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Donia war das Herz schwer. Sie hatte den Vater wohl früher schon weinen sehen, aber so wie heute abend hatte sie ihn nie gesehen. Sie saß halb ausgekleidet auf dem Rand ihres Bettes und starrte in die kleine Flamme des Lichtstümpfchens; sie brannte sehr trübe, eine Schnuppe kohlte am Docht, und ein feiner, leiser Rauch stieg unruhig auf. Donia achtete dessen nicht. Ihre Gedanken waren zu weit weg. Sie waren in der armen, dürftigen Vergangenheit, und schweiften hinüber in die unbestimmte Zukunft: was sollte werden? Der Vater hatte so zuversichtlich gesagt, es müsse, es solle besser werden. Aber wie? Sie sah keinen Weg. So lange der Vater einiges verdiente, würde es ja gehen. Sie brauchten ja so wenig seit die Mutter tot war. Wenn sie sich nun auch um Arbeit bemühte, strickte oder nähte, wie es die Mutter früher getan hatte, als sie noch nicht bettlägerig war, dann müßte sie und der Vater doch ganz gut zusammen durchkommen können. Sie war ja noch so jung und es würde ihr schon glücken. Der Vater wollte freilich nichts davon wissen, wollte durchaus allein sorgen. Ach, sein Wollen war immer stärker als sein Können gewesen, und er wurde immer älter.
Das Licht flackerte zweimal auf, und sie nahm eine Haarnadel und reinigte den Docht. Ein Gähnen überkam sie. Es war Zeit zum Schlafen. Sie löschte das Licht und streckte sich aus. Im Dunklen sah sie immer die Flamme, in die sie zu lange hineingesehen. Die Augen fielen ihr zu, aber noch hinter den geschlossenen Lidern sah sie die kleine Flamme; sie wurde sogar größer und heller und bewegte sich auf sie zu. Sie nahm Gestalt an, die helle Flamme. Mutter! wollte Donia rufen. Aber es war nicht ihre Mutter. Sie hatte sich getäuscht. Es war ein lichtes, himmlisch schönes Wesen. Ein Engel? Es war mehr ein Fühlen und Empfinden, wie schön die Erscheinung war, als ein Sehen. Es war alles nur ein Licht, ein helles, reines, weißes Licht, überirdisch hell, und doch sanft und nicht blendend. Es floß wie die Falten eines weißen Gewandes, war wie das Fließen heller Locken, es hatte Gestalt und himmlische Züge und war doch wesenlos und unkenntlich. Und darum war ein strahlendes Blau, wie ein weiter, weiter Himmelsraum. Und nun schwebte das gestaltete Licht, oder die lichte Gestalt vor Donia her, und sie folgte, nicht wie unter einem unwiderstehlichen Zwang, sondern wie selbstverständlich, freiwillig. Und aus der weiten, lichten Bläue wurde eine schöne Landschaft: die war ganz erfüllt von dem reinen, klaren Licht, das nun nicht mehr ihr zur Seite, ihr voran schwebte, sondern überall war. Und sie ging mitten darin, allein, und doch nicht allein; ihr war so leicht und geborgen und behütet zu Sinn, wie es den ersten Menschen im Paradiese gewesen sein mochte, als sie eben rein und schön aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen waren und sich noch eins fühlten mit ihm, dem Schaffenden. Donia war nur von ihrem dünnen Hemdchen bekleidet, aber sie empfand keine Scham. Ihre bloßen Füße gingen über einen beblümten Teppich weiter Wiesen, als wäre sie immer barfuß gegangen. Ihr war nicht warm und nicht kalt. Ihr war, als wäre sie körperlos. Baum und Busch wichen ihr nicht aus, und doch waren sie ihr kein Hindernis. Die Dornen der Rosen rissen sie nicht, die Steine taten ihren Füßen nicht weh, und das Wasser netzte sie nicht. Lange hatte sie in diesem wesenlosen Schweben verharrt ohne eine Empfindung der Zeit, als sich in der paradiesischen Landschaft, die sie in immer reicherem Wechsel umgab, eine umbuschte Wiese auftat. Hier schwebten, statt der schimmernden Vögel und Falter, die sie bisher umspielten, reizende Engelsgestalten auf und nieder, und ein lieblicher Gesang ertönte: Melodien und Klänge, die sie nie vernommen hatte, viel schöner als die schönste irdische Musik. Vom Ende der Wiese her aber kam ihre Mutter auf sie zu. Sie trug das Kleid, in dem sie sie zuletzt noch auf dem Krankenlager gesehen hatte: ein tiefer Schrecken ging durch Donias Herz. Ihre Schritte beflügelten sich, und als sie mit ausgebreiteten Armen an der Mutter niederglitt, waren Wiese und Engel und die ganze paradiesische Landschaft verschwunden. Die Mutter lag in ihrem schmalen ärmlichen Bett, und die grauen Wände der elenden Dachwohnung umgaben sie. Am Fenster aber stand der Vater, die Geige unter dem Kinn, und sagte gebieterisch: »Singe, Donia.« Aber er spielte wunderliches, krauses Zeug, das sie nie von ihm gehört hatte, und sie konnte nicht singen, konnte keinen Ton aus der Kehle herausbringen. Und da sie nicht sang, kam er auf sie zu, unter seltsamen schwankenden Bewegungen, und verlangte, sie solle singen. Und da ihr die Kehle wie zugeschnürt war, wurde er zornig und schlug mit dem Violinbogen nach ihr, so daß sie vor Schreck und Angst erwachte. Es war ganz dunkel im Zimmer, und ihr war bange.
