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Fünfzehntes Kapitel

Frau Köpke hatte darüber nachgedacht, was sie für Donia tun könne, und war zu dem Entschluß gekommen, sie zu sich ins Haus zu nehmen.

»Bei ihrem Vater verkommt sie,« sagte sie.

Hanna wußte nicht, ob sie sich freuen sollte. Aber Max rief begeistert:

»O ja, das ist famos! Soll sie ganz zu uns ins Haus kommen?«

»Meinst du halb?« höhnte Hanna.

»Schaf!« erwiderte Max.

»Wenn ihr so miteinander umgeht, wird Donia nicht gerne bei euch sein,« sagte Frau Köpke vorwurfsvoll, worauf beide schwiegen, aber nicht unterließen, sich noch ein Gesicht zu schneiden.

»Will Donia denn?« fragte Hanna.

»Das müssen wir eben mal sehen,« sagte Frau Köpke.

Donia war erst überrascht, dann bestürzt, dann brach sie in Tränen aus, und zuletzt hörte sie stumm und ergeben Frau Köpkes Gründe an.

Herr Purtaller redete ihr zu. Sein Vaterherz hatte sich mit dem Gedanken befreundet, daß Donia es nun gut haben würde, sie sollte ja auch nicht ganz von ihm getrennt sein. Sie sollte ihn besuchen, wenn sie Neigung dazu verspüre. Er selbst würde sie auch besuchen dürfen. Es war in jeder Weise eine glückliche Vereinbarung. Freilich mußte Herr Purtaller sich nun fremden Menschen anvertrauen. Er mußte seine Wohnung verlassen und sich bei einer Nachbarsfrau in Kost und Logis begeben. Frau Köpke hatte das alles abgemacht. Herr Purtaller hatte dabei ein Gefühl, als solle er nun wieder ein freier Mann werden. Ein wenig hatte Donia ihn doch immer kontrolliert.

Herr Purtaller lächelte bei dem Gedanken. Wie konnte er überhaupt nur einen solchen Gedanken aufkommen lassen. Aber dennoch, ganz heimlich, ganz versteckt war er da. Eine unbestimmte Vorstellung von einer schönen, manneswürdigen Freiheit beherrschte ihn. Doch die Hauptsache blieb ja freilich immer Donias Glück. Und Donia würde es nirgend besser haben können, als bei Frau Köpke. Allein schon das gute Essen! Herr Purtaller dachte an Hanna, die gesund und wohlgenährt aussah, ein Bild der Kraft gegen seine zarte Donia.

Donia, von ihrem Vater beredet, willigte ein, sich von ihm zu trennen.

»Du sollst ganz wie zu Hause sein,« sagte Frau Köpke und umarmte sie.

»Du wirst nun wieder eine Mutter haben,« sagte Herr Purtaller gerührt.

»Ja, und Hanna wird dir eine Schwester sein,« setzte Frau Köpke hinzu.

»Und Max ein Bruder,« sagte Herr Purtaller.

Frau Köpke warf ihm einen Blick zu, als wollte sie sagen, das habe ich zu bestimmen.

Acht Tage sollte Donia noch bei dem Vater bleiben, und bis dahin sollte alles zu ihrem Empfang bereit sein. Die ersten Tage vergingen unter gemeinsamem Ausmalen der Zukunft. Donia hatte sich an den Gedanken gewöhnt, und die Vorteile dieser Veränderung erschlossen sich ihr nach und nach.

»Wir werden uns täglich sehen,« sagte Herr Purtaller, »du wirst mir die Türe öffnen, wenn ich zu Max komme, und du wirst mir den Kaffee bringen.«

»Oder die Liese bringt ihn,« sagte Donia.

»Oder die Liese natürlich,« wiederholte er. »Aber du wirst es so einrichten können, daß du mir den Kaffee bringst; Frau Köpke wird das schon selbst so einrichten, so eine gute, einsichtsvolle Frau.«

Aber am dritten Tag kam Herr Purtaller ganz niedergeschmettert nach Hause.

»Was ist dir?« fragte Donia erschreckt.

