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Warum kommt Donia gar nicht mal wieder zu uns,« fragte Frau Köpke.
Herr Purtaller horchte freudig auf. Er hatte die Absicht, nach der Stunde Frau Köpke wieder einmal um Vorschuß zu bitten. Nun sie ihm so freundlich entgegenkam, schöpfte er hierzu neuen Mut. Sie würde ihm doch die zehn Mark nicht verweigern.
»Ich werde Donia schicken, mit Ihrer gütigen Erlaubnis. Sie wird sich unendlich freuen. Sie hat Ihr Haus so lieb gewonnen. Sie ist ein so dankbares Kind. Wirklich, sie liebt Ihr Haus.«
Herr Purtaller glaubte das ruhig versichern zu können.
»Ich habe es ja auch so lieb gewonnen. Ich komme so gern zu Max und zu Fräulein Hanna. Es sind so liebe, wohlerzogene Kinder.«
»Ja, es sind gute Kinder,« bestätigte Frau Köpke. »Aber ich möchte Sie doch bitten, nicht Fräulein Hanna zu sagen. Sie ist ja noch ein Kind.«
Herr Purtaller dienerte.
»Wie Sie wünschen. Aber sie ist doch beinahe schon eine junge Dame.«
»Ein dummes Gör ist sie,« sagte Frau Köpke kurz.
»Na, na,« lächelte Herr Purtaller.
Währenddessen trat Max ein, und Frau Köpke entfernte sich. Max war sehr aufgeräumt. Er hatte eine Eins im Französischen davongetragen.
Herr Purtaller jubelte innerlich. Er wollte jetzt um fünfzehn Mark Vorschuß bitten. Oder sollte er gleich um zwanzig anfragen? Doch nein, unbescheiden wollte er nicht sein.
»Der Lehrer meint, ich brauche jetzt keine Nachhilfestunden mehr,« meinte Max.
Herr Purtaller erschrak heftig, doch Max setzte schnell hinzu:
»Aber Mama will es ja durchaus.«
»Siehst du? Siehst du?« triumphierte Herr Purtaller, »deine Mama hat sehr recht. Du hast ja große Fortschritte gemacht, sehr große Fortschritte. Ein bißchen Verdienst darf ich mir doch auch zuschreiben, obgleich du wirklich sehr fleißig gewesen bist. Aber ein halbes Jahr noch, ein halbes Jahr! Deine Mutter weiß, was sie tut.«
Max war es im Grunde ganz recht, noch länger die Hilfe Herrn Purtallers genießen zu dürfen. Die Stunde verlief sehr angeregt. Herr Purtaller spitzte seinen Bleistift und entwarf eine Quittung für Frau Köpke über fünfzehn Mark, und Max erzählte Anekdoten aus der Schule.
Dann kam Hanna mit ihrer englischen Grammatik. Sie sah sehr hochmütig und mißvergnügt aus. Herr Purtaller dienerte nur stumm und rieb sich die Hände.
»Herr Purtaller, meine Freundin behauptet, mein Englisch wäre alles falsch,« sagte Hanna und sah ihn herausfordernd an.
Herr Purtaller erschrak abermals. Er fühlte sich getroffen. Aber er setzte eine beleidigte Miene auf und erwiderte mit überlegenem Ton:
»Ich kenne Ihre Freundin nicht, Ihre Frau Mutter – überhaupt – –« Herr Purtaller kam ins Stottern – »Wenn ich, Ihr Lehrer, Ihnen sage, daß Ihr Englisch richtig ist –«
Hanna zuckte die Achseln: »Sie sagt es.«
»Sie sagt es,« wiederholte Herr Purtaller mit verächtlicher Betonung. »Was sagt sie denn?«
»Zum Beispiel fohr, vier, wäre ganz falsch.«
»Ja, habe ich Ihnen denn fohr gesagt? Forr! forr!«
»Sie haben fohr gesagt.«
»Forr habe ich gesagt, f–o–r–r. übrigens sind das Kleinigkeiten, durchaus nur Kleinigkeiten. Kein Engländer spricht genau so wie der andere. Ganz wie im Deutschen auch: Zum Beispiel – – – Tach und Tag.«
Herr Purtaller war glücklich über seinen Einfall und sah Hanna triumphierend an. Die zuckte mit den Achseln.
