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XXVIII.

Gräfin Gundula hatte recht behalten.

Der Sturm flaute über Nacht und gegen Morgen mehr und mehr ab und wehte schließlich nur noch als kräftig frische Brise von der See herüber, während die klare leuchtende Frühlingssonne am Himmel stand und die blühende Welt in goldenem Licht badete. Alle Wolken, alle Dunst- und Nebelschleier hatte der Sturmwind weggefegt, und nun wölbte sich das Firmament so tiefblau und fleckenlos wie ein einziger funkelnder Saphir, und das Meer dehnte sich so azurfarben und endlos und wogte unter Tausenden von schneeigen Schaumkämmen so majestätisch, wie Gabriele seinen Anblick selbst im Traum nicht in gleicher Schönheit geschaut hatte.

Und weil Guntram Krafft jüngst einmal gesagt hatte, daß die Farbe des Himmels und der See die sei, die er am meisten liebe, so hatte Gabriele zum erstenmal ein lichtblaues Kleid angezogen, und zwar das, von dem ihre Mutter stets gesagt hatte, es stehe ihr am besten von allen.

Sie errötet, als sie ihr Spiegelbild erblickt, und lächelt ihm voll süßer, inniger Träumerei zu und atmet so tief und blickt mit so großen, glänzenden Augen umher, als schaue sie die sonnige Gotteswelt zum erstenmal, als sei in ihr und um sie her alles seit der gestrigen Nacht ganz und gar verändert.

Guntram Krafft war mit den fremden Männern schon zu früher Stunde nach dem Strand hinabgegangen, um mit ihnen zur näheren Besichtigung des Wracks hinauszufahren. Die Gräfin sagte mit feinem Lächeln, er habe dabei so strahlend glücklich wie noch nie in seinem Leben ausgesehen.

Und dann, als sie verstohlen mit einem Blick die entzückende Erscheinung des jungen Mädchens umfaßt hat, legt sie die Hand lächelnd auf die fleißigen Finger, die eifriger als je nach dem Staubtuch greifen wollen, und sagt: »Hanna hat die Zimmer heute sehr gut in Ordnung gebracht, ich habe andere Wünsche an Sie, liebe Gabriele. Gehen Sie in den Garten und holen Sie ganz besonders schöne Blumen zum Schmuck der Tafel! Der Kapitän und der Pastor sind heute unsere Gäste, da kann der alte Jürgen Haas sein Gewächshaus aufschließen und uns einen Strauß seiner gehegten und gepflegten Lieblinge opfern, hören Sie, Gabriele? Holen Sie aus dem Gewächshaus heraus, was Ihnen hold und schön scheint.«

Gabrieles Augen leuchten auf. »Oh, gern!«

*

Der alte Jürgen Haas hat seine blühenden Lieblinge im Gewächshaus stets mit Argusaugen gehütet. Als er aber in das wunderholde Antlitz des Fräulein von Sprendlingen schaut, das ihn lächelnd um einen Strauß bittet, da erhellt sich das runzelige Gesicht des Getreuen, und er nickt mit beinahe zärtlichem Blick. »So veel, als Jug dat leev is!« Er schließt das geräumige Glashaus auf und sieht es ohne jedes Herzeleid, wie die kleinen weißen Hände nach seinen schönsten Blüten greifen.

Plötzlich zuckt Gabriele zusammen und starrt geradeaus in die Ecke des Treibhauses, wo die Oleander, die großen Laurusbäume und etliche Palmen aufgebaut sind.

»Ist das nicht ein Lorbeerbaum, Jürgen Haas?« fragt sie, und alles Blut steigt ihr in das ehedem so rosig zarte Gesicht.