»Nichts, nichts,« rief Herr Purtaller. »Alles ist aus! Alles! Das ist gegen die Abrede! Dazu kann ich meine Zustimmung nicht geben! Empörend! Einfach empörend!«

Herr Purtaller warf sich auf einen Stuhl, streckte die Beine von sich und sah vor sich hin.

Donia war bestürzt. Was war geschehen?

»Aber was bleibt mir übrig? Was soll ich tun?« sagte Herr Purtaller dumpf.

»Aber um Gottes willen, was ist denn?« fragte Donia ängstlich.

»Geopfert! Auf die Straße geworfen!«

»Auf die Straße geworfen?«

»Du oder ich. Der Vater oder die Tochter. Der Vater der Tochter geopfert,« murmelte Herr Purtaller.

»Ich verstehe dich nicht, Vater. So erzähle doch!« rief Donia bittend.

Herr Purtaller erhob sich, legte ihr beide Hände auf die Schultern und sah ihr lange und ernst in die Augen.

»Ich habe es getan, Donia. Dein Glück geht mir über alles. Ich habe das Opfer gebracht. Dein Vater räumt den Platz dir zur Liebe. Möchte es dein Glück sein. Was liegt an mir? Ich bin ein alter Mann, ein gebrochener Mann, ein verbrauchter Mann.«

Seine Stimme schlug um in Rührung.

»Um Gottes willen, ich verstehe immer noch nicht,« jammerte Donia.

»Verstehst es nicht? Nun, es ist auch nicht zu verstehen. Ich verstehe es selbst nicht.«

»Aber was ist es denn?« rief Donia jetzt laut und ärgerlich und schüttelte seine Hände von ihren Schultern. »So rede doch deutlich!«

»Entlassen, gekündigt! Aus ist es!« sagte Herr Purtaller dumpf.

»Bei Köpkes?«

Er nickte nur.

»Sollst du die Stunden nicht mehr geben?«

Er nickte wieder, nickte resigniert, hoffnungslos.

Donia schwieg. Frau Köpkes Gründe waren ihr auf einmal klar.

»Sie meinte, es ginge nicht, es passe sich nicht,« sagte Herr Purtaller. Und dann wäre ich ja nun auch genügend entlastet, da sie mir die Sorge für dich abnähme; es müsse mir ja jetzt viel leichter werden, mich durchzubringen.«

»Das wird es doch auch, Vater,« sagte Donia unsicher.

»Gewiß, gewiß! Für mich allein werde ich wohl noch sorgen können, was brauche ich viel zum Leben. Ein einzelner alter Mann mit so bescheidenen Ansprüchen.«

Herr Purtaller war gekränkt, daß Donia nicht gleich in seine Entrüstung einstimmte, und daß sie Frau Köpkes Handlungsweise zu billigen schien. Donia aber hatte schon immer mit schwerem Herzen daran gedacht, daß sie nun täglich ihren Vater bei Köpkes treffen sollte, und zwar in einer wenn auch nicht untergeordneten, so doch abhängigen Stellung, und wie sehr es ihr das Einleben in die Familie erschweren würde; lieber würde sie dann ganz darauf verzichten, zu Köpkes zu ziehen.

Aber davon wollte Herr Purtaller nichts wissen, übrigens sei es dazu auch schon zu spät. Frau Köpke würde nicht auf Donia verzichten und dafür ihn wieder annehmen. Nein, wenn hier ein Opfer gebracht werden müßte, sollte Herr Purtaller es sein.

Aber Donia erklärte mit heftiger Entschiedenheit, sie wolle unter diesen Umständen nicht zu Frau Köpke gehen; dann müßten sie eben beide dort wegbleiben. Noch hingen sie ja wohl nicht ganz von Frau Köpke ab. Sie wären bisher allein durchgekommen und würden auch wohl ferner noch ohne Frau Köpke leben können.

Herr Purtaller machte ein bedenkliches Gesicht. Dachte denn Donia gar nicht daran, wie oft er Frau Köpkes Hilfe in Anspruch hatte nehmen müssen?

