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Zweites Kapitel

Herr Purtaller kam, um Max die erste Stunde zu geben. Diesmal trug er keinen schmutzigen Kragen, sondern hatte ein graues Wolltuch glatt um den Hals gelegt und die Enden unter die Weste geschoben.

»Sind Sie erkältet?« fragte Frau Köpke.

»Erkältet?« fragte Herr Purtaller zurück, einen Augenblick verständnislos. Aber dann faßte er sich schnell. »Ja, danke der Nachfrage, ein wenig.«

Und er tupfte mit zwei Fingern der linken Hand ein paarmal schnell nacheinander auf seinen eingewickelten Hals.

Frau Köpke wiegte bedauernd den Kopf.

»Bei diesem Wetter sind fast alle Leute erkältet,« sagte sie, und Herr Purtaller stimmte eifrig bei.

»Heute ist es doch ganz schön,« erlaubte sich Max zu sagen.

»Heute, ja, mein Junge,« sagte Herr Purtaller wohlwollend, »aber vorgestern.«

»Vorgestern war es auch schön,« fiel Max ein.

»Sei nicht vorlaut,« ermahnte ihn die Mutter, und Herr Purtaller warf ihm einen mißbilligenden Blick zu.

»Man kann sich doch auch bei gutem Wetter erkälten, mein guter Junge,« sagte er in belehrendem Ton, und seine Stimme klang schon viel rauher. Er räusperte sich, fuhr mit der Hand an das graue Halstuch und sah Frau Köpke erwartungsvoll an, als wollte er sagen: können wir nun beginnen?

Er konnte beginnen. Frau Köpke verschwand, und Herr Purtaller und Max ließen sich an dem runden Sofatisch der guten Stube nieder. –

Herr Purtaller hatte eine merkwürdige Art zu unterrichten. Sein Sprechen war ein lautes heftiges Poltern! Manchmal überschrie er sich.

»Öng, Junge. Sprich mal nach, öng, ö–n–g!«

»Ön,« sagte Max.

»Öng, verstehst du mich? öng!«

»Önk!«

»Nicht önk. Mit einem g. Weich, durch die Nase.«

»Sie sind auch erkältet,« sagte Max.

»Frecher Junge, was erlaubst du dir?«

Frau Köpke, die es im Nebenzimmer hörte, war starr. Sollte sie sich hineinmischen? Aber nein, jetzt lachte Herr Purtaller, lachte ganz laut, und Max lachte mit. Und eine Zeitlang schlugen nur leichte, heitere Töne an ihr Ohr. Dann aber begann das Schreien wieder.

» Le! le! le! le! Nicht la! Wie heißt es?«

» Le libre!« schrie Max ebenso laut zurück, daß Frau Köpke zusammenfuhr.

Und dann begann Max zu lesen. Nach dem dritten Wort unterbrach Herr Purtaller ihn, um ihn überhaupt nicht mehr ohne Unterbrechung lesen zu lassen. Und jedesmal schrie er lauter, und Max steigerte seine Stimme gleichfalls, und es wurde ein Toben.

»Mein Gott,« dachte Frau Köpke, »ob das die rechte Art ist, Französisch zu lehren?« Aber sie hatte bereits den Nachbarn gegenüber geprahlt, daß sie einen Kandidaten für Max genommen hatte, einen studierten Kandidaten. Durfte sie dem gelehrten Mann nicht so viel Vertrauen schenken, daß sie ihn gewähren ließ? Und dem Max war es ganz gut, daß er nun mal gewahr würde, was lernen eigentlich heißt.

Als die Stunde zu Ende war, kam Max mit einem heißen Kopf aus dem Nebenzimmer und sagte:

»Herr Purtaller möchte dich gerne sprechen.«

»Hat er wohl über dich zu klagen?«

»Nein,« sagte Max überzeugungsvoll. Er wollte wieder mit der Mutter zu Herrn Purtaller zurück, aber sie schob ihn beiseite und schloß die Tür. Herr Purtaller erhob sich aus der Sofaecke.

»Nun, wie war es?« fragte Frau Köpke.

»O, danke, für den Anfang ganz gut.«

»Ich meinte schon, Sie hätten über ihn zu klagen.«

»Nein, nein, durchaus nicht. Ein prächtiger Junge. Ich halte schon ordentlich etwas von ihm. So aufrichtig, so – so – gradeaus. Das mag ich gerade leiden bei einem Jungen.«

»Ja, offen ist er.«

»Ja, offen ist er,« bestätigte Herr Purtaller und verlor sich in einem unendlichen Wortschwall über die Vortrefflichkeit seines Schülers, wobei er hinter einen Stuhl trat und mit dem Oberkörper beständig über dessen Lehne pendelte, als befände er sich auf dem Katheder oder auf der Kanzel. Er versicherte wohl zwanzigmal, daß er Max sicher bis Ostern zur Quintareife bringen würde. Er verschwor sich, seine letzten Blutstropfen an dies hohe Ziel zu setzen, und der Zweck dieser langen Rede war, Frau Köpke um einen kleinen Vorschuß zu bitten.

»Die Hälfte meines Honorars. Eigentlich müssen Privatstunden ja immer pränumerando bezahlt werden. Aber mißverstehen Sie mich nicht. Ich bestehe nicht darauf. Ich beanspruche den Vorschuß nur von Ihrer Güte. Ich weiß vollkommen die Ehre zu schätzen, in Ihrem Hause tätig sein zu dürfen. Aber es handelt sich um fünfzehn Mark, die ich dringend nötig habe. Der Umzug, die Krankheit meiner Frau, ach, das Leben erfordert so vieles!«

Frau Köpke ließ den Wortschwall über sich ergehen und rechnete währenddes nach. Der Oktober hatte einunddreißig Tage, davon gingen vier Sonntage ab, blieben also siebenundzwanzig Stunden. Da machte also die Hälfte des Honorars dreizehn Mark und fünfzig Pfennige.

Herr Purtaller gab zu, sich verrechnet zu haben, an die Sonntage habe er nicht gedacht. Frau Köpke holte das Geld, und Herr Purtaller zog ein Blatt Papier aus seiner Brieftasche, worauf er bereits vorsorgend über den Empfang quittiert hatte.

»Sie sehen, ich bin ordnungsliebend,« sagte er auf Frau Köpkes Verwunderung. »Glauben Sie nicht, daß ich auch nur auf den Vorteil eines Pfennigs ausgehe. Ich rechne immer am letzten eines jeden Monats ab, die kleinen Vorschüsse werden strengstens notiert.«

Herr Purtaller stieß noch ein paar glühende Dankesworte heraus und verabschiedete sich mit wiederholten Bücklingen. –

Diese kleine Szene wiederholte sich in der Folge noch öfter. Herr Purtaller kam aus den kleinen Vorschüssen nicht heraus. Frau Köpke wandte nichts dagegen ein, teils aus Gutmütigkeit, teils auch, weil Max wirklich von Herrn Purtallers Unterricht Nutzen hatte. Vielleicht war diese laute, turbulente Art gerade das Rechte für ihn; sie hielt ihn munter und verhinderte, daß er zerstreut war. Vielleicht war es auch der Umstand, daß er jetzt überhaupt wieder arbeitete, was ihm nach und nach bessere Zensuren in der Klasse verschaffte; und was Maxens eigene Meinung über Herrn Purtaller anbetraf, so war sie eine gute.

»Ich finde ihn ganz nett,« sagte er. »Manchmal muß man ja über ihn lachen, aber dann lacht er einfach mit.«

»Merkst du denn, daß du etwas bei ihm lernst?«

»O ja, ich hab doch gar keine Vier wieder, immer nur Dreien,« erwiderte Max stolz.

Es war immerhin für bescheidene Ansprüche ein Fortschritt, und Frau Köpke sah dem Fortgang des Unterrichts mit Beruhigung zu. –

Eines Morgens – es waren drei Monate vergangen – kam das Dienstmädchen mit einer Handvoll zerrissener Schulhefte und zerknülltem Papier ins Zimmer.

»Sehen Sie mal, Frau Köpke!«

»Was soll das?«

»Ja, kommen Sie nur mal mit. Das hat alles in dem neuen Sofa in der guten Stube gesteckt.«

»In dem neuen Sofa?«

»Ja, in dem neuen Sofa: kommen Sie nur mal mit, da steckt noch viel mehr in.«

Zwischen Seitenlehne und Sitz, aus den dunkelsten und verborgensten Abgründen des Sofas holte das Mädchen ein Papier nach dem andern heraus; ein ganzer Berg häufte sich auf dem Fußboden.

»So, nun ist da nichts mehr in.«

Frau Köpke war starr.

»Das tut er immer,« erklärte Max, als er aus der Schule kam. »Immer, wenn er meine alten Hefte zerrissen hat, stopft er sie da in das Sofa hinein.«

»Und das sagst du gar nicht?«

»Das kann ich ihm doch nicht sagen,« meinte Max.

»Aber mir doch! Das ist doch zu arg! Mein schönes neues Sofa!«

»Sag ihm das doch,« sagte Max.

»Das mag man ja gar nicht, solchem Mann so was sagen,« rief Frau Köpke. »Heute nachmittag stellst du ihm Papas alten Papierkorb hin, das wird er ja wohl verstehen; wenn er es dann wieder tut, sagst du ihm, deine Mutter möchte das nicht haben. Verstehst du?«

Max freute sich auf Herrn Purtallers Gesicht, wenn er das vorwurfsvolle und mahnende Korbmöbel neben seinem Sitz erblicken würde.

Herr Purtaller kam, sah den Papierkorb und lächelte ironisch. Er verlor jedoch kein Wort darüber, zu Maxens Verwunderung, zerriß aber jedes Stück Papier, dessen er habhaft werden konnte, mit großer Energie in tausend kleine Fetzen und warf sie mit einer erhabenen Geste in den Korb.

Er war sehr strenge heute und sprach mit Absicht sehr laut.

»Meine Mutter ist nicht zu Hause,« erlaubte sich Max zu sagen.

Herr Purtaller starrte ihn sprachlos an.

»Hab ich nach deiner Mutter gefragt?« fuhr er auf.

»Ich meine nur,« sagte Max gelassen.

»Du hast nichts zu meinen, dummer Junge! Glaubst du, es macht mir Vergnügen, zu euch zu kommen? Schon das Haus! Wie riecht es hier?! Das ist ja unerträglich!«

»Das sind die Felle, die so riechen,« sagte Max mit der ihm eigenen Ruhe.

»Es sind ja gar nicht die Felle,« fing Herr Purtaller plötzlich an zu jammern.

»Es sind doch die Felle,« beharrte Max.

»Es ist die große Demütigung, die Erniedrigung!«

Und nach einer Pause der Rührung:

»Mein lieber Junge, wenn ich dich nicht so liebte, nicht eine Stunde länger würde ich kommen, nur deinetwegen tue ich es. Es wäre mir eine persönliche Schande, wenn du nicht in die Quinta kämest.«

»Na, na,« dachte Max, »so schlimm wird es nicht sein.«

Am Abend aber sagte er zur Mutter: »Heute war Herr Purtaller sehr nett zu mir.«

»So? Na, sei nur recht aufmerksam und fleißig, dann wird er schon immer nett zu dir sein.«

»Er sagte,« begann Max wieder, wurde aber rot und meinte: »Ach, na, nichts. Das sagt er doch man so hin.«

»Was sagt er?«

»Ach, er sagt, er liebte mich, er käme nur meinetwegen.«

Trotzdem blieb Herr Purtaller am nächsten Tag aus, nicht gerade zu Maxens großem Schmerz. Er kam aber auch am folgenden Tag nicht, und Frau Köpke dachte:

»Was bedeutet das? Er hat nun zwanzig Mark Vorschuß.«

Aber ihre Besorgnisse waren grundlos. Es kam ein Brief von Herrn Purtaller, worin er mitteilte, seine Frau sei so krank, daß er sie nicht verlassen könne.

»Der arme Mann,« sagte Frau Köpke.

Ob er eigentlich Kinder hat, dachte sie. Sie hatte ihn oft schon danach fragen wollen, hatte es aber immer wieder vergessen. Hoffentlich hat er keine. Aber arme Leute haben immer Kinder. Wenn er nun sieben Kinder hat?

Sie dachte sich in dieses Elend hinein und beschloß, sich einmal nach Herrn Purtallers Familie umzusehen.


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