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Eines Tages erschien Frau Sedewisch bei Frau Köpke. Sie war ebenso groß und breit wie diese und gab sich sehr würdevoll.
»Frau Registrator Sedewisch,« sagte sie. »Nicht wahr, Sie sind die Tante von Fräulein Purtaller?«
»Die Tante nun grade nicht,« sagte Frau Köpke. »Aber womit kann ich dienen?«
»Sie sind nicht die Tante? So,« sagte Frau Sedewisch und dehnte das So in das Unendliche. »Sie sind nicht die Tante? Herr Purtaller sagte mir doch, Sie seien seine Schwägerin.«
Frau Köpke war empört, gekränkt. Wie konnte Herr Purtaller so etwas sagen! Aber sie beherrschte sich und sagte: »Das ist ja auch einerlei. Seine Tochter wohnt bei mir. Was wünschen Sie?«
»Ja, sehen Sie, das ist nun so eine Sache. Herr Purtaller – die Tochter ist doch nicht etwa in der Nähe?«
Frau Sedewisch sah sich um.
»Nein, Donia ist nicht zu Hause,« erklärte Frau Köpke.
»Schön,« sagte Frau Sedewisch. »Da brauch ich ja kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Sagen Sie mal, was sind das eigentlich für Leute, die Purtallers?«
»Kommt Herr Purtaller seinen Verpflichtungen nicht nach?« fragte Frau Köpke kühl.
»Das ist es ja! Das tut er nicht! Gar nicht tut er das. Seit vier Monaten hält er mich hin, und wo bleibt das Geld, frage ich Sie. Er verdient doch.«
Frau Köpke zuckte die Achseln. Was wußte sie, wo Herr Purtaller mit seinem Gelde blieb.
»Ich will es Ihnen sagen, wo er damit bleibt,« sagte Frau Sedewisch triumphierend. »Ins Wirtshaus bringt er es. Und dann kommt er abends voll nach Hause.«
Was für eine Ausdrucksweise, dachte Frau Köpke und machte ein mißbilligendes Gesicht.
»Er ist vielleicht einmal etwas vergnügt gewesen,« sagte sie entschuldigend.
Frau Sedewisch lächelte überlegen.
»Meinen Sie? Na, ich nenne das anders. Und wissen Sie – ich bin eine alleinstehende Frau, und was denken die Leute? Ich muß auf mein Renommee achten, und vor allem muß ich mein Geld haben.«
»Wieviel bekommen Sie denn?« fragte Frau Köpke.
»Vierzig Mark sind es nun schon. Ich bin eine alleinstehende Frau, und das ist keine Kleinigkeit für mich.«
»Sie werden Ihr Geld schon bekommen, liebe Frau,« sagte Frau Köpke. »Ich bürge dafür. Gehen Sie nur ruhig wieder nach Hause, ich stehe für die Miete ein.«
»Ja, das ist etwas anderes. Wenn ich das gewußt hätte, Frau Köpke. Ich bin ja nicht so, daß ich die Leute absolut drängele. Aber Sie wissen ja, Geld braucht man immer, und ich wollte nur mal zufragen. Sehen Sie, man weiß ja von nichts. Na, denn kann ich es Ihrem Herrn Schwager ja sagen.«
Frau Köpke ärgerte sich über den Schwager, nahm aber im Grunde der Frau nicht übel, daß sie zu ihr gekommen war. Was sollte sie machen? Aber Donias wegen war ihr die Sache doch schrecklich unangenehm. Und wie sollte das enden? Sie hatte auch kein Geld, für Herrn Purtaller einfach die Miete zu bezahlen. Und dann machte sie sich Vorwürfe, daß sie Donia von dem Vater weggenommen hatte; sie hatte doch am Ende guten Einfluß auf ihn gehabt. Oder ob er früher auch wohl manchmal so nach Hause gekommen war, so – sie mochte auch in Gedanken den Ausdruck der Frau Sedewisch nicht wiederholen. Die arme Donia! Sie hatte das Kind wirklich liebgewonnen. Wie kam das Kind zu solchem Vater?
Frau Köpke hatte ein paar schlaflose Nächte davon. Gut war es, daß Frau Sedewisch sich nicht an Donia gewandt hatte. So viel Zartgefühl hatte sie also doch gehabt. Natürlich, wenn Herr Purtaller sich für ihren Schwager ausgegeben hatte, lag es nahe, daß Frau Sedewisch gleich zu ihr gekommen war.
Diese Unverschämtheit von Herrn Purtaller! Aber der Mann hatte schon allen moralischen Halt verloren. Frau Köpke sah ihn schon ganz unter die Füße kommen.