Der Vorschuß war noch nicht abgearbeitet, aber Frau Köpke hatte erklärt, unter den neuen Verhältnissen darauf verzichten zu wollen. Das hatte sie getan; ach, ohne Frau Köpke fertig werden, das sollte erst versucht werden. Herr Purtaller setzte Donia alles auseinander, und sie sah ein, daß sich nichts machen ließ, und daß sie zu Frau Köpke ziehen müsse. Die acht Tage waren vergangen, und Hanna brachte den Bescheid, daß am andern Morgen alles zu Donias Empfang bereit sei. Frau Köpke würde jemanden schicken, Donias Sachen abzuholen.

Es war der letzte Abend, den Vater und Tochter in der alten Wohnung beieinander waren. Donias Schloßkorb, welcher ihr bißchen Garderobe und Wäsche enthielt, stand an der Wand unter der Violine. Auf dem Tisch brannte die Lampe, und Donia räumte das Geschirr ab. Sie hatten gerade zu Abend gegessen, ohne daß es ihnen geschmeckt hatte.

Donia dachte, daß es das letztemal gewesen sei, daß sie ihrem Vater den Tee bereitet hatte, daß sie das letztemal den Weg in die Küche ginge. Von morgen ab würde eine andere Person für den Vater sorgen. Sie wusch Teller und Tassen, um nichts unsauber zurückzulassen, und stellte jedes an seinen Platz auf dem Bort. Sie ließ sich auf dem schlichten Küchenstuhl nieder, stützte den Kopf in die Hand und hätte am liebsten geweint. Doch sie hatte sich vorgenommen, dem Vater den Abschied nicht schwer zu machen.

»Wo bleibst du, Donchen?« fragte Herr Purtaller und erschien in der Küchentür.

Sie sprang auf, ließ noch einen raschen, leeren Blick über Herd und Wand gleiten und folgte ihm in die Wohnstube.

Herr Purtaller setzte sich schweigend in die Sofaecke, und Donia nahm ebenso schweigend am Tisch Platz.

»Morgen also,« sagte Herr Purtaller nach einer Weile verloren.

»Morgen,« wiederholte Donia tonlos.

Dann sahen sie beide zum Fenster hinaus.

Schade, dachte Donia, das sollst du nun nie wieder sehen, diese alten Schornsteine und Dächer und die Drähte darüber und das Stückchen Himmel. Und drüben das Dachfenster des Schusters, wo hinter den roten Gardinen jeden Abend die Lampe so traulich leuchtete.

So vertraut, so anheimelnd grüßte die abendliche Dächerwelt von draußen herein. Donia trat ans Fenster, legte den Arm gegen das Holz und sah hinaus.

»Siehst du etwas?« fragte Herr Purtaller, der jeder ihrer Bewegungen mit zärtlicher Aufmerksamkeit folgte. »Ist da etwas zu sehen?«

»Zu sehen? Nein! Warum fragst du?«

»Ich meine nur.«

Und nach einer Pause sagte Herr Purtaller: »Du wirst jetzt eine schönere Aussicht haben. Diese alten schmutzigen Dächer! Es ist so schön auf der Welt, und du wirst nun vieles davon sehen.«

Donia antwortete nicht. Sie dachte, ob sie wohl in der schönsten Welt dieses Dachfenster mit seiner Aussicht vergessen würde.

»Donia,« sagte Herr Purtaller wieder aus seiner Sofaecke.

»Vater?«

»Du mußt recht oft zu mir kommen, Kind. Nun, du wirst es schon tun.«

»Aber sicher, Vater!« rief Donia, indem sie sich umwandte. Es sollte recht fröhlich und zuversichtlich klingen, aber es blieb ihr halb in der Kehle stecken. Und als sie ihn so allein auf dem Sofa sitzen sah, in sich zusammengesunken, da übermannte es sie, und sie umarmte ihn, und sein grauer Kopf lag wie hilflos an ihrer jungen Brust.

»Wie komisch,« sagte sie. »Wir sitzen hier so trübselig, und morgen soll doch alles, alles viel schöner werden.«

Und dabei stürzten ihr die Tränen aus den Augen.


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