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Siebzehntes Kapitel

Donia besuchte häufig ihren Vater. Wenn sie von Herrn Mellini kam, machte sie jedesmal einen kleinen Umweg und ging zu Herrn Purtaller, der noch in der alten Straße, aber ein paar Häuser weiter, bei einer alten Witwe wohnte. Er hatte ein freundliches Zimmer und ein Schlafkabinett, bekam morgens sein Frühstück von der Wirtin und aß im übrigen im Speisehaus. Das gefiel ihm ungemein. Daß er nicht mehr für Donia zu sorgen hatte, war doch eine große Erleichterung. Wenn er sparsam lebte, konnte er mit dem Wenigen, was ihm seine Privatstunden abwarfen, auskommen. Da er nur nachmittags und nach der Schule zu unterrichten hatte, blieb ihm Zeit genug, durch Adressenschreiben und andere kleine Arbeiten sich ein paar Mark zu verdienen. Herr Purtaller fand den Wechsel der Verhältnisse ganz angenehm und vorteilhaft, zumal Donia ihn nicht vernachlässigte.

»Donchen verleugnet ihren alten Vater nicht, wird nicht hochmütig durch ihr Glück,« sagte er.

»Verleugnen?« fragte Donia. »Warum verleugnen? Sollte ich mich denn deiner schämen?«

»Du sollst es nicht, und du tust es nicht. Nein, gewiß nicht. Aber es gibt Kinder, die sich ihrer Eltern schämen. Und wenn du nun auf mich herabsehen würdest –«

»Du tust ja, als ob ich jetzt eine Prinzessin geworden wäre,« lachte Donia.

»So ein armer Adressenschreiber,« fuhr Herr Purtaller unbeirrt fort. »So ein alter durchgefallener Student, der sich im Alter sein Brot kümmerlich mit Stundengeben und Schreibereien verdienen muß.«

»Bist du durchgefallen als Student?« fragte Donia erstaunt.

»Nun, ich brauche so den Ausdruck,« sagte Herr Purtaller etwas verlegen. »Jedenfalls, mein liebes Kind, wenn alles so geglückt wäre, dein Vater wäre vielleicht heute Professor oder Konsistorialrat.«

Herr Purtaller lachte, und Donia wußte nicht, ob sie mitlachen oder ihn bedauern sollte. »Aber du hast es doch jetzt ganz gut,« sagte sie tröstend. »Wenigstens besser als sonst.«

»Teure Donia, ich klage auch nicht. Hast du deinen Vater überhaupt je klagen hören? Ich bin völlig zufrieden mit meiner jetzigen Lage, leb ich doch nur für dich und dein Glück.«

Donia war gerührt und beruhigt.

»Und wie gemütlich du es hier hast,« sagte sie und sah sich um. »Und dann nur eine Treppe hoch.«

»Ja, ich wohne fürstlich, Kind; keine Dachwohnung mehr.«

Mit besonderer Befriedigung nahm Donia wahr, daß ihr Vater jetzt immer einen Kragen um hatte, wenn sie kam.

»Trägst du dein altes Tuch nicht mehr?« fragte sie, um ihm zu zeigen, daß sie es bemerkte.

Herr Purtaller griff sich an den Hals in alter Gewohnheit.

»Ach so, das Tuch. Nein, Kind. Frau Sedewisch ist so gut und sorgt für meine Wäsche; das ginge so in Einem mit hin, sagt sie. Na, und dann erste Etage, da kann man doch nicht –«

Herr Purtaller lachte über seinen Scherz, und Donia schämte sich ein wenig; sie hätte früher besser aufpassen sollen, daß der Vater mehr auf sich hielt.

Eine Frau ist doch etwas ganz anderes, dachte sie. Wie gut, daß der Vater jetzt Frau Sedewisch hat.

Ja, es war gut für Herrn Purtaller, daß er Frau Sedewisch hatte, und es war gut für ihn, daß er nun erste Etage wohnte. Und daß Donia auf so gutem Wege war. Und daß er nun in einem Speisehause essen konnte, wo alle Herren einen weißen Kragen um hatten. Das alles gab seinem ganzen Menschen einen inneren Ruck. Herr Purtaller fühlte sich gesellschaftlich gehoben.

Einmal in vierzehn Tagen durfte er auch zu Frau Köpke kommen und Donia besuchen. Es war ein fester Abend, an dem er jedesmal zum Abendbrot erschien und immer ein paar Blumen mitbrachte, die er Frau Köpke mit feierlicher Würde überreichte. Ein Zeichen unwandelbarer Dankbarkeit.

Donia wurde jedesmal rot, denn es war ein gar mageres Sträußchen, das der Vater zu überreichen pflegte, da aber Frau Köpke tat, als sei sie hocherfreut, gab auch Donia sich zufrieden und errötete nicht mehr.

Herr Purtaller war an diesen Abenden von gewinnender Liebenswürdigkeit. Er erzählte aus seiner Kanzelzeit und von seinen Theatertagen. Frau Köpke hörte ihn am liebsten vom Theater erzählen, meinte aber dann mit Rücksicht auf die Kinder, daß es doch nicht immer das geeignete Thema sei und führte oft das Gespräch auf das Geistliche hinüber.

Herr Purtaller lebte an diesen Abenden wirklich auf. Und Donia war verwundert über ihren Vater und freute sich. Nur Hanna und Max stellten manchmal Vergleiche an zwischen dem Herrn Purtaller der Privatstunden und dem Herrn Purtaller am Teetisch. Sie fanden beide eigentlich sehr komisch.

