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Sag mir das Wort, das so gern ich gehört,
Lang, lang ist's her, lang ist's her.
Den ganzen Abend erklang in der Purtallerschen Dachwohnung Musik. Es war ein schöner, warmer Sommerabend. Die Fenster standen offen, und Donias süße Stimme und Herrn Purtallers kümmerliches Geigenspiel klangen auf die stille Straße hinaus.
Donia mußte alle Lieder singen, deren sie sich noch erinnerte. Herr Purtaller war nicht immer zufrieden.
»Die ›Letzte Rose‹ hast du sonst besser gesungen,« sagte er. »Wollen wir es nicht noch einmal machen, Donia?«
Donia gab zu, daß sie es oft vielleicht besser gesungen hätte, und sie wiederholte willig das Lied, das Herr Purtaller mit Aufbietung seiner ganzen Gefühlsinnigkeit begleitete.
Auf einmal fiel ihm ein, daß Donia vielleicht ihre Stimme überanstrengen könne.
»Wir wollen lieber aufhören, Donchen, du mußt dich für morgen schonen. Trinke ein Glas Zuckerwasser.«
Donia meinte, es sei nicht nötig, aber Herr Purtaller drang darauf, und Donia ging in die Küche.
»Aber warm, Donchen! Warm! Um Gottes willen kein kaltes Wasser.«
Das Wasser in der Leitung war lauwarm. Sie suchte nach Zucker. Es waren nur noch drei Stückchen da; die wollte sie für den Vater lassen. Sie rührte eifrig mit dem Löffel in dem ungesüßten Wasser, um ihn zu täuschen, nippte einen Schluck und goß den Rest weg.
»Das ist recht,« sagte Herr Purtaller, als sie wieder in das Wohnzimmer kam. »Deine Stimme muß jetzt dein Alles sein, Kind. Du kannst nicht vorsichtig, nicht sorglich genug sein.«
Donia lächelte.
»Jetzt wollen wir doch erst hören, was Herr Peters morgen sagt,« meinte sie. – –
Am nächsten Tag zur bestimmten Stunde ging Herr Purtaller mit Donia zu Herrn Peters. Herr Purtaller war sehr siegesgewiß. Man sah ihm diese Zuversicht und den Stolz auf seine Tochter an.
»Du bist doch nicht ängstlich, Donchen?« fragte er aufmunternd.
»Gar nicht!« versicherte Donia, obgleich sie wenig Mut hatte. Sie fürchtete sich etwas vor Herrn Peters. Er hatte sie damals so eigentümlich angesehen, und sie wußte von Hanna, daß er manchmal sehr scharf sein konnte.
Als sie nun in die Nähe der Kirche kamen, wurde sie noch zaghafter, und als sie vor der altmodischen grünen Haustür des schmalen dunklen Hauses stand, in dem Herr Peters wohnte, mußte sie ein paarmal tief atmen, so schwer wurde ihr plötzlich das Herz.
Und jetzt schrillte die Glocke, schrillte entsetzlich laut, zeterte förmlich. –
Herr Peters hatte selbst geöffnet und seinen Besuch ins Zimmer geführt. Er war sehr freundlich gewesen, hatte sie mit wohlwollendem Lächeln begrüßt und beiden die Hand gegeben. Ja, er hatte Donias Hand eine ganze Weile festgehalten, während er sagte: »Das ist also die kleine Sängerin? Oder eigentlich die große. Das kleine Fräulein ist eigentlich schon ein recht großes Fräulein.«
Und dann hatte er ihre Hand losgelassen und sie zum Sitzen genötigt.
»Sie wollen also Sängerin werden, liebes Fräulein?«
Donia errötete.
»Papa meint – meine Stimme – –«
Herr Purtaller setzte zu einem Wortschwall an, aber Herr Peters unterbrach ihn rechtzeitig.
»Jawohl, jawohl, Sie sagten mir schon. Wir können ja gleich einmal sehen.«
Er ging an das Klavier.
»Was wollen wir denn nun zuerst singen?« fragte er freundlich, indem er sich mit einem Ruck auf dem Drehsessel zu Donia umwandte. »Na, kommen Sie mal ein bißchen näher. So, da stellen Sie sich mal ein bißchen hin. Und nun, was soll ich spielen?«
Herr Purtaller rückte auf seinem Stuhl hin und her. Er schien hier Nebenperson sein zu sollen.
Donia sah ihn hilflos an. Herr Purtaller wollte ihr raten, aber wieder kam Herr Peters ihm zuvor.
»Na, singen Sie mal dasselbe Lied, das Sie damals bei Frau Köpke sangen, als ich Sie überraschte.«
»Ein Schäfermädchen weidete,« sagte sie verlegen.
»Gut, lassen Sie also das Schäfermädchen mal weiden.«
Herr Peters begann zu spielen, und Donia fiel mit zitternder Stimme ein. Als sie geendet, brummte Herr Peters etwas in den Bart und nickte mit dem Kopf.
»Nur nicht ängstlich, liebes Kind.«
»Nicht ängstlich, Donchen, nicht ängstlich!« ermahnte Herr Purtaller. »Wir sind ja ganz unter uns. Sing doch mal: Lang, lang ist's her.«
Und Donia sang das alte, liebe Lied. Sie sang es noch ein wenig zittrig, doch das schadete diesem Liede nicht. Ihre süße Stimme füllte sich mit heimlichen Tränen. Sie sang alle drei Verse und sang immer sicherer und inniger.