Je mehr sie darüber nachdachte, je mehr fühlte sie sich mitschuldig, weil sie Donia von ihm getrennt hatte; aber sie ihm wiederzugeben war unmöglich. Vielleicht, wenn sie mit Donia spräche, und Donia bewußt ihren Einfluß auf den Vater ausübe?
Donia kam strahlend nach Hause. Herr Mellini hatte sie gelobt und hatte ihr zum erstenmal eine Arie zu studieren gegeben. Agathes Arie aus dem »Freischütz«: »Und ob die Wolke sie verhülle«.
Sie hatte sich die Noten gleich mitgebracht und ging sofort an das Klavier und ließ ihre helle Stimme erklingen.
Nein, Frau Köpke konnte unmöglich mit Donia sprechen. Wie sollte sie es nur machen?
Aber zwei Tage später kam Donia blaß und zitternd heim, ging gleich auf ihr Zimmer, und Frau Köpke fand sie dort in Tränen aufgelöst.
Donia war bei ihrem Vater gewesen und hatte ihn in jenem Zustande angetroffen, den Frau Sedewisch anders benannte als Frau Köpke.
»So ist er nun oft,« hatte Frau Sedewisch der erschrockenen Donia gesagt.
Frau Köpke hatte anfangs nichts aus Donia herausbekommen können. Aber als sie hörte, wo sie gewesen war, ahnte sie, um was es sich handelte, und erfuhr durch vorsichtige Fragen die Wahrheit.
»Armes Kind,« sagte sie, »dein Vater bedarf der Stütze.«
»Ich hätte gar nicht von ihm gehen sollen,« schluchzte Donia. »Es war schlecht von mir, ihn allein zu lassen.«
»Du kannst nichts dafür,« sagte Frau Köpke. »Das darfst du nicht sagen.«
»Doch, doch!« rief Donia. »Ich will wieder zu ihm zurück. Ich muß. Ach, bitte bitte, laß mich!«
Donia streckte flehend die Hände aus.
»Beruhige dich, liebes Kind,« sagte Frau Köpke. »Sieh mal, wenn dein Vater nun zu uns ins Haus käme, was meinst du dazu?«
Diese Aussicht kam Donia so unerwartet, daß sie zuerst kein Wort fand, sondern Frau Köpke nur verständnislos anstarrte.
»Wäre dir das recht?« fragte Frau Köpke.
»Mutter, liebe Mutter!« rief Donia und machte Miene, Frau Köpke um den Hals zu fallen. Aber sie war so überwältigt, daß sie auf ihr Bett zurücksank und in ein heftiges Schluchzen ausbrach.
Es war das erstemal, daß Donia sie Mutter genannt hatte. Frau Köpke war sehr gerührt.
»Weine dich nur tüchtig aus,« sagte sie, »und dann überlege es dir.«
Sie küßte sie leicht auf den Scheitel und ließ sie allein.
Bei Frau Köpke stand es nun fest, daß sie Donias Vater ins Haus nehmen wollte. Eine Dachstube war schon freizumachen. Er mußte sich natürlich begnügen. Sie sprach mit Herrn Peters darüber. Mit irgend einer männlichen Person mußte sie darüber sprechen, die Verantwortung war doch zu groß.
Herr Peters riet entschieden ab und schlug ein Trinkerasyl vor.
»Nein, pfui,« sagte Frau Köpke.
Herr Peters zuckte die Achseln.
»Oder irgend eine andere Anstalt. Aber nicht ins Haus. Schon der Tochter wegen.«
»Grade. Vor der Tochter wird er sich schon in acht nehmen, da schämt er sich.«
»Was sagt denn Fräulein Purtaller dazu?« meinte Herr Peters, der sonst immer Fräulein Donia gesagt hatte, und jetzt rot wurde, als er Fräulein Purtaller sagte.
»Die arme Donia,« sagte Frau Köpke. »Sie ist damit einverstanden. Ich glaube, sie freut sich auch ein bißchen. Es ist doch immer ihr Vater.«
»Ja, sie kann einem leid tun,« sagte Herr Peters.
»So ein gutes, liebes Mädchen,« sagte Frau Köpke.
»Sie hat etwas ungemein Sympathisches,« versicherte Herr Peters enthusiastisch.
Obgleich Herr Peters nicht grade zugeraten hatte, fühlte sich Frau Köpke doch in ihrem Vorhaben durch diese Unterredung bestärkt.
»Ich gehe morgen zu deinem Vater, Donia, und spreche mit ihm,« sagte sie.
