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Viertes Kapitel

Herr Purtaller kam aber nicht, sondern schickte einen Brief, seine Frau sei über Nacht gestorben.

»So schnell,« sagte Frau Köpke bedauernd. »Die arme Frau! Aber wer weiß, wozu es gut ist.«

Sie dachte an den Wein, der nun nicht mehr viel genützt hatte, und daß sie ihn hätte sparen können.

»Was soll sie nun noch mit dem Wein? Nun trinkt er ihn aus. Na, laß ihn.«

Sie war nicht geizig, und die Flasche Wein reute sie nicht. Sie beschloß sogar, einen Kranz zu schicken. Das war sie Malchen doch schuldig. Und das wäre am Ende auch nicht mehr als schicklich Herrn Purtallers wegen, der doch immerhin Maxens Lehrer war. Max und Hanna sollten gemeinschaftlich den Kranz hinbringen.

»Laß ihn doch schicken,« meinte Hanna. »Die Blumenhändler schicken immer die Kränze.«

»Nein, es macht sich besser, wenn ihr ihn selbst bringt. Dann könnt ihr gleich kondolieren.«

»Das mag ich nicht,« sagte Max. »Was soll ich dann sagen?«

»Viele Grüße von Mutter, und es täte uns allen sehr leid.«

»Das kann ich doch nicht sagen,« meinte Max.

»Du bist doch zu dumm,« entschied Hanna.

»So klug, wie du, können nicht alle sein, mein Kind,« erwiderte Max.

»Schämt ihr euch nicht!« sagte Frau Köpke. –

Am andern Tag gingen sie verträglich zusammen zu Purtaller; Hanna, als die Älteste, trug den Kranz. Sie sahen beide sehr feierlich und ernst aus und sprachen nur im gedämpften Ton zueinander. Sie gingen schneller, als sie in die Straßen des ärmlichen Viertels kamen, und waren böse auf die Mutter, daß sie sie genötigt hatte, diesen Gang zu tun. Sie kannten ja Frau Purtaller gar nicht, und ihr Tod ging ihnen nicht nahe.

Endlich hielten sie vor dem Hause und zögerten einen Augenblick, bevor sie eintraten. Sie sahen sich auf der schmutzigen und dumpfen Diele mit mißbilligenden Blicken um und gingen vorsichtig die dunkle Treppe hinauf, um sich nicht zu beschmutzen.

»Wie riecht es hier?« sagte Max.

»Nach armen Leuten,« sagte Hanna.

Herr Purtaller öffnete ihnen selbst. Er war ehrlich überrascht. Aber dann brach er in einen Schwall gerührter Worte aus. Er roch nach Wein, und sie sahen durch die offene Tür des Wohnzimmers Flasche und Glas auf dem Tisch stehen.

»Der einzige Kranz, den man meiner teuren Amalie bringt, und von euch, meine lieben Kinder, von eurer lieben, hochverehrten Mutter. Wie würde meine Amalie sich freuen, wenn sie das wüßte.«

Er hielt den Kranz steif vor sich hin und trug ihn ins Wohnzimmer, wo er ihn über den Stuhl hing, der vor der Weinflasche stand. Dann reichte er den Kindern seine beiden Hände und schüttelte sie kräftig. Seine Augen waren feucht, und seine Rührung erschien echt.

»In dieses Haus des Jammers kommt ihr unschuldigen Kinder! In dieses Haus des Jammers! In diese Wohnung des Elends,« deklamierte er pathetisch, und die Tür zum Nebenzimmer öffnend, rief er: »Donchen, liebes Donchen!«

Und Donia erschien in ihrem gewohnten Kleid, nur trug sie statt des blauen ein schwarzes Band im Haar. Aber sie war noch blasser als sonst, und ihre Augen waren vom Weinen gerötet. Als sie die Kinder erblickte und Herr Purtaller mit einer theatralischen Geste nach dem Kranz zeigte, brach sie in Tränen aus; die Hände vor das Gesicht geschlagen, lehnte sie sich schluchzend an den Türpfosten. Hanna, die von Natur weich war, bekam nasse Augen, und Max wandte sich mit einem roten Kopf ab.

Herr Purtaller war an seine Tochter herangetreten und hatte seinen Arm um ihre mageren Schultern gelegt. »Weine nicht, Donchen, weine doch nicht,« sagte er.

Als sie sich nicht faßte, ließ er die Tür zum Nebenzimmer weit auf:

»Da liegt sie, unsere Unvergeßliche. Nicht wahr, ihr fürchtet euch nicht?«

Aber Hanna und Max warfen nur einen scheuen Blick auf die Tote, die unkenntlich in ihrem Bett lag und in den weißen Händen ein paar rote Blumen hielt; es waren die Geranien, die Frau Köpke auf dem Fensterbrett gesehen hatte, und die Donia nun für diesen Zweck abgeschnitten hatte.

Max zupfte Hanna am Rock.

»Wir müssen nun wohl wieder gehen, Herr Purtaller,« sagte Hanna. »Mutter läßt auch vielmals grüßen, und es täte uns allen sehr leid.«

Sie gaben Herrn Purtaller die Hand und gaben sie auch Donia, die ihnen ein tränenüberströmtes Gesicht zeigte. Auf den Zehen schlichen sie hinaus, von Herrn Purtaller bis an die Treppe geleitet. Vor der Haustür trafen sie auf den Tischler, der brachte auf einem kleinen Handwagen den Sarg, eine schmucklose schwarze Kiste. Sie waren empfänglich geworden für die Schauer des Todes und wandten sich schnell und furchtsam ab.

Max fand zuerst das Wort wieder.

»Hast du gemerkt, wie er nach Wein roch?«

»Wein riecht immer so,« sagte Hanna abweisend.

