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Sechstes Kapitel

Als Herr Purtaller am andern Tag von diesem Vorfall hörte, sagte er: »Sie ist so weich, die Kleine, so sehr weich.«

»Und nun grade jetzt, wo sie eben die Mutter verloren hat,« meinte Frau Köpke.

Herr Purtaller nickte schmerzlich mit dem Kopf.

»Was war es doch für ein Lied, das du spieltest?«

»Lang, lang ist's her,« antwortete Hanna.

»Lang, lang ist's her,« wiederholte Herr Purtaller erschrocken. »Meine arme kleine Donia! Ja, sehen Sie, liebe Frau Köpke, grade dieses Lied, es war das Lieblingslied ihrer Mutter. Sie hat es ihr immer vorsingen müssen, und es war das erste Lied, das Donia schon als ganz kleines Kind singen konnte. Wirklich ganz rein und richtig singen konnte. Und so ausdrucksvoll. Ich mußte sie oft auf der Geige begleiten: ich spiele ein wenig Geige, müssen Sie wissen.«

Frau Köpke erinnerte sich der verstaubten Geige an der Wand des Purtallerschen Wohnzimmers.

»So,« sagte sie, »sang sie schon so niedlich, als sie noch klein war? Sie ist wohl recht begabt?«

»Ach ja, das ist sie,« versicherte Herr Purtaller. »Ihre Mutter sang auch so schön; sie ist ja Sängerin an der Hofoper gewesen.«

»An der Hofoper?« fragte Frau Köpke mit geziemender Ehrfurcht vor einem solchen Institut. »In Berlin?«

»In Zwickau.«

»Haben sie da auch Hofoper?«

Herr Purtaller antwortete nicht darauf, sagte aber mit einer stummen Gebärde: man singe auch anderswo als in Berlin.

»Warum ist denn Ihre Frau nicht dabei geblieben?« fragte Frau Köpke.

Herr Purtaller sah sie mitleidig an: Wie kann man nur solche Fragen stellen! »Unglück, Krankheit –« er machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand: »Schweigen wir lieber davon.«

Und sie schwiegen davon. –

Hanna war in der Stunde unaufmerksam, sie mußte immer an Donia denken. Donia war also das Kind einer Sängerin, ein Künstlerkind. Und ihr fiel ein, daß Herr Purtaller Theaterdirektor gewesen war. Ob er wohl auch gesungen hatte oder als Schauspieler aufgetreten war? Sein drolliges Mundverziehen, seine Aussprache des Englischen begann von diesem Gesichtspunkt aus sie zu interessieren. Sie hatte einmal etwas von der Sprechtechnik der Schauspieler gehört.

Herr Purtaller gewahrte, daß Hanna ihm aufmerksamer als sonst auf den Mund sah. Er fühlte sich als Pädagoge geschmeichelt und machte die sonderbarsten Verzerrungen des Mundes und allerlei Verrenkungen der Zunge, so daß Hanna plötzlich laut lachen mußte.

»Warum lachen Sie, Fräulein Hanna?« fragte Herr Purtaller ernst.

»Weil die englische Sprache so furchtbar komisch ist,« sagte Hanna.

»Ja, nicht wahr? Eine wunderliche Sprache,« stimmte Herr Purtaller bei. Und sie lachten zusammen über die wunderliche Sprache, bei der man so komische Grimassen schneiden mußte. Daß Herr Purtaller von dieser komischen Sprache nicht mehr verstand als sie selbst, und daß er jede Lektion mit ihr zusammen lernte, bis er sich hineinfand, ahnte sie freilich nicht. Sie nahm Herrn Purtaller, der Max im Französischen so gut gefördert hatte, als Autorität, und lernte vertrauensvoll sein wunderliches Englisch. –

»Mister Pörtaller«, wie sie ihn übermütig taufte, hatte dem Anfang der englischen Lektionen nicht ohne Bangen entgegengesehen, bald aber hatte er sich beruhigt, da weder Hanna noch ihre Mutter gegen sein Englisch etwas einzuwenden hatte. Er fühlte sich wohl im Hause Köpke und kam gern in die Stunden, die ihm so leicht gemacht wurden.

Frau Köpke pflegte ihm stets eine Tasse Kaffee ins Zimmer zu schicken. An dem Tage, da er von Donias tränenreichem Mißgeschick gehört hatte, fand er sogar ein Stückchen Kuchen vor, das Frau Köpke ihm in Aufwallung gutmütiger Rührung auf den Teller legte.

»Wohl Geburtstag?« fragte er.

»Warum meinen Sie?« fragte Hanna zurück.

»Ich meine nur,« fugte Herr Purtaller ein wenig beschämt. Wie konnte er aus einem so kleinen Stückchen Kuchen auch gleich auf einen Geburtstag schließen.

Sie werden immer Kuchen haben, sagte er sich. Nur heute bekommst du ein wenig ab. Und er mutmaßte den Zusammenhang zwischen Donias Tränen und dem Stückchen Kuchen. –

Zu Hause fand er Donia am Herd stehen und Bratkartoffeln bereiten. Er war in genußfreudiger Stimmung, und dieses alltägliche Mahl erschien ihm sehr gering. Was war er doch für ein armer Mann!

Er war gerührt und küßte Donia.

»Armes Kind,« fagte er seufzend.