»Ganz recht, een Lorbeer. Der is man torück bleeven von uns' Herrn Grafen sin Konfirmaschon. Die Blätters sin ganz ampart un' nüdlich, äwerst Blaumens dreiht he nich!«

Gabriele war hastig herangetreten. »Darf ich ein paar Zweige zu einem Kranz nehmen, lieber Haas? Haben Sie ein wenig Bast zur Hand, daß ich ihn gleich winden kann?«

Der Alte murmelte: »Allens, wat Se wollen!«, kramte aus den grundlosen Tiefen seiner Jacke einen Flausch Bast, und während sich Gabriele auf eine leere Blumentreppe setzte und die graziösen Zweige mit bebenden Händen zusammenwand, stand er vor ihr, kraute sich den weißen Kopf und sprach in seiner kurzen, schlichten Weise von der vergangenen Sturmnacht, in der sich der liebe Graf mal wieder Gottes Segen verdient habe.

Gabriele nickte mit leuchtendem Blick, erhob sich und schüttelte die Blätter von ihrem Kleid. Zwei kleine Kränze hatte sie gewunden, hing sie an ihren Arm, faßte den großen Strauß der blühenden Blumen zusammen und sagte dem beglückten Alten freundliche und herzliche Dankesworte; dann schritt sie, in tiefes Sinnen verloren, durch die warme, lenzesduftige Luft nach der Burg zurück. Über ihr jubelten die Vögel im blühenden Gezweig, und in ihrem Herzen klangen die Frühlingsglocken noch immer wie ein holdes, traumhaftes Echo.

In der Speisehalle ordnete sie still und geschäftig die Blumen in Schalen und Vasen auf der Tafel, dann stand sie einen Augenblick und schlang zögernd die kleinen Hände ineinander. Alles war still im Haus. Die Gräfin hatte sich in ihr Ankleidezimmer zurückgezogen, Anton hantierte an den Büfetts, und die Herren weilten noch am Strand.

Schnell stieg Gabriele die Treppe empor zum Wohnzimmer der Gräfin. Ein Sonnenstrahl glitt über einen der braungeschnitzten Bären zu ihrer Seite; es sah aus, als ob sich seine Augen bewegten, als ob ihr das grimmige Gesicht plötzlich entgegenlache.

Auf dem Schreibtisch der Burgfrau steht das große Brustbild Guntram Kraffts. Gabriele neigt sich und blickt heiß errötend in das edle, kühne Männergesicht, das ihr mit den großen Blauaugen so ganz, ganz anders wie sonst entgegen schaut. Ihr Herz stürmt, all die tiefsinnige, leidenschaftliche Seligkeit jung erwachter Liebe durchbebt sie, und sie nimmt den Lorbeer und legt ihn um das Bild des heldenhaften Mannes.

Wie sie ihn in diesem Schmuck schaut, glühen ihre Wangen, und ihr Blick flammt auf in jauchzender Wonne. Wie Glut und Feuer rinnt es durch ihre Adern, ein kurzer, glückzitternder Kampf zwischen banger Scheu und allesvergessender Liebe, und sie drückt das Bild an die Lippen, um es wie in einem süßen Wonnerausch zu küssen.

»Gabriele!«

Gleich einem Schrei, halb erstickt in staunendem Entzücken, in namenloser Erregung, klingt es neben ihr. Auf der Türschwelle des Nebengemachs steht Guntram Krafft, die Hände gegen die Brust gedrückt, das Haupt vorgeneigt, als könne er das Wunder, das seine Augen schauen, nicht fassen und begreifen.

»Gabriele!«

Sie schrickt zusammen. Leichenblässe bedeckt ihr erst so holderglühtes Antlitz, das Bild sinkt aus ihren zitternden Händen auf die Schreibtischplatte nieder. Sie will, halb vergehend vor Scham und Entsetzen, entfliehen, aber sie macht nur eine unsichere, wankende Bewegung, und schon steht er neben ihr, faßt sie mit festen, starken, kraftvollen Armen und drückt sie an sein Herz, wild, ungestüm, wie der Bär, der sieghaft seine Beute nimmt.

Nein, das ist nicht mehr der scheue Jüngling, der sie ehemals mit zarter Hand aus dem Schnee emporhob; dies ist ein trotzigkühner Mann, der sich seiner Heldenkraft völlig bewußt geworden ist.