»Wenn Papa es nur tut,« meinte Donia schüchtern. – Herr Purtaller saß in Hemdärmeln am Tisch und schrieb Adressen, als Frau Köpke ihm gemeldet wurde. Er hatte es sich bequem gemacht und hatte nicht einmal einen Kragen um. Er riß schnell den alten grauen Wollschal, der in der Sofaecke lag, an sich, schlang ihn sich um seinen mageren Hals und hastete in seinen Rock.
»Guten Tag, Herr Purtaller,« sagte Frau Köpke. »Ich muß Sie notwendig sprechen.«
Herr Purtaller sah gleich, daß etwas Ernstes sie zu ihm führte.
»Es ist doch nichts passiert?« fragte er ängstlich.
»Nein, Donia geht es gut,« sagte Frau Köpke, »ich komme Ihretwegen, Herr Purtaller.«
»O danke, mir geht es auch gut!« rief Herr Purtaller, »nur ein wenig erkältet.«
In Anbetracht des dicken Wollschals schien es ihm richtig, das zu sagen.
»So?« fragte Frau Köpke, »Donia sorgt sich manchmal um Sie.«
»Das gute Kind!« rief Herr Purtaller gerührt.
»Sie wären nun so allein, und sie glaubte, es wäre wohl nicht immer alles so, wie es sein müßte,« sagte Frau Köpke und sah ihn strenge und fragend an.
»Ach Gott, ach Gott,« jammerte Herr Purtaller, »wie es sein müßte, ja, was soll ich dazu sagen?«
»Und ich fürchte, Donia hat recht,« fuhr Frau Köpke fort.
»Nicht alles so, ach Gott, nicht alles so, wie es sollte. Alles nicht.«
Herrn Purtallers Stimme wurde wehklagend.
»Sie haben gewiß Sehnsucht nach Donia?«
Herr Purtaller nickte mit einem Ausdruck von Herzlichkeit.
»Wie Sie sich gewiß denken können, Frau Köpke, wie Sie sich gewiß denken können.«
»Und wären froh, wenn sie wieder zu Ihnen käme?«
Herr Purtaller konnte nicht verbergen, daß diese Frage ihn erschreckte. Wie meinte Frau Köpke das? Donia wieder zu ihm?
»Aber Donia,« sagte er erschrocken, »Donia, liebe Frau Köpke. Ach, das arme Kind! Ich sollte es wieder herausreißen aus seinem Glück, aus Ihren mütterlichen Armen?«
»Ja, was ist denn nun aber Ihr Leben ohne Donia?« sagte Frau Köpke; »wie ich schon gesagt habe, es ist nicht alles so, wie es sein könnte.«
Herr Purtaller sah Frau Köpke lauernd an. Was meinte sie? Da er schwieg, fuhr sie fort: »Donia war manchmal bei Ihnen und hat Sie nicht sehen können.«
Herr Purtaller wurde rot.
»Ach ja, das arme Kind. Ich war ein wenig krank. Ich war nicht ganz wohl. Es hat sie wohl recht erschreckt?«
»Das hat es, Herr Purtaller, das arme Kind hat sehr geweint. Nein, sagen Sie nichts,« wies sie ihn zur Ruhe, als er sie unterbrechen wollte. »Donia hat Ihre Krankheit ganz richtig erkannt. Pfui, schämen Sie sich denn gar nicht? So ein alter Mann wie Sie?«
Frau Köpkes Entrüstung kam zum Durchbruch und sie hielt Herrn Purtaller eine scharfe Predigt, so daß er ganz geknickt vor ihr saß.
»Sie haben recht,« stammelte er. »Wie recht haben Sie! Ja, ich schäme mich. Aber bedenken Sie, dies eine Mal –«
»Frau Sedewisch sagt, es käme oft vor,« unterbrach sie ihn.
»Oft? o! Frau Sedewisch? Nein, wie kann sie das sagen! Nun ja, ich gebe ja zu –«
Frau Köpke ließ nicht nach, und Herr Purtaller gab zuletzt alles zu. Als sie aber mit ihrem Plan herausrückte, warf er sich wieder in die Brust.
»Ich in Ihr Haus?« rief er, »gleichsam als verlorener Vater? Diese Schande soll ich Donia antun? Nie!«
»Überlegen Sie es sich, Herr Purtaller,« sagte Frau Köpke. Er zog den Kopf zwischen die Schultern und erhob beide Hände wie abwehrend.
»Ich meine, Sie überlegen es sich erst einmal recht,« sagte Frau Köpke.