Als sie ein wenig gelegen hatte, mit geschlossenen Augen, aber wachen Ohren, hörte sie ein Klopfen an ihre Tür. Und dann hörte sie die Stimme ihres Vaters:
»Donia, wachst du?«
Sie zündete ihr Licht an und öffnete.
»Ich kann nicht schlafen,« jammerte Herr Purtaller und beleuchtete mit der erhobenen Lampe seine zitternde Tochter.
»Die Mutter war bei mir,« sagte er.
Donia erschrak.
»Mutter?« fragte sie entsetzt und ungläubig.
»Sie sitzt auf dem Rand meines Bettes. Immer wenn ich die Augen schließe, ist sie wieder da und sieht mich an, ohne zu sprechen.«
»Dir träumte, Vater,« sagte Donia mit ängstlicher Stimme. »Ich habe noch gar nicht geschlafen, Kind. Kein Auge habe ich zugetan,« sagte Herr Purtaller kläglich.
»Das glaubst du,« tröstete Donia. »Aber du wirst doch geschlafen haben.«
»Nein, nein,« unterbrach er sie heftig. »Ich werde doch wissen, ob ich geschlafen habe.«
Sie setzte ihr Licht weg und nahm ihm die Lampe aus der zitternden Hand, und sie gingen ins Wohnzimmer und setzten sich an den Tisch, sahen sich mit furchtsamen, fragenden Blicken an und froren in ihren dünnen Nachtkleidern.
»Mir hat auch von Mutter geträumt,« sagte Donia und erzählte ihren Traum.
»Wunderlich, höchst wunderlich!« sagte Herr Purtaller. »Aber dein Traum ist das Licht, das meinen erhellt. Nun verstehe ich den Besuch deiner stummen Mutter. O, jedes Wort, das sie ungesprochen gesagt, ich verstehe es jetzt. Es betrifft dich, Donia, es betrifft deine Zukunft.«
Und Herr Purtaller wurde ganz wach und lebhaft.
»Siehe, Donia, ich konnte nicht schlafen, weil ich an deine Zukunft dachte. Und da kam mir ein Gedanke, ein Gedanke, Donia; du hast heute abend so schön gesungen, ja, ja, ich verstehe auch etwas davon, du hast schön gesungen. Und da habe ich gedacht, wenn man aus dieser Stimme ein wenig Gold machen könnte, wie die Mutter es gekonnt hatte, als sie noch nicht krank war. Aber wie das machen? Wo soll ich das Geld hernehmen. Aber die Mutter soll nicht umsonst zu uns gekommen sein, Donia. Gewiß, sie kam, um meine Gedanken zu segnen, denn nun weiß ich, ich habe recht, nun ich auch deinen Traum gehört habe. Ich bin abergläubisch – ja, ich bin es.«
»Wollen wir nicht lieber wieder zu Bett gehen?« fagte Donia sanft; »du erkältest dich.«
Und sie zog ihr dünnes Jäckchen fester um sich.
»Ich werde nicht schlafen können. Aber wenn sie nicht wiederkommt, weiß ich, daß sie meinen Entschluß billigt.«
»Wir wollen es noch einmal beschlafen,« sagte Donia.
Sie nahm die Lampe, um den Vater wieder ins Schlafzimmer zu geleiten. Aber er irrte mit einem suchenden Blick durchs Zimmer, von Winkel zu Winkel, und blieb unsicher an dem kleinen Eckschrank hängen.
»Siehst du etwas?« fragte Donia.
»Mir ist so – wunderlich – so beklommen,« sagte er heiser.
»Ich fürchte, ich werde nicht schlafen können – – vielleicht –
wenn ich – – –«
Donia hatte ihn verstanden.