Sie sah verwundert zu ihm auf.

Sie ist so gut und so zufrieden, dachte er. Und niemals findet sie Kuchen zum Kaffee.

Er war in einer weichen, gehobenen Stimmung, und nach dem Essen spielte er zart auf Donias Mißgeschick bei Köpkes an; und als sie errötete, sagte er:

»Ich weiß, ich weiß, mein teures Kind. Es war so schmerzlich. Wie lange haben wir dieses Lied nicht gesungen. Ach ja, lang, lang ist's her.«

Und er sah gerührt in das Licht der alten Lampe.

»Willst du es mir nicht wieder einmal singen?« fragte er.

»Ich habe es so lange nicht gesungen,« sagte Donia.

»Du solltest es aber wieder tun.«

»Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch singen kann.«

»Eben darum.«

Donia war noch unschlüssig, aber er hatte sich in den Gedanken verbissen. Endlich gab sie nach. Er nahm die alte Geige von der Wand, und während sie den Tisch abräumte, stimmte er die Saiten. Sie blieb etwas länger draußen, und er probierte inzwischen das alte Instrument. Sie hörte in der Küche seine zittrigen Töne, und es tat ihr weh. Er hatte nie sehr gut gespielt, und sie hatte ein feines Ohr. Aber sie mochte ihm nicht sagen, daß sie besser singen würde ohne seine Begleitung.

»Spiele erst ein bißchen allein,« sagte sie, als sie zu ihm zurückkehrte, »ich muß erst etwas in Stimmung kommen.«

Er besann sich auf seine Kunst, begann mit der »Letzten Rose«, spielte »In einem kühlen Grunde« und sah dann Donia fragend an.

»Nun denn,« sagte sie mit einem leisen Lächeln.

Und als er sich zurechtsetzte, mit einer feierlichen Haltung, und sie sich an den Tisch stellte, die Hände hinter dem Rücken leicht zusammengelegt, zeigten sie beide, wie ernst sie es mit dem Liede meinten.

Und leise, etwas zaghaft erhob sich Donias Stimme, breitete sich aus und schwebte dann rein und ruhig in dem kleinen Raum.

»Sag mir das Wort, das so gern ich gehört,
lang, lang ist's her, lang ist's her.
Sing mir das Lied, das so oft mich betört,
lang, lang ist's her, lang ist's her.

Nun du bei mir, ist der Kummer entflohn,
lang lebst du fort: ich vergab es dir schon!
Gönn mir wie einst deiner Lieb süßen Ton!
Lang, lang ist's her, lang ist's her.«

Alle drei Verse sangen sie durch, und Vater und Tochter waren ganz in der süßen Wehmut dieser Melodie vertieft. Herr Purtallers Kinn preßte sich immer fester auf das Instrument, seine Stirne legte sich in Falten, und seine Blicke folgten den Bewegungen seines Bogens.

Als sie geendet hatten, und er aufblickte, sah er, daß Donia den Kopf ein wenig zur Seite gewandt hatte und mit nassen Augen zum Fenster hinausschaute, auf die dunklen Dächer und Schornsteine, die sich schwarz gegen den Abendhimmel abhoben.

Er legte leise sein Instrument auf den Tisch. »Donia, wie schön war das,« wollte er sagen, aber die Rührung übermannte ihn; er sank auf seinen Stuhl zurück, und über die Stuhllehne gebeugt, das Gesicht auf den Arm gedrückt, schluchzte Herr Purtaller mit gurgelnden Lauten auf.

Donia erschrak. Sie trat zu dem weinenden Vater und legte ihm sanft ihre Hand auf den grauen Kopf. Aber unter der sanften Berührung seines Kindes weinte Herr Purtaller nur noch heftiger. Und während er so dasaß unter Donias weicher Hand, zog sein ganzes verfehltes Leben an ihm vorüber.

»Vater, wir wollen dieses Lied nie wieder singen,« sagte Sidonia kindlich.

Da schlang er seinen Arm um sie und sagte leise und schamhaft:

»O meine arme Donia, du hast einen so schlechten Vater.«

»Du bist mein guter Vater,« sagte Donia.

»Bin ich das?« rief Herr Purtaller und drückte sie fest an sich. »Bin ich das wirklich?«

»Was redest du nur,« sagte Donia und entwand sich seinen Armen.

»Ja, ja, ich rede wohl Unsinn,« stimmte ihr Herr Purtaller erleichtert bei. »Ach, Donia, es ist alles so traurig, so furchtbar traurig.«

»Es wird schon wieder besser werden,« tröstete sie.

»Das wird es, das soll es!« rief Herr Purtaller aufspringend. »Beim Andenken an deine unvergeßliche Mutter, das soll es.«

Und die Hände in den Hosentaschen vergraben, lief er im Zimmer auf und ab, als könnte er die Zeit nicht erwarten, wo es besser werden würde.

»Wollen wir nicht schlafen gehen, Vater?« mahnte Donia.

»Schlafen, schlafen,« murmelte Herr Purtaller. »Du hast recht, jetzt wollen wir schlafen gehen.«

Und er küßte sein Kind und nahm die Lampe, während Donia im Dunklen ihre Kammer aufsuchte, wo sie eine kleine Wachskerze entzündete, die in einem zerbrochenen Porzellanleuchter stand.


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