Schäfermädchen weidete«. Sie sollen grade hinzugekommen sein.«

Herr Peters lächelte und sah Herrn Purtaller so an, als hielte er ihn für nicht ganz klar im Kopfe. Aber auf einmal dämmerte es ihm.

»Ach,« rief er belustigt, »das meinen Sie! Das war also Ihre Tochter?«

Und Herr Peters beschrieb Donia mit ein paar flüchtigen Worten und machte ein paar Handgesten, die ihre Größe angeben sollten.

»Richtig! Richtig!« rief Herr Purtaller erfreut. »Die ist es, meine Tochter Donia!«

»Ja, lieber Herr Purtaller. Was soll ich Ihnen da sagen? Ein paar Töne hab ich grade aufgefangen. Ich kann nicht einmal sagen, von welchem Lied.«

»Aber diese Töne!« rief Herr Purtaller. »Was hielten Sie von diesen Tönen?«

Herr Peters wurde ein wenig ärgerlich. »Kinderstimme,« fagte er. »Ganz niedlich, so viel ich erinnere. Und was soll's?«

Herr Purtaller war enttäuscht.

»Nach Frau Köpkes Schilderung durfte ich annehmen, daß Sie sehr begeistert waren,« sagte er niedergeschlagen. »Ich dachte natürlich an Ausbilden. Das heißt, Frau Köpke dachte daran. Und nachher dachte ich auch daran. Und mein verehrter Herr Peters, ein klein wenig verstehe ich auch davon. Die Stimme ist gut, die Stimme ist sogar sehr gut, meine ich.«

»Mag sein,« sagte Herr Peters. »Aber ich kann doch nach drei Tönen kein Urteil haben; da muß ich Ihre Tochter doch erst mal wirklich singen hören.«

»Natürlich! Versteht sich!« rief Herr Purtaller eifrig. »Das müssen Sie und das sollen Sie auch. Sie muß Ihnen etwas vorsingen. Sie wird sich nicht weigern.«

»Ja aber, verehrter Herr – nun habe ich Ihren Namen vergessen –«

»Purtaller, wenn ich bitten darf.«

»Ja so, verzeihen Sie. Wissen Sie, Herr Purtaller, ich bin kein Gesanglehrer, ich befasse mich nicht damit.«

»Aber Sie sind doch Musiker. Sie haben doch ein Urteil. Ich habe keine Verbindungen. Zu wem soll ich gehen? Wenn Frau Köpke mir nicht von Ihnen gesprochen hätte –«

»Hat Frau Köpke Sie zu mir geschickt?«

»Ja, das heißt, gekommen bin ich aus eigenem Antrieb. Aber vielleicht sprechen Sie selbst einmal mit Frau Köpke. Frau Köpke ist entzückt von Donias Stimme. Eine so süße Stimme, sagte sie.«

Herr Peters hielt nicht viel von Frau Köpkes musikalischem Verständnis. Er willigte aber doch ein, Donia zu prüfen.

Herr Purtaller war glücklich. »Tausend Dank! Der Himmel vergelte es Ihnen, edler Mann! O, wenn Sie wüßten! Von Ihrer Entscheidung hängt alles ab, Donias ganze Zukunft, ihr ganzes Glück. Die Hoffnung eines zärtlichen Vaterherzens. Ja, ich kann es wohl sagen, eines zärtlichen Vaterherzens. Wenn man nur ein Kind hat, ein einziges, und sieht es im Schatten verkümmern, wo es vielleicht berufen ist, auf sonnigen Höhen zu wandeln – –«

Herr Peters lächelte ungläubig.

»O, Sie lachen, Sie wollen sagen – ich weiß, was Sie sagen wollen. Illusionen, wollen Sie sagen. Einer von tausend erreicht den goldenen Hafen. Sie haben recht. Ich habe ihn auch nicht erreicht. Auch ich ging einst, ein stürmischer Jüngling, die Wege des Ruhms. Ich war nämlich einige Zeit Theaterdirektor, müssen Sie wissen. Ich weiß, wie dornenvoll die Laufbahn eines Künstlers ist, alles weiß ich. Aber wenn es sich um das einzige Kind handelt –«

»Grade deswegen,« unterbrach Herr Peters den Redeschwall.

»Nicht wahr? Grade deswegen!« rief Herr Purtaller, der ihn falsch verstand. »Grade deswegen! Also Sie sind so gut!«

Herr Peters hatte den dringenden Wunsch, daß Herr Purtaller sich wieder entferne und sagte deshalb:

»Nun ja, also morgen, nein, übermorgen. Kommen Sie bitte zwischen elf und zwölf Uhr mit Ihrer Tochter zu mir.«

»Gott segne Sie! Unendlich verbunden!« rief Herr Purtaller, drückte Herrn Peters innig die Hand und ging mit vielen Verbeugungen rückwärts zur Tür hinaus.

»Himmel!« rief Herr Peters und griff sich mit beiden Händen an den Kopf. »Diese zärtlichen Väter!«


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