»Du hast mich einen Helden genannt. Du hast mein Bild mit Lorbeer geschmückt und es geküßt, Gabriele. Damit hast du jenes Todesurteil zerrissen, das du mir und meinem Glück geschrieben hast. Jener taten- und ruhmlose Hohen-Esp, den du ehemals verachtend von dir stießest, würde nie und nimmermehr gewagt haben, die Hände begehrend nach dir auszustrecken, aber der Mann hier, den du selber durch Kuß und Lorbeer zu einem Ritter geschlagen hast, der wirbt nun voll kühnen Wagemuts um deine Liebe, der fordert diese Hand nun als sein heiliges Recht! Gabriele, hast du's gehört? Mein bist du, mein!«

Und wie ein Trunkener blickt er in das liebreizende Angesicht, das mit den großen, zauberischen Nixenaugen zu ihm aufschaut, das in holder Verwirrung nur leise, leise seinen Namen flüstert.

Wie ist es urplötzlich so warm, so duftig, so sonnenhell in dem sonst so kühlen und düsteren Gemach der Frau Gundula geworden!

Auf der Bank in der Fensternische sitzt Guntram Krafft, hält sein Lieb im Arm und bedeckt ihr lächelndes, überseliges Antlitz mit heißen, unersättlichen Küssen.

Goldener Sonnenglanz flutet über sie dahin, und fernher, durch die geöffneten Butzenscheiben, grüßt das weißschäumende Meer mit donnerndem Jubelruf.

Die Augen der Bärin von Hohen-Esp glänzten feucht, als sie ihre Kinder mit leisem Segenswort an das Herz drückte. Und während das Brautpaar auf Gabrieles Wunsch zur Kapelle schreitet, um dort auch das Bild des armen Wulffhardt mit Lorbeer zu bekränzen, ist Frau Gundula vor ihrem Schreibtisch niedergesunken, hat seit langen Jahren zum erstenmal wieder die versiegelten Briefe und Fotografien ihres Gatten zur Hand genommen und heiße, bittere Tränen darauf geweint.

Dann ist es still in ihrem Herzen geworden, still und friedlich wie an einem lichten Sommerabend, wenn alle Wetterschwüle und alles Donnergrollen des Tages mit seinen dunklen Wolken wie ein unheilvoller Traum versunken ist.

Nach dem Verlobungsessen ist das Brautpaar zum Strand hinabgewandert, und Gabriele hat voll leidenschaftlichen Entzückens die Arme nach der blauwogenden Unendlichkeit ausgebreitet.

»Dich und das Meer habe ich gestern nacht in all eurer Größe und Herrlichkeit kennengelernt«, flüstert sie voll weicher Innigkeit zu Guntram Krafft empor, »und weil von der Bewunderung bis zur Liebe bei uns Frauen nur ein kleiner Schritt ist, so nahmt ihr beide mein Herz tatsächlich im Sturm. Wenn ich jetzt hinaus in dieses Brausen und Schäumen, in dieses Sonnengefunkel und Geglitzer schaue, mit dem ich gestern in verzweifelter Todesangst im Gebet um mein Liebstes – um dich – gerungen habe, so kommt es mir ganz unfaßlich vor, daß ich solche Allgewalt und Götterherrlichkeit jemals eintönig und langweilig nennen konnte. O wie blind bin ich gewesen, und wieviel blendende Schönheit sehe ich jetzt!«

Sein Arm umschlingt sie noch fester, seine Lippen glühen heiß auf diesen blinden Nixenaugen.

»Geschlafen und geträumt hast du, verzauberte Meerfei, im fernen, fremden Binnenland, bis du heimkehrtest zu uns.«

Ein jubelndes »Hojohe!« ertönt von der Düne herab. Jöschen und Mike stürmen Hand in Hand über den wehenden Sand, und der junge Ehemann schwenkt schon von weitem den Hut und lacht, daß seine kerngesunden Zähne im Sonnenschein blinken.

