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Neuntes Kapitel

Donia wartete auf den Vater; sie saß beim trüben Schein der kleinen Lampe und stopfte seine Strümpfe. Sie hatte den letzten Rest des Petroleums auf die Lampe gefüllt. Ob es reichen würde für diesen Abend? Wenn der Vater kein Geld nach Hause brächte, würde sie morgen im Dunkel sitzen müssen. Müde führte sie die Nadel durch den durchlöcherten Strumpf. Es war kein Meisterwerk, das sie machte. Sie hatte wenig Geschick zu solchen Arbeiten, und die Mutter hatte sie kaum darin unterwiesen. Es war nur gut, daß der Vater nicht anspruchsvoll war.

Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes, arg zerlesenes Buch. Ein Band Schiller. Zwei Bände Schiller, ein paar Schulbücher und der Band von dem berühmten Harnack, den er samt der Widmung irgendwo antiquarisch erstanden hatte, bildeten die ganze Bibliothek des Vaters. Sie kannte den Inhalt dieser Bände auswendig. Heute las sie zum sechsten oder siebenten Mal Maria Stuart, las ein paar Seiten, machte ein paar Stiche und sah immer wieder zwischendurch auf die Uhr. Es stand Brot und Butter auf dem Tisch, ein kärgliches Abendmahl. Sie war hungrig, mochte aber nicht essen, bevor der Vater da war. Vielleicht brachte er ja Geld und auch etwas Eßbares mit, ein wenig Käse, ein Stückchen Wurst. Wenn er aber kein Geld brachte? Was dann? Wie sollte es am andern Tag werden? Man borgte ihr schon noch beim Fleischer, beim Krämer, beim Milchmann, aber mit einem Gesicht, das sie abschreckte.

Doch der Vater würde schon Geld bringen. Er hatte noch immer in der letzten Not Rat geschafft. So war auch Donia schon mit einem gewissen leichtsinnigen Vertrauen erfüllt. Wie es bisher gegangen war, würde es auch weiter gehen. Und sie hatte sich daran gewöhnt, den Vater allein sorgen zu lassen, und hatte sich damit begnügt, ihm die Wohnung in Ordnung zu halten.

In Ordnung? Nun ja, es war nicht viel in Ordnung zu halten; aber das Wenige, was da war, stand auf seinem Platz, und es war alles einigermaßen rein, wenn man nicht gar so peinlich war und in den Ecken nachsuchte.

Donia hatte es jetzt eigentlich nicht schwer. Sie hatte es viel schwerer gehabt, als die Mutter noch lebte, wenigstens in der Zeit der Krankheit. Und es war in jener Zeit ein wenig unordentlich zugegangen; das war verständlich. Und der Vater war ja so anspruchslos. Er war selbst ein wenig unordentlich. Donia mußte beiseite hängen, beiseite legen, was er hatte liegen lassen; seinen Hut, seinen Stock, seine Stiefel, seine Bücher. Sie kannte das nicht anders, von klein auf an. Es lag immer etwas herum. Und sie selbst ließ auch immer etwas herumliegen. Zigeunerwirtschaft nannte es der Vater.

Die kleine staubige Standuhr schlug acht dünne zittrige Schläge. Der Vater kam doch sonst schon um sieben Uhr nach Hause. Vielleicht hatte er doch Geld bekommen und saß nun beim Bier. Sie gönnte es ihm. Nur wenn er zuviel getrunken hatte, das konnte sie nicht leiden, davor hatte sie einen Ekel. Ein paarmal war das vorgekommen, nicht oft, vielleicht zwei- oder dreimal nach dem Tode der Mutter, aber sie dachte mit Widerwillen daran.