»Es ist ja auch ganz gleichgültig, ich hab es ja doch nicht für die Schule auf.«
Es wurde eine verdrossene Stunde; Herr Purtaller bemühte sich, die richtige Aussprache zu treffen, und Hanna lag auf der Lauer, ihn eines Fehlers zu überführen. Aber da sie selbst nicht kundig war, gelang es ihr nicht. Er muß es ja wissen, dachte sie.
Am Schluß der Stunde bat Herr Purtaller, Frau Köpke einen Augenblick sprechen zu dürfen. Er war sehr beunruhigt. Wenn Hanna der Mutter von dem Zweifel der Freundin erzählt hätte? Dieses dumme Gör, grade heute, wo er Vorschuß brauchte.
Aber Frau Köpke erwähnte des Englischen nicht. Sie wiegte nur den Kopf und machte ein bedenkliches Gesicht zu Herrn Purtallers Forderung.
»Ich weiß, ich weiß,« rief Herr Purtaller. »Sie müssen mich für unbescheiden halten. Sie waren schon einmal so gütig, mir Vorschuß zu geben.«
»Einmal?« fragte Frau Köpke.
»Ganz recht, es war damals schon – ich entsinne mich nicht mehr so genau –«
»Aber ich, Herr Purtaller,« sagte Frau Köpke scharf.
Herr Purtaller wurde rot; er mußte andere Saiten aufziehen.
»Liebste, beste Frau Köpke,« sagte er flehend. »Tun Sie es nur dieses eine Mal noch: ich weiß ja, ich mißbrauche Ihr gütiges Herz. Aber die Not, die blanke Not zwingt mich. Meine Donia – sie braucht Pflege – Sie wissen ja –«
»Ist sie krank?« fragte Frau Köpke.
»Krank? Das grade noch nicht, aber ich bin doch nicht ohne Sorge. Sie hat eine kränkliche Mutter gehabt. Aber Sie wissen das ja alles. Sie sind ja auch Mutter.«
»Ich kann das auch nicht immer so,« sagte Frau Köpke. »Ich bin auch nicht reich.«
»O, Sie!« rief Herr Purtaller überzeugungsvoll, als zweifle er nicht an Frau Köpkes glänzendem Vermögen.
Frau Köpke schien unangenehm berührt zu sein, und Herr Purtaller sah sofort ein, daß er einen Fehler begangen hatte.
»Verzeihen Sie,« sagte er, »ich maße mir nicht an, irgend einen Zweifel, nein, Sie verstehen mich schon, liebe Frau Köpke. Ich weiß ja, das ist Mißbrauch Ihrer Güte, Ihrer grenzenlosen Güte. Aber ich verspreche Ihnen heilig, daß es das letztemal sein soll. Ich verspreche es Ihnen schriftlich, wenn Sie es wünschen.«
Frau Köpke ließ sich noch einmal erweichen und entnahm ihrer Börse die gewünschte Summe.
Herr Purtaller zog seine Quittung hervor und sagte:
»Ich habe mir erlaubt, Ihnen eine Quittung auszustellen. Damit wir wissen, damit ich weiß –«
»Schon gut, Herr Kandidat,« sagte Frau Köpke etwas kühl und nahm das Blatt Papier entgegen, auf dem Herr Purtaller mit kühnen Zügen sich zu dem Empfang eines Vorschusses von fünfzehn Mark bekannte.
»Und Donia darf ich wieder einmal schicken? Wie wird das Kind sich freuen.«
Frau Köpke war verstimmt. Doch durfte sie jetzt nein sagen, nachdem sie vorher selbst gefragt hatte, warum Donia sich gar nicht mehr sehen ließe?
»Gewiß,« sagte sie. »Schicken Sie Ihre Tochter nur. Hanna wird sich sehr freuen.«
»Donia auch, Donia hat Fräulein Hanna so in ihr Herz geschlossen.«
Mit vielen Verbeugungen, wie immer, empfahl sich Herr Purtaller.