Atemlos erreichen sie das Brautpaar, und ihr Glückwunsch ist so ehrlich, so überströmend herzlich und aufrichtig, daß Guntram Krafft den wackeren Burschen in die Arme schließt und ihn beinah übermütig schüttelt.

»Wat seggst nu, min oll Jung? Dat hest di woll nich drömen laten, wat?«

Da zwinkert der Lotse nur schalkhaft mit den Augen, und Mike hält Gabriele bei beiden Händen und flüstert ganz verschämt. »Dat hevven wi längst mierkt, dat dort wat im Spöle was!« Sie gehen noch ein Stückchen plaudernd, und dann fällt Mike ein, daß sie ja einen Topf auf dem Feuer hat. »Grad so weggestürzt« sei sie bei der Nachricht. Sie schütteln sich abermals die Hände und hasten davon durch Disteln und Riedgras.

Wie still ist's wieder, wie still! Eine Möwe flattert mit leisem Schrei über der Brandung, ihre Schwingen blitzen im Sonnenlicht grell auf wie silberne Schwertklingen. Langsam sinkt sie der blauwogenden Flut entgegen und badet das leuchtende Gefieder im perlenden Schaum.

Voll träumerischen Sinnes folgt ihr Gabrieles Blick. »Wie hätte ich mir jemals zuvor träumen lassen, daß gerade die See, um deren Gunst ich nie geworben habe, mir so verschwenderisch alles Glück schenken würde. Jetzt, in ihrer lichten, majestätischen Pracht, hat sie alle Schrecken verloren, die in der vergangenen Nacht mein Herz erzittern ließen, und doch werde ich sie stets in ihrem tobenden Zorn am liebsten haben, weil gerade Sturm und wilde Flut es waren, die mich zu dir führten.«

Wieder umfaßt sie voll bebenden Entzückens seine Hand und schaut empor zu ihm mit demselben Blick heiß bewundernder Liebe, der sein Herz in unbegreiflichem Entzücken stillstehen ließ gestern in dunkler Nacht, als ihre Lippen auf seiner Rechten gebrannt hatten.

Er schüttelt langsam, schweratmend den Kopf. »Du hast mich einen Helden genannt, Gabriele, du hast mein Bild mit Lorbeer geschmückt, und doch leistete ich nicht mehr und nichts Besseres als seit langen Jahren. Nur das verdiente Glück ist mir geworden, daß du mich und meine stille Arbeit kennenlerntest, daß du mir durch deine Anerkennung den Mut gabst, die Hände voll liebeheißen Verlangens nach dir auszustrecken.«

»Das hättest du sonst nicht getan?«

»Oh, nie und nimmermehr, und hätte ich sterben müssen an den Qualen, die mein Herz zerrissen!«

Beinahe demütig blickt sie empor. »So sehr zürntest du mir, weil ich in der Residenz deine Neigung so kühl und schroff abwies, weil ich dein Meer nicht liebenswert fand, weil ich dir, dem Fremden, nicht mit offenen Armen entgegenkam?«

Ein schnelles, beinahe heiteres Lächeln zuckte um seine Lippen, Gabriele aber fuhr mit weicher Stimme, halb ernst, halb scherzend fort: »Glaubst du, Liebster, ich hätte es nicht empfunden, wie sehr verändert du mir in Hohen-Esp begegnetest? Anfänglich war ich nicht böse darüber, im Gegenteil, es berührte mich sympathisch, weil mein Herz noch so weitab von dem rechten Weg irrte und viel zu sehr von seinem törichten Wahn befangen war, um allsogleich seine Heimat zu finden. Aber später, als es immer wärmer und lichter in mir wurde, als mir dein Wesen immer unbegreiflicher schien, da habe ich oft darüber nachgedacht, warum du mir so sehr zürntest; denn sag selber, Herzlieber, ist es wahrlich eine so schwere Schuld, wenn ein Mädchen nur dem Mann angehören will, den es liebt?«

Er lächelte noch mehr, beinahe geheimnisvoll. »Nein, du Wonnige, im Gegenteil! Keine größere Tugend vermag es zu geben als diesen Stolz, der sich nur einen Helden zum Preis setzt.«