Donia legte den fertigen Strumpf beiseite, zog das Buch näher heran und las mit halbleiser Stimme:

Was klagt ihr? Warum weint ihr? Freuen solltet
ihr euch mit mir, daß meiner Leiden Ziel
nun endlich naht, daß meine Bande fallen,
mein Kerker aufgeht, und die frohe Seele sich
auf Engelsflügeln schwingt zur ew'gen Freiheit.
Da, als ich in die Macht der stolzen Feindin
Gegeben war, Unwürdiges erduldend,
was einer freien, großen Königin
nicht ziemt, da war es Zeit, um mich zu weinen!
– Wohltätig, heilend nahet mir der Tod,
Der ernste Freund! Mit seinen schwarzen Flügeln
Bedeckt er meine Schmach – den Menschen adelt,
den tiefstgesunkenen, das letzte Schicksal.
Die Krone fühl ich wieder auf dem Haupt,
den würd'gen Stolz in meiner edlen Seele!

Donia horchte auf. Endlich Schritte auf der Treppe. Der Vater!

Sie schob das Buch zurück und eilte an die Tür. Doch klopfenden Herzens blieb sie stehen. Die Schritte waren lauter und unsicherer als sonst. Sie öffnete die Tür nicht, sondern machte nur die Sperrkette ab, und wartete, bis der Vater eintrat.

»Da bin ich, Donchen!« rief Herr Purtaller. »Endlich bin ich da!«

Er trat mit weinseligem Lächeln ein und bemühte sich, Haltung zu zeigen.

»So spät?« sagte Donia vorwurfsvoll und trat einen Schritt zurück.

»Schilt nicht, Donchen,« sagte Herr Purtaller schmeichelnd und machte eine Geste mit der linken Hand, die ein wenig unsicher ausfiel.

»Du hast wieder getrunken, Papa.«

»Ja, ich habe getrunken, Donchen,« gab Herr Purtaller zu. »Vor Freude habe ich getrunken, Donchen, vor Freude. Und du sollst dich auch freuen.«

Er suchte in allen Taschen.

»Aber willst du nicht erst in die Stube kommen und ablegen?« fragte Donia.

»Ja ja, ich werde erst ablegen.«

Und er folgte ihr in die Stube, ließ sich Hut und Stock aus der Hand nehmen, und sah Donia mit lustig zusammengekniffenen Augen und herausforderndem Lächeln an.

»Nun, rat mal!« sagte er.

»Wurst!« rief Donia.

Herr Purtaller wollte sich ausschütten vor Lachen.

»Käse,« rief Donia weiter.

»O, wie du schlecht raten kannst,« sagte Herr Purtaller.

Donia strengte sich an.

»Bücklinge?«

Herr Purtaller lachte, daß ihm die Tränen aus den Augen liefen.

»Bücklinge, geräucherte Bücklinge!« stotterte er. »Ja, grade so etwas, grade so etwas. Wie du gut raten kannst!«

Und mit geschlossenen Augen und einem schlürfenden Mundspitzen hielt er ihr das Schächtelchen mit dem Ring hin.

Donia nahm es mit verwunderten Blicken entgegen. »O!« rief sie, als der Ring zum Vorschein kam. Ihr Gesicht drückte ebensoviel Staunen als Verlegenheit aus.

»Freust du dich?« fragte Herr Purtaller.

Sie hielt den Ring in der Hand und wußte nicht, was sie sagen sollte.

»Von Frau Köpke?« fragte sie unsicher.

»Närrchen, von deinem Vater! Was sagst du jetzt, du Närrchen?«

Sie wollte ihm um den Hals fallen, aber vor seinem Munde wich sie zurück.

»Woher hast du den Ring?« fragte sie ernst.

»Gekauft habe ich ihn, für dich gekauft!«

»So hast du Geld bekommen?«

Er nickte nur vergnügt und zog aus der andern Tasche das Stückchen Wurst.

»Wie schön,« sagte Donia auf den Ring blickend. Es klang fast wie ein Seufzer.

»Aber wie konntest du so viel Geld für mich ausgeben?«

»Ich wollte dir eine Freude machen.«

Sie hörte seine leise Enttäuschung heraus und sie überwand sich und küßte ihn.

»Ich danke dir tausendmal. So einen Ring habe ich mir schon lange gewünscht.«

»Siehst du!« rief Herr Purtaller frohlockend. »Wußt ich's nicht, was Donchen sich wünscht?«

Donia steckte den Ring an den Finger, ging an die Lampe und ließ ihn blitzen, während Herr Purtaller ihr an den Tisch folgte und seine Augen auf das Buch fielen. Er blätterte mechanisch darin.