Nach einer Weile wieder meinte Max: »Junge, die hat aber geweint, nicht?«

Hierauf antwortete Hanna gar nicht. Was versteht auch so ein dummer Junge von dem Schmerz einer Tochter, die ihre Mutter verloren hat. Max schielte sie von der Seite an und dachte: es ist doch am Ende schicklicher, nicht so viel zu sprechen; wir kommen doch von einer Toten. Und er ging mit finstrer Miene neben der Schwester her.

Mit einem fragenden »Nun?« empfing sie die Mutter und sah von einem zum andern.

»Sie hat furchtbar geweint,« sagte Hanna und seufzte, als ob es ihr sehr nahe gegangen sei.

»Ja, wenn man seine Mutter verliert, das ist kein Spaß,« erwiderte Frau Köpke. –

Am Tage nach der Beerdigung kam Herr Purtaller, um sich für die Teilnahme und den »geradezu herrlichen« Kranz zu bedanken. Er hatte einen reinen Kragen um, und Frau Köpke nötigte ihn in die gute Stube und setzte ihm Wein und Keks vor.

»Hat Ihre liebe Frau viele Kränze bekommen, Herr Kandidat?« fragte sie teilnehmend.

Purtaller sah sie mißtrauisch an. Warum fragte sie danach? Glaubte sie wirklich, es könnten viele Kränze gekommen sein?

»Viele Kränze? Nicht viele, Frau Köpke, nur einen. Aber der war dafür um so herrlicher; ich erlaube mir dafür einen Schluck auf Ihr Wohl zu trinken, wenn Sie gestatten.«

»Bitte, gern geschehen,« sagte Frau Köpke geschmeichelt. »Es freut mich doch, daß Ihre liebe Frau nicht so ganz ohne Kranz unter die Erde gekommen ist: das habe ich immer so schrecklich gefunden, wenn die armen Leute immer so ganz ohne Blumen begraben werden. Ich möchte das nicht; wenn ich mir denke, daß ich so ganz ohne Kranz –«

»Aber ich bitte, Frau Köpke,« unterbrach Herr Purtaller sie mit einer Gebärde beider Hände, die deutlich ausdrückte: eine Frau wie Sie sollte ohne Kränze begraben werden? Er machte eine Handbewegung, als wolle er sie unter einem Hügel von Blumen betten.

»Und Ihre kleine Tochter?« fragte Frau Köpke, die sich nicht gerne lange bei ihrem eigenen Tode aufhielt. »Ihre Kleine – wie heißt sie doch gleich? Dora?«

»Donia.«

»Wie geht es ihr?«

Herr Purtaller setzte eine sorgenvolle Miene auf, zuckte die Achseln und sagte:

»Donia, meine arme Donia! Ach, die hat mehr verloren als ich. Ich bin ein alter, gebrochener Mann. Was kann ich ihr sein? Wie soll ich ihr die Unersetzliche ersetzen?«

Er sah Frau Köpke fragend an, als wüßte sie Rat.

»Sie ist jung, und die Zeit heilt und hilft,« sagte Frau Köpke. »Sie wird Trost und Ersatz finden, wenn sie ihrem alten Vater nun das Haus führt, ihn umsorgt und pflegt. Sie ist doch häuslich und umsichtig?«

Herr Purtaller lobte seine Tochter sehr. Donia war demnach ein Ausbund an Tugend und Tüchtigkeit. Sie war fleißig, sauber und sparsam, konnte kochen und nähen und würde einem großen Hausstand vorstehen können. Aber sie war zart, schwach, blutarm und völlig aufgerieben von der Pflege der Mutter; sie bedurfte selbst der Pflege. Aber woher nehmen? Hatte Herr Purtaller Geld? Herr Purtaller verdiente kaum das Nötigste. Aber er wollte gern arbeiten. Er schämte sich nicht zu arbeiten, für sein Kind, für sein einziges Kind. Er versicherte das pathetisch und hob die Arme zum Himmel, als wolle er es selbst mit einer Welt voll Arbeit aufnehmen.

»Und darum wollte ich anfragen; nicht wahr? ich darf doch die Stunden wieder aufnehmen? Die unerbittliche Not des Lebens gestattet keine lange Zeit der Trauer.«

»O gewiß, kommen Sie morgen nur wieder,« sagte Frau Köpke. »Und vielleicht können Sie da auch der Hanna gleich ein bißchen englische Stunden geben; sie fängt erst damit an, und es wird ihr leider etwas schwer. Sie hat nun einmal kein Talent dafür.«

Herr Purtaller verbeugte sich nach jedem Wort zustimmend, er stände zu jedem Dienst zur Verfügung.

»Sie können doch auch Englisch, Herr Kandidat?«

Herr Purtaller errötete, lächelte überlegen und rieb sich die Hände.

Frau Köpke errötete nun auch. Ihre Frage war taktlos. Sie war jetzt vollkommen überzeugt, daß Herr Purtaller Englisch könne.

Sie war besorgt, ihren Fehler wieder gut zu machen und forderte Herrn Purtaller auf, seiner Donia zu sagen, sie möchte die Kinder mal besuchen.

»Ach, wie wird sie sich freuen,« rief Herr Purtaller. »Das arme Kind hat so gar nichts vom Leben. Sie sind zu gütig, Frau Köpke.«

Hanna fand das auch. Die Mutter war viel zu gutmütig. Was sollte Donia bei ihr? Sie würde muffig riechen, eine geringe Schulbildung haben und sich nicht zu benehmen wissen. Was die Mutter auch immer für Einfälle hatte. Natürlich würde das »Gör« gleich angelaufen kommen. Solchen Leuten fehlt es ja an Takt.


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