»Und doch verargtest du ihn mir?«

»Oh, wahrlich nicht! Meine ganze Seele, all mein Sein und Wesen gehörten dir, Gabriele. Und habe ich dich je geliebt, so war es in diesen bittersüßen Tagen, an denen ich gegen diese Liebe kämpfen mußte wie gegen eine Unmöglichkeit.«

»Du wolltest mir nicht gut sein?«

»Ich durfte es nicht!«

»O wunderlicher Mann! Wer verbot es dir denn?«

Er nahm langsam eine schmale juchtene Brieftasche aus der Brusttasche, öffnete sie und entnahm ihr einen kleinen zerknitterten Zettel, dessen verwischte Bleistiftzeilen kaum noch zu entziffern waren.

»Du selber, mein grausamer Schatz«, sagte er leise, und es war, als durchriesele ihn noch einmal wie ein banger Nachhall all das Weh, das ihn so oft beim Anblick dieses kleinen Papierstreifens gequält hatte. Federleicht war er und hatte doch so schwer wie eine unerträgliche Zentnerlast auf seiner Brust geruht.

Mit staunenden Augen neigte sich Gabriele und blickte auf seine Finger, die den Zettel entfalteten.

»Das sieht ja aus wie meine Schrift!« sagte sie überrascht.

»Oh, wie hätte ich ehemals so gern mein Leben gegeben, wenn sie es nicht gewesen wäre!«

Nicht ohne Mühe buchstabierte Gabriele die einzelnen Wörter. Voll äußersten Befremdens blickte sie empor.

»Ja, dieses Bekenntnis einer schönen Seele habe ich geschrieben«, nickte sie sinnend, »vor langen Jahren schon. Kaum weiß ich noch, wie und bei welchem Vorkommnis.«

»Vor langen Jahren?«

»Ah, ganz recht, jetzt entsinne ich mich. In der Weihnachtszeit war es, als wir Mädel eines Abends zusammensaßen und heimlich die Überraschungen für den Gabentisch häkelten und stickten. Die ganze Residenz sprach damals von dir; selbstredend behandelten auch wir dieses interessante Thema.«

»Von mir? Damals?« wiederholte Guntram Krafft mit fragendem Blick.

»Ganz recht! Man erwartete dich als Freiwilligen bei Papas Regiment, wo du deiner Militärpflicht genügen solltest. Aber statt deiner kam die Kunde, daß du wegen einer ganz unbedeutenden Kleinigkeit freigekommen seist und nicht dienen wolltest.«

»Damals? Zu jener Zeit schriebst du diesen Zettel?«

»Gewiß, in allerübelster Laune sogar. Du kennst ja meine Ansichten über Tapferkeit und Heldenmut. Ein Mann, der nicht einmal den Schneid hatte, Uniform zu tragen, der imponierte mir wahrlich nicht, der reizte mich zu trotzigster Opposition. Thea Sevarille verspottete mich um dieser heiligen Entrüstung willen. O ja, nun entsinne ich mich plötzlich wieder ganz genau. Sie behauptete, der geschmähte Hohen-Esp brauche nur auf der Bildfläche zu erscheinen, um all meine stolzen Grundsätze wie die Kartenhäuser über den Haufen zu blasen. Das reizte mich zu nach lebhafterem Widerspruch. ›Gibst du es vielleicht schriftlich?‹ spottete Thea, und ich nahm einen der Zettel, die schon für ein Schreibspiel vorbereitet dalagen, und schrieb im Obermut diese geharnischte Kriegserklärung gegen den Bär von Hohen-Esp, der damals in meinen Augen nichts weniger war als ein Held. Hier siehst du auf der Rückseite des Zettels, der zuvor ein Briefbogen gewesen war, noch das vorgedruckte Datum: S ..., Villa Monrepos ... und hier von mir vollendet: den 22. November 18 .. Es ist mit Tinte geschrieben und noch deutlich zu erkennen.«

Mit unsicherer Hand nahm der Graf das Papier und starrte die Zahlen an wie ein Träumender; dann strich er sich langsam über die Stirn und murmelte beinahe atemlos: »Dieses Datum hatte ich nicht bemerkt. Wie war das möglich? Es muß mir in all der Aufregung, mit der ich je und je diese Zeilen gelesen habe, entgangen sein. Ich war ja arglos wie ein Kind.«

Gabriele blickte plötzlich ernst und forschend in sein tief erbleichtes Antlitz.