»Schiller!« fugte er pathetisch. »Der große Schiller! Maria Stuart!

Der ist ein Rasender, der nicht das Glück
Festhält in unnachsichtiger Umarmung,
Wenn es ein Gott in seine Hand gegeben!«

deklamierte Herr Purtaller.

»Wollen wir nicht essen, Vater?« fragte Donia. »Ich bin sehr hungrig.«

»Du bist sehr hungrig, armes Kind?

Die Krone ist von deinem Haupt gefallen,
Du hast nichts mehr von irdischer Majestät.
Versuch es, laß dein Herrscherwort erschallen,
Ob dir ein Freund, ein Rächer aufersteht.

O Kind, als ich noch den Mortimer spielte!«

Herr Purtaller ließ sich mit diesem elegischen Seufzer in die Sofaecke fallen und sah tiefsinnig auf die Butter, die auf einem irdenen Teller vor ihm stand.

»Laß jetzt Mortimer, Papa,« sagte Donia. »Der Tee wird dir gut tun.«

Sie ging in die Küche und kam mit einem Topf heißen, dünnen Tee zurück. Herr Purtaller schnalzte mit den Fingern, als fiele ihm eine Vergeßlichkeit ein.

»Du hast wohl nicht einen Schuß Rum oder Roten? Nur so ein kleines Schüßchen? Aber nein, woher solltest du. Es geht auch so.«

Donia stellte sich, als hätte sie diese Frage überhört. Der Tee tat Herrn Purtaller auch ohne Rum gut. Die Geister des Weines verließen ihn, und die Ernüchterung ließ ihn Betrachtungen darüber anstellen, ob Donia sich genügend über den Ring gefreut habe oder ihm etwas schuldig geblieben wäre. Er hatte eigentlich erwartet, einen größeren Eindruck mit dem Geschenk zu machen. Er war ein wenig gekränkt, und jetzt fiel ihm ein, daß er noch nichts von Frau Köpkes Einladung gesagt hatte. Er wollte damit Kohlen auf Donias Haupt sammeln.

»Frau Köpke läßt dich bitten, Hanna doch wieder zu besuchen. Sie war so sehr lieb, so sehr teilnehmend. Nun, ich darf auch wohl sagen, beide Kinder machen Fortschritte bei mir, große Fortschritte. Die Frau erkennt es an. Sie sucht förmlich danach, mir ihre Erkenntlichkeit zu zeigen. Und wie könnte sie das besser, als wenn sie sich deiner etwas annimmt.«

»Was soll ich da?« sagte Donia ein wenig mißmutig.

»Was du da sollst?« fragte Herr Purtaller vorwufsvoll. »Ist es denn nicht schön für dich, in ein so gutes Haus zu kommen, wo du durch die Verdienste deines Vaters – ich darf wohl mal frei von der Leber sprechen und meine verdammte Bescheidenheit einmal in die Ecke stellen – ich meine, wo du von den Verdiensten deines Vaters doch immerhin einige Vorteile ziehen könntest. Ich verstehe dich nicht, Donia.«

»Die Frau ist ja sehr nett,« sagte Donia.

»Eine entzückende Frau, eine herrliche Frau! Und die lieben Kinder –«

»Ich mag die Hanna nicht,« sagte Donia.

»Kennst du sie denn?«

Donia zuckte die Achsel. Aber Herr Purtaller redete eifrig auf sie ein, so daß sie zuletzt sagte:

»Ich kann ja gern noch einmal hingehen, wenn du es wünscht, aber mir liegt nichts daran.«

»Du mußt, Donia, mir zur Liebe,« sagte Herr Purtaller. »Frau Köpke bat so sehr darum. Sie hat dich lieb gewonnen. Ja, so sagte sie, genau so. Sie haben dich herzlich lieb gewonnen. Da wäre es unhöflich, wenn du nicht gingest. Und vielleicht ist es dein Glück.«


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