Punkt zehn Uhr empfahl sich Herr Purtaller gewöhnlich. Frau Köpke sorgte für die Pünktlichkeit, indem sie ganz unbefangen ein paar bedeutungsvolle Blicke auf die Uhr warf; sie liebte es nicht, bis in die Nacht aufzusitzen, obgleich der Besuch ganz unterhaltsam war.

»Herr Purtaller ist eigentlich ein ganz interessanter Mensch. Was weiß der Mann nicht alles?« –

Ein halbes Jahr verstrich auf diese Weise zu aller Zufriedenheit. Dann aber ging eine Wandlung in Herrn Purtaller vor. Es fing damit an, daß Donia ihn manchmal nicht zu Hause traf.

»Der Herr Kandidat ist ausgegangen,« sagte Frau Sedewisch.

»Wohin?« fragte Donia.

Frau Sedewisch konnte keine Auskunft geben.

Aber einmal bat sie Donia in ihr Zimmer und sagte: »Sagen Sie mal, Fräulein, was ist es eigentlich mit Ihrem Herrn Vater? Ich habe schon seit zwei Monaten keine Miete bekommen.«

Donia erschrak.

»Seit zwei Monaten? Ja, das weiß ich nicht. Ich will es ihm sagen, er hat es gewiß nur vergessen.«

»Vergessen? Nein, vergessen kann er das nicht. Ich erinnere ihn doch immer daran.«

Herr Purtaller trug die Folgen seiner gesellschaftlichen Erhöhung. Die erste Etage, das besser zubereitete Essen, alles gab ihm ein äußeres Ansehen, das seinen Kredit erhöhte. Herr Purtaller machte jetzt im Speisehause nach dem Essen regelmäßig ein Spielchen, nur einen kleinen Skat. Um Pfennige, um eine Tasse Kaffee. Wie wohl ihm das tat, einmal Mensch mit Mensch sein zu dürfen, wie er sich ausdrückte. Den kleinen, unschuldigen Freuden des Daseins bescheiden huldigen zu dürfen. Einen Kognak zum Kaffee trinken viele. Warum sollte Herr Purtaller das nicht auch tun? Für alte Leute hat der Kognak etwas Wohltuendes, geradezu der Gesundheit Dienliches.

Ein Geistesarbeiter – so durfte er sich doch wohl bescheiden nennen – bedarf solcher kleinen Reizmittel, die ermüdeten Lebensgeister wieder zu ermuntern. Kann ein Mann seiner Bildung, seines Berufs ein Leben ohne geistige Anregung, ohne ein gebildetes Gespräch aushalten, ohne zu verbummeln, zu vertrocknen? Herr Purtaller konnte diese Unterhaltung im Speisehaus nicht entbehren.

Da war Herr Sachse, seines Zeichens Reisender für das Weinhaus Wagner Söhne, ein weitgereister, witziger Mann. Da war Herr Postsekretär Kimmerle und da war Herr Registrator Bürstenbinder, zwei vortreffliche Beamte, und da war Herr Doktor Mendel, der Tierarzt, der mehr wußte, als mancher Menschendoktor und der mit seinem tiefen Baß die ganze Tafelrunde beherrschte. Lauter gebildete Leute, die ein politisches Urteil hatten, Skatspielen konnten und Herrn Purtaller immer mit »Herr Kandidat« anredeten. Wie wohl das tat! War es zu verwundern, daß Herr Purtaller auch am Abend einmal das Bedürfnis fühlte, die Gesellschaft dieser Herren aufzusuchen? Abends grade, wo seine Donia ihm fehlte und er sich so einsam fühlte? Und sparte er nicht Licht und Heizung, wenn er ins Wirtshaus ging?

Herr Purtaller rechnete und fand, daß es keine Verschwendung sei, an jedem Abend seine Zeitung im »Goldenen Engel« zu lesen und ein Glas Bier dazu zu trinken.

Der Wirt war ein gefälliger Mann. Alle Herren hatten Kredit. Auch Herr Purtaller. Herr Purtaller war ja Stammgast.

Eines Abends gab es eine bescheidene Festlichkeit im »Goldenen Engel«: Herr Postsekretär Kimmerle feierte seinen Geburtstag.

Unglücklicherweise war es der Abend, wo Herr Purtaller hätte bei Frau Köpke sein müssen. Aber er gab seinem Vaterherzen einen Stoß und entschied sich für Herrn Kimmerle. Wie gerne hätte er seine Donia gesehen, aber solche Opfer sind nicht immer zu umgehen. Um so mehr erzählte er im Kreise der Stammgäste von seiner Donia.

»Ein Talent, meine Herren. Es klingt komisch, wenn ein Vater das von seiner Tochter sagt, aber in aller Bescheidenheit, Herr Mellini – Sie wissen, der berühmte Herr Professor Mellini –«

»Soll sie denn zum Theater?« fragte Herr Sachse.

»Mal sehn, mal sehn,« sagte Herr Purtaller wichtig.

»Unsicheres Pflaster,« meinte Herr Kimmerle.

»Aber hier –« sagte Herr Bürstenbinder und machte die Bewegung des Geldzählens.

»Ja, wenn sie etwas kann,« meinte Herr Kimmerle, »sonst ist es nur ein buntes Elend.«

Herr Purtaller tat einen tiefen Zug, sah in sein Glas und lächelte geheimnisvoll, als wollte er sagen: abwarten, abwarten, meine Herren; Sie werden schon Ihr Wunder erleben.


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