»Ich entsinne mich genau, daß ich ehemals diesen Zettel schrieb. Wo derselbe aber an jenem Abend geblieben ist, weiß ich nicht. Geradezu unbegreiflich und unfaßbar aber scheint es mir, wie dieses Papier nach all den langen Jahren in deine Hände gelangen konnte. Sag es mir, Guntram Krafft, ich bitte dich darum.«

Heiße Glut stieg plötzlich in seine erst so farblosen Wangen. Er knüllte den Zettel voll leidenschaftlichen Zornes zusammen.

»Wohl wäre ich nicht mehr verpflichtet, einem solch schnöden Verrat gegenüber das gelobte Schweigen zu wahren. Aber ich will nicht ebenso verächtlich sein wie sie. Ich will das Wort halten, das ich gegeben habe.«

Er drückte Gabrieles Hände an die Lippen und sagte: »Ich habe Diskretion zugesagt, und ich bitte dich, sie halten zu dürfen, Herzlieb.«

Mit tiefem, wundersamem Blick schaute sie ihn an. »Nein, sag den Namen derer nicht, die ein so gewissenloses und egoistisches Spiel getrieben hat. Ich kenne ihn ja. Sie hat dich selbst von dannen getrieben und dadurch wieder bewiesen, daß jede Schuld ihre Strafe in sich selber trägt. So groß aber, ganz so groß, wie du wähnst, war ihr Vergehen jedoch nicht.«

Gabriele hob freimütig das schöne Haupt, ihr Auge leuchtete auf. »Hätte mich Thea an jenem Hofballabend noch einmal um diese meine Backfischansicht gefragt, ich würde fraglos noch einmal dieselben Worte niedergeschrieben haben. Der Bär von Hohen-Esp war auch in jenen Tagen noch derselbe tatenlose und ruhmlose Schwächling für mich, der er gewesen war, seit sein Name zuerst vor mir erklang. Erst hier in Hohen-Esp lernte ich begreifen, welch ein bitteres Unrecht ich ihm getan hatte.«

Sie erhob sich vom Bootsrand, auf den sie sich kurz niedergesetzt hatten, und strich die wehenden Haarlöckchen von den Wangen zurück, auf denen heiß und ungestüm seine Küsse brannten.

»Wir wollen den Zettel zu Grabe legen, Geliebter«, lächelte sie, »daß nichts mehr an die böse vergangene Zeit mahnen soll. Das Meer soll jene Zeilen abwaschen und vernichten, und sie sollen vergessen sein in dem jauchzenden Glück, das uns seine stürmende Flut geschenkt hat.«

Sie traten näher an die schäumende Brandung, und Guntram Krafft zerriß das Papier und zerstreute seine kleinen weißen Flocken in den sprühenden Gischt.

Frisch und köstlich rein streicht der Wind um die Stirn, und sie stehen Arm in Arm in wortloser Glückseligkeit und sehen zu, wie das letzte Streifchen im Wellenschnee verschwindet.

»Nun ist die letzte Spur von damals verwischt«, lächelt Gabriele und schmiegt sich fester an die Brust des geliebten Mannes.

»Damals! Und heute?« fragt er neckend. Da schlingt sie die Arme um ihn und flüstert voll strahlenden Stolzes: »Heute lautete der Zettel, den ich schrieb, freilich anders. Lasest du nicht die Depesche, die ich meinem Mütterchen schickte? Oh, Guntram Krafft, wie wird sie sich unseres Glückes freuen!«


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