Auf der Straße war es ihm, als sei er einer großen Gefahr entronnen. Wie vielen Gemütsbewegungen war er ausgesetzt gewesen! Der Zweifel, ob Frau Köpke den Vorschuß bewilligen würde; die, wenn auch schnell vorübergegangene Furcht, Max würde der französischen Stunden nicht mehr bedürfen: der Schrecken, den ihm Hanna mit der Kritik ihrer Freundin eingejagt; die Vorwürfe Frau Köpkes bei der Bewilligung des Geldes; dazu die Einladung Donias – das alles versetzte ihn in einen gelinden Taumel der Gefühle. Bedurfte er nicht der Erholung, der Stärkung, bevor er zum nächsten Schüler ging? Ob er überhaupt ging? Er hatte ja nun fünf Mark mehr in der Tasche, als er ursprünglich von Frau Köpke hatte erbitten wollen. Diese fünf Mark gehörten von rechtswegen ihm allein. Donia wußte nichts davon. Fünf Mark, das waren gleich fünf Stunden. Wenn er davon eine Stunde feierte? Wer wollte es ihm verdenken, daß er sich einmal Ruhe gönnte, einmal ausspannte?
An zwei Wirtschaften war er langsam vorübergegangen, als ihm der Gedanke kam, für die fünf Mark Donia eine Freude zu machen. Der Gedanke erregte ihn, und er machte im Geiste hundert Einkäufe, allerlei Kleinigkeiten. Aber vielleicht wäre es besser, ein großes Stück zu wählen. Er musterte die Auslagen, ging von Fenster zu Fenster und endlich über die Straße, wo das blinkende Schaufenster eines Juweliers ihn anzog; Herr Purtaller vertiefte sich trotz der hohen Preise in die Kostbarkeiten. Aber da war ein bescheidenes Ringlein zu drei Mark ausgelegt. Seine Augen sogen sich daran fest. Drei Mark. Er würde dann noch zwei Mark übrig behalten. Diese zwei Mark für sich selbst anzuwenden, würde kein Unrecht sein. War er nicht schon groß und gut und edel, daß er sofort an Donia gedacht hatte? O, er war ein guter Vater; ein armer vom Unglück verfolgter, aber kein schlechter Mensch. Herr Purtaller schwelgte im Bewußtsein seines Wertes.
Herr Purtaller zog die Uhr. Es war eine halbe Stunde über die Zeit, der Schüler hatte also schon gewartet; mochte er ganz warten. Eigentlich ging ja nun schon eine Mark von den fünfen ab. Aber solche »Zukunftsrechnung«, wie er es nannte, ließ Herr Purtaller nicht zu. Er war ein Mann der Gegenwart, ein Mann des Augenblicks, ein Mann schneller Entschlüsse.
Herr Purtaller trat in den Laden und erstand den billigen Ring. Er erschien ihm in der Hand noch unscheinbarer, ein dünnes Reifchen mit einem grünen Stein.
Es ist echt Gold, empfahl der Juwelier. Der Ring wurde in ein zierliches Kästchen gelegt und dann das Kästchen in ein Seidenpapier gewickelt. Dadurch wurde der Umfang seines Geschenkes ein wenig größer. Das beruhigte Herrn Purtaller. Wenn er das Kästchen so heimlich auf den Tisch stellen würde, und Donia es dann so zufällig sehe, was würde es für Augen machen, das gute Kind!
Herr Purtaller versicherte sich unterwegs wiederholt, ob er den kleinen Schatz auch noch in der Tasche habe, und jedesmal überkam ihn aufs neue das Gefühl einer guten Tat.
Der Edle aber ist seines Lohnes wert. In ein bescheidenes Weinstübchen trat Herr Purtaller mit der Ruhe und der Sicherheit eines Mannes ein, der sich bewußt ist, sich ein Glas Wein leisten zu können. Er bestellte eine halbe Flasche Rotwein und nach einiger Überlegung ein Sardellenbrötchen. Ihm blieben noch einige Pfennige. Schade, daß es nicht noch zu einem Brötchen reichte. Diese Sardellen waren gar zu delikat.
Vielleicht hätte Donia an einem hübschen Bande, an einem paar Handschuh zu zwei Mark dieselbe Freude gehabt. Vielleicht war es doch töricht gewesen, so viel Geld für einen Ring auszugeben. Ein goldener Ring in ihrem Stande war immerhin Luxus.
Aber das Edle in Herrn Purtaller gewann wieder Oberhand. Er schämte sich ein wenig. Um ein Sardellenbrötchen hatte er seine Donia benachteiligen wollen!
Herr Purtaller steckte den Rest des Geldes, es waren nur dreißig Pfennige, ein, ließ den Kellner vergebens auf ein Trinkgeld warten, und kaufte sich gegenüber beim Schlachter noch ein halbes Pfund Leberwurst.