»Ich hole dir ein Glas Wasser,« sagte sie schnell und setzte die Lampe auf den Tisch.
»Nein, nein! Nicht Wasser!« rief er heftig. »Ach Kind, dein armer Vater braucht einen Schlaftrunk. – Diese jagenden Gedanken. – Diese Erscheinung, diese Gestalt!«
Er schlug die Hände vors Gesicht, als wollte er sich vor etwas Schrecklichem schützen.
Donia ging stumm an den Schrank. Er verfolgte sie mit gierigen Augen.
»Na ja, so ist es recht, Donchen, da unten rechts in der Ecke: ein Gläschen wird grade noch drin sein.«
Donia hielt die Flasche gegen das Licht: sie war noch viertel voll. Es war schlechter, billiger Rotwein, von dem er vor einiger Zeit welchen mit nach Hause gebracht hatte. Nur für den Magen, Donchen, hatte er gesagt. Und hatte drei Glas nacheinander getrunken, die halbe Flasche. Nur für den Magen. Donia hatte seitdem die Flasche unter Verschluß.
Jetzt schenkte sie ihm stumm ein Glas des sauren Weines ein. Er schien seiner wirklich zu bedürfen. Nach all den Aufregungen des Abends und der Nacht mochte sie ihm diesen Schlaftrunk nicht verwehren.
Gierig goß er den Wein hinunter. Als sie ihm mehr verweigerte, wurde er heftig.
»Der elende Rest! Soll er ganz sauer werden?«
Achselzuckend ließ sie ihn gewähren.
»Vielleicht schläfst du wirklich besser danach.«
»Ich hoffe es,« sagte er wehleidig. »Ich hoffe es, Donia, hoffe es. Ich danke dir, mein liebes Kind.«
Er küßte sie, und sie ertrug geduldig den Weindunst seines Mundes.
Nach einer Weile hörte sie ihn schnarchen, und die gurgelnden, näselnden Töne beruhigten sie. Sie selbst aber fand den Schlaf nicht. Ihre Gedanken waren unruhig. Ihr Traum beschäftigte sie und gewann in Verbindung mit dem Traum des Vaters erhöhte Deutung. Sie konnte sich nicht gleich in seinen Zukunftsplan hineinfinden. Sie wußte aber, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ er nicht leicht davon ab. Er würde seine Idee nicht fahren lassen, und er würde sie auf den Weg drängen, den er einmal gefunden zu haben meinte.
Donia sang gern, aber sie wußte nicht, daß ihre Stimme schön sei. Sie hatte ihre Mutter nur in den ersten Jahren ein paarmal singen hören und hatte sie im bunten Theaterflitter gesehen, und diese Pracht war ihr als etwas Herrliches erschienen. Aber nachher hatte ihre Mutter verächtlich von diesem bunten Elend gesprochen und gesungen hatte sie nie mehr; ihre Stimme sei dahin, hatte sie behauptet.
Aber Donia müßte nicht das Kind ihrer Eltern gewesen sein, wenn ihre Phantasie nicht einen verführerischen Schimmer um dieses neue Zukunftsbild gebreitet hätte. So lag sie noch lange wach, bis auch sie endlich der Schlaf übermannte.
Herr Purtaller sprach am andern Morgen nicht mehr von der Sache und Donia war froh darüber, denn im nüchternen Licht des Tages bekam alles ein ganz anderes Aussehen.
Herr Purtaller aber war keineswegs gesonnen, seinen Plan aufzugeben: er trug ihn vielmehr hätschelnd mit sich herum und ließ ihn immer festere Gestalt annehmen. Donia würde Gönner finden, Donia würde ausgebildet werden. Sie würde ein Stern am Musikhimmel werden. Geld würde kommen, würde herzuströmen. Man würde sich besser einrichten, moderner, eleganter. Sidonia Purtaller, es klang gut. Er sprach den Namen seiner Tochter mit Zärtlichkeit, mit Achtung, mit Bewunderung aus. Ja, er redete sie sogar zeitweilig so an: Sidonia. Und Donia wunderte sich. »Warum sagst du auf einmal immer so feierlich Sidonia?«
»Du wirst immer älter und größer, Kind; ich kann dich doch nicht immer noch Donchen nennen,« meinte er.
»Aber Donia,« sagte sie. »Sidonia klingt so geziert.«
Er überlegte. Donia Purtaller würde auch noch gut klingen, obgleich Sidonia Purtaller doch noch besser klang. Er hatte ein feines Ohr für so etwas. Der Tonfall macht es. Eine Silbe ist oft von unendlicher Bedeutung. Aber er sah ein, daß es noch Zeit hatte, sich darüber schlüssig zu werden, und beließ es vorläufig wieder bei Donia.