Aber wie begleitete Herr Peters sie auch! Das war anders anzuhören, als das Gekratze des Vaters und das Gestümper Hannas. Herr Purtaller saß ganz still auf seinem Stuhl, das Kinn auf die Brust gesenkt.
Als Donia geendet, begann Herr Peters ganz verloren das Lied noch einmal, brach aber dann plötzlich ab.
»Die Stimme ist ganz hübsch,« sagte er. »Ob sie so bleiben wird? Es kommt auf die Schulung an. Wie ist es mit den Skalen?«
»Womit?« fragte Donia verlegen.
»Mit den Tonleitern. Singen Sie mal C-Dur.«
Aber Donia wußte nichts von C-Dur und von den Tonleitern. Sie sang lediglich nach, was Herr Peters ihr vorspielte, doch schien er zufrieden zu sein.
»Noch ein paar Treffübungen,« sagte er.
Donia war selbst erstaunt, wie gut sie es traf, und Herr Purtaller saß mit offenem Munde da und wandte keinen Blick von seiner Tochter.
»Ja,« sagte Herr Peters, »Stimme und Gehör sind da, ich kann nicht abraten. Wie denken Sie sich nun die Sache? Ich selbst gebe natürlich keinen Gesangunterricht.«
Donia sah ihren Vater, und Herr Purtaller seine Tochter an.
»Guter Unterricht muß es natürlich sein,« sagte Herr Peters. »Ja, guter Unterricht muß es sein,« wiederholte Herr Purtaller.
»Ich würde Ihnen raten, zu Herrn Mellini zu gehen,« sagte Herr Peters.
»Zu Herrn Mellini,« wiederholte Herr Purtaller mit achtungsvoller Betonung.
»Kennen Sie Herrn Mellini?« fragte Herr Peters.
»Nein,« gestand Herr Purtaller. »Ich kenne Herrn Mellini nicht. Aber ich fürchte, er wird zu teuer sein.«
Herr Peters zuckte die Achseln.
»So viel ich weiß, nimmt er fünf Mark für die Stunde.«
Herr Purtaller knickte zusammen, und Donia wurde blutrot.
»Vielleicht tut er es ja etwas billiger,« meinte Herr Peters.
»Ja, vielleicht tut er es etwas billiger,« sprach Herr Purtaller tonlos nach.
»Das müssen Sie sich überhaupt sagen, daß so ein Studium nicht nur viel Fleiß und Arbeit kostet, sondern auch viel Geld,« sagte Herr Peters.
»Und Sie wissen nicht vielleicht einen billigeren Lehrer, der für den Anfang gut genug ist?« warf Herr Purtaller ein.
Herr Peters lachte belustigt auf. »Für den Anfang gut genug!« rief er. »Grade für den Anfang braucht man die besten Lehrer. Wo kein guter Grund gelegt ist, kann auch nicht gut gebaut werden. Das ist immer die Meinung der Leute, daß für den Anfang –«
Herr Purtaller machte eine abwehrende Bewegung. »Gewiß, gewiß! Sie haben ganz recht. Ich bin ja selbst Lehrer. Ich – aber – ach Gott! Als Privatlehrer, was verdient man da? Und nun so ein teures Studium!« Und er klagte in beweglichen Tönen, klagte, daß er nichts für seine Tochter tun könne, daß das gottbegnadete Talent nun verkümmern müsse, weil ihr Vater es nicht verstanden habe, Reichtümer zu sammeln. Donia saß dabei und hätte in die Erde sinken mögen.
Als Herr Peters zu Wort kam, versprach er, mit Herrn Mellini reden zu wollen. Herr Mellini wäre ein guter Freund von ihm. Herr Purtaller erhob sich sofort aus den Tiefen seiner Klagen zur Höhe der Hoffnungsfreudigkeit. »Edler Mann!« rief er stürmisch. »Wir würden Ihnen das nie vergessen! Nicht wahr, Donia? Nie vergessen!«
»Nein,« hauchte Donia und reichte in ihrem Gefühl des Dankes Herrn Peters scheu die Hand.
Herr Peters ergriff ihre Hand und schüttelte sie kräftig.
»Ich will sehen, was ich tun kann, liebes Fräulein,« sagte er, ohne auf Herrn Purtallers Tiraden zu achten. »Ich werde Herrn Mellini in diesen Tagen sehen und dann mit ihm sprechen. Also noch eine kurze Zeit Geduld. Wenn nicht, müssen wir andren Rat schaffen.«
»Was er für gute Augen hat,« dachte Donia, als ihre Hand in der seinen lag und sie halb verschämt, halb froh zu ihm aufblickte.
»Ich danke Ihnen,« sagte sie leise.
Herr Peters geleitete seinen Besuch an die Tür. Wieder schellte die Glocke, aber diesmal lange nicht so schrill und erschreckend, sondern nur laut und lustig, und Herr Purtaller und Donia befanden sich wieder auf der Straße.
Donias Wangen brannten, und ihre Augen leuchteten, als sie neben ihrem Vater leichter dahinschritt als vorher. Herr Purtaller aber strahlte vor Siegeszuversicht.
»Donia, dieser Tag! Ich werde ihn nie vergessen!« sagte er. »Er ist ein Schicksalstag. Du wirst glücklich werden. Du wirst goldenen Tagen entgegengehen. Ich habe es immer gesagt, immer, schon zu deiner Mutter: Donias Stimme ist ein Schatz!«
So begeisterte sich Herr Purtaller. Am Abend mußte Donia wieder eine Stunde mit dem Tee auf ihn warten, und als er endlich kam, roch er